Ein Grenzübergang zwischen Polen und Russland

Sner/Getty Images

Flucht und Grenzen

Protokoll: „Moralisch halte ich meine Rückkehr für falsch“

Hunderttausende haben Russland nach dem Angriff auf die Ukraine verlassen. Nun sind viele zurückgekehrt – manche mit Heimweh und schlechtem Gewissen, andere aus Überzeugung. Das sind drei von ihnen.

Profilbild von Irina Chevtaeva
Journalistin aus Russland

„Hier sieht man eine Werbung für einen Joghurt direkt neben einer Werbung für den Militärdienst in der Ukraine“

Vera, 31, ist Brand-Managerin, Sankt Petersburg.

Nach Kriegsbeginn ging es mir einfach schrecklich. Es fühlte sich an, als sei alles zerstört, was ich mir hier über die Jahre aufgebaut hatte: ein fester Job, der mir ermöglicht hat zu reisen und beim Einkaufen nicht so sehr aufs Geld achten zu müssen. Es fühlte sich an, als hätten wir die Wahl gehabt und seien total falsch abgebogen. Ich befand mich zwischen Schockstarre und Panik. Im März wurde mir klar, dass ich nicht länger ertragen konnte, was um mich herum geschah. Die Flugtickets waren sehr teuer, ich habe mir trotzdem eines gekauft nach Jerewan in Armenien, für 700 Euro.

Ich bin mit einer Kollegin und deren Tochter weggeflogen. In Armenien habe ich zwar ganz normal gearbeitet, fühlte mich aber ständig irgendwie verloren. Das Einzige, was mir geholfen hat, war die Tochter meiner Kollegin. Sie ist vier Jahre alt. Sie musste im Kindergarten angemeldet und gefüttert werden, sie freute sich über Kleinigkeiten. Das war sehr erdend. Ich habe sie gerne von der Kita abgeholt, wir waren gemeinsam einkaufen und haben dann zusammen gekocht. Ich erinnere mich noch sehr gut an einen Moment im April, als ich die Straßen im Stadtzentrum entlangging, alles rundum glänzte, die Sonne schien so hell, die Menschen waren glücklich. Alles war perfekt, nur ich gehörte nicht dazu.

Armenien war eine impulsive Entscheidung. Mir ging es nicht darum, dass ich dort leben wollte, es war einfach eine Flucht vor mir selbst. Ich versuchte zu denken, dass alles normal sei. Das war es aber nicht. Von diesem Moment an verstärkte sich in mir das Gefühl, dass ich zurückkehren musste nach Russland. Dass es ehrlicher ist. Und natürlich verbinden mich auch mein Job und meine Freunde mit Russland.

Nach ein paar Monaten war ich wieder in St. Petersburg. Mich überrascht es immer noch sehr, dass die Menschen ihr Leben einfach weiterleben. Hier steht eine Werbung für einen Joghurt direkt neben einer Werbung für den Militärdienst in der Ukraine. Das macht mich furchtbar wütend. Trotzdem war es mir wichtig, zurückzukommen und zuzugeben, dass auch ich mitverantwortlich für den Krieg bin. Dass es nichts bringt, einfach nur das Land zu verlassen und so zu tun, als ginge mich alles hier nichts mehr an. Und hier bin ich.

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Jemand wird die Straße entlanggehen und sagen: „Krieg ist normal.“ Und ich bin die Person, die antworten wird: „Nein. Bist du völlig verrückt?“ Das mache ich oft in Gesprächen mit meinen Bekannten, Verwandten und Kollegen. Ich habe Angst, aber ich spüre sie nicht immer. Der Krieg hätte nicht stattfinden dürfen, und er sollte so schnell wie möglich enden. Nicht nur der Krieg, sondern auch Putins Herrschaft.

Dauerhaft kann ich es nicht aushalten, hier zu leben. Ich gebe mir jetzt ein Jahr Zeit, um Russland zu verlassen. Bis dahin möchte ich alles tun, was ich gegen dieses Regime tun kann:

Weiter mit Menschen streiten, die den Krieg unterstützen, sie in die Realität zurückbringen. Und ich will aufklären. Demnächst werde ich zum Beispiel einen Vortrag über erlernte Hilflosigkeit für Mitarbeiter eines Staatsunternehmens halten. Außerdem möchte ich bei den Präsidentschaftswahlen meine Stimme gegen Putin abgeben. Das ist im Ausland kompliziert umzusetzen, Briefwahl gibt es in Russland nämlich nicht.

Wo ich hingehe, das soll diesmal eine wohlüberlegte Entscheidung sein. Momentan gucke ich in Richtung Berlin oder Bali. Ja, es kann sein, dass ich mich auch dort isoliert fühlen werde. Aber das, was hier jeden Tag passiert, ist nicht normal. Dauerhaft kann ich es nicht aushalten.


„Mein Land führt Krieg mit den Steuern, die ich hier zahle“

Anna, 27, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in Sankt Petersburg.

Nach dem Einmarsch in die Ukraine habe ich ein Zugticket nach Moskau gekauft. Der Mann meiner Schulfreundin ist Pilot und war damals schon eingezogen worden. Ich wollte sie trösten. Sie sagte, dass es keinen Ausweg gegeben hatte und er gehen musste. Ich sehe das anders, aber es ist ein sehr schwieriges Thema für sie.

Eine Woche nach Kriegsausbruch fuhr ich von Sankt Petersburg nach Moskau. Als ich bei ihr ankam, konnte ich endlich weinen. Meinen riesigen Koffer hatte ich schon mitgenommen, denn von Moskau aus wollte ich weiterreisen nach Batumi in Georgien. Raus aus Russland. Nicht mehr in dem Land sein, das einen Krieg begonnen hat. Wann ich zurückkehren werde, fragte mich meine Freundin. Ich konnte es ihr nicht sagen.

Von Moskau bin ich also nach Batumi geflogen. Dort habe ich mehrere Monate zusammen mit fünf Freund:innen in einer Zwei-Zimmer-Wohnung gelebt. Jeden Tag ging ich in die Bibliothek, dort konnte ich in Ruhe arbeiten. In der Lesehalle war ich oft alleine, ab und zu kam noch ein georgischer Opa mit seiner Zeitung.

Nachrichten über den Krieg prasselten von allen Seiten auf mich ein. Ich habe mich total schlecht gefühlt und jeden Tag geweint. Mich hat es von innen heraus zerfressen, dass ich als russische Staatsbürgerin für den Krieg mitverantwortlich bin. Und immer wieder waren mir meine Freundinnen fremd, die sehr viel über ihre eigenen Probleme nachdachten und nicht so viel über den Krieg und das Leid der Menschen in der Ukraine.

In Batumi habe ich zuerst remote für eine Uni in Russland gearbeitet, aber dann wurde mein Vertrag gekündigt: Länger als zwei Monate durfte man nicht im Homeoffice bleiben. Ich hatte noch etwas Geld und viel Freizeit. Deswegen habe ich entschieden, bei einem Projekt mitzuarbeiten, das Ukrainer:innen hilft, die von Russland besetzten Gebiete zu verlassen. Ich verteilte die Hilfegesuche, die uns per Chat erreichten, an unsere Freiwilligen in der Ukraine. Es war schwer, wenn Menschen gruselige Fotos ihrer zerstörten Häuser schickten. Und ich dachte: „Auch das hat mein Heimatland gemacht.“

Trotzdem habe ich mich entschieden, zurückzugehen. Das habe ich vor allem deshalb gemacht, weil mir Forschung und Wissenschaft riesigen Spaß machen. Mich fasziniert es total, wie Menschen im wissenschaftlichen Bereich ihre Ideen besprechen und entwickeln, und ich will Teil davon sein. Außerdem ist es mir wichtig, an ein Forschungsinstitut angebunden zu sein, einfach ins Büro zu kommen und mich mit Kolleg:innen auszutauschen. Im Juli letzten Jahres hat mir eine Universität in Russland eine gute Stelle angeboten. Ich habe zugesagt.

Moralisch halte ich meine Rückkehr nach Russland für falsch. Mein Land führt Krieg mit den Steuern, die ich hier zahle. Aber für meine mentale Gesundheit ist es die richtige Entscheidung gewesen. Nachdem ich zurückgekommen war, wurden bei mir eine Angststörung und eine depressive Störung diagnostiziert.

Ich sehe, wie sich über Russland die Wolken zusammenziehen. Witze über eine mögliche lebenslange Haftstrafe sind in meinem Freundeskreis normal geworden. Wir alle demonstrieren schon seit Jahren gegen das Regime Putins. Was mich jeden Tag aufstehen lässt, ist, dass mein Forschungsgebiet noch irgendwie lebt und ich etwas bewirken kann. Momentan bewerbe ich mich aber auch für verschiedene Promotionsprogramme an europäischen Universitäten. Irgendwann nach dem Krieg müssen wir hier in Russland Forschung und Ausbildung wieder aufbauen. Ich weiß, dass die Zeit kommen wird. Aber im Moment sieht alles hoffnungslos aus.


„Zurückkehren geht immer, aber eine Ausreise kann mir niemand garantieren“

Kirill, 28, ist Frontend-Entwickler in Jekaterinburg.

Eigentlich bin ich niemand, der Putins Reden anschaut. Aber im Februar 2022 war meine Freundin krank, wir haben den Fernseher vom Wohnzimmer ins Schlafzimmer gestellt und landeten plötzlich bei seiner Ansprache kurz vor der Invasion. Ich war total schockiert. In den nächsten Tagen und Wochen konnten meine Freundin und ich gar nicht mehr aufhören, die ganzen fürchterlichen Nachrichten zu lesen.

Eigentlich machte mir die Mobilisierung keine große Angst, als 18-Jähriger wurde ich ausgemustert. Aber in Kriegszeiten kann ich theoretisch trotzdem eingezogen werden. Das wiederum bereitete meiner Freundin Sorge. Der Gedanke, dass ich in den Krieg ziehe und dann auch noch für Putin, war für sie unerträglich. Sie wollte, dass ich fliehe. Und ich dachte mir: Zurückkehren geht immer, aber eine Ausreise kann mir niemand garantieren. Damals gab es Gerüchte, dass die Grenzen geschlossen werden.

Ende September 2022 bin ich mit dem Bus von Jekaterinburg nach Kasachstan gereist. Bis an die Grenze braucht man mit dem Auto normalerweise sechs Stunden. Wegen der ganzen Staus waren es dieses Mal 15 Stunden. Am Checkpoint-Ausgang stieg eine Grenzbeamte in den Bus und wünschte uns einen angenehmen Urlaub, und dort saßen wir: ungefähr 60 Männer. Man versteht, was los ist. In Kasachstan habe ich mit fünf weiteren Männern eine Wohnung gemietet. Anfangs war es sogar cool, alles neu und ungewöhnlich. Ich bin generell ein ruhiger Mensch und hatte in Jekaterinburg die meiste Zeit von zu Hause als Programmierer gearbeitet und auch abends das Haus nicht sehr oft verlassen. Aber hier war ich plötzlich aus meiner Komfortzone rausgeworfen und verhielt mich total anders.

Der Grund für meine Ausreise war ziemlich schrecklich: der Krieg gegen die Ukraine. Aber ich sah keinen Sinn darin, alles zu einer negativen Erfahrung werden zu lassen. Eigentlich hatte ich immer von Urlaub in fremden Ländern geträumt. Jetzt wollte ich meine erste richtige Reise ins Ausland auch genießen! Ich habe angefangen, Kasachisch, Kirgisisch und Urdu zu lernen, war jeden Tag spazieren und kam mit Menschen ins Gespräch. Einmal habe ich eine ganze Nacht in einem 24-Stunden Supermarkt verbracht. Zuerst habe ich eine Verkäuferin auf Kirgisisch angequatscht. Das hat sie überrascht und sie hatte viele Fragen an mich! Es stellte sich heraus, dass sie Kirgisisch auf Lehramt studierte. Sie fand einen Stuhl für mich, den ich neben die Kasse stellen durfte, und wenn keine Kunden da waren, schrieb sie Grammatikregeln auf Kassenzettel.

Ich habe Menschen aus Pakistan, der Türkei, Frankreich und sogar der Schweiz kennengelernt. Für mich war es total spannend, etwas über andere Kulturen zu hören. In Jekaterinburg trifft man selten auf Ausländer.

Ich verbrachte drei Monate in Kasachstan, vier weitere in Kirgistan. Meine Freundin und ich dachten, dass die Situation nach der ersten Mobilmachung klarer wird. Ich wartete im Ausland auf die zweite Mobilmachung, aber sie kam nicht. Stattdessen fiel der Rubel, das Leben wurde immer teurer. Und ich hatte Sehnsucht nach zu Hause. Vor ein paar Monaten bin ich nach Russland zurückgekehrt, auch wenn ich das Land an sich nicht vermisst habe.

Meine Freundin und ich sind seit über zehn Jahren zusammen. Kurz bevor der Krieg begann, hatten wir unsere Wohnung renoviert, neue Möbel gekauft. Ich hänge sehr an diesem Ort. Ich will ihn nicht verlassen. Auch viele meiner Bekannten sind inzwischen nach Russland zurückgekehrt. Klar, ich bin gegen den Krieg, bin aber trotzdem nicht bereit, deswegen alles aufzugeben.

Wir haben die Namen der drei Personen aus Sicherheitsgründen geändert.


Redaktion: Franziska Schindler, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

„Moralisch halte ich meine Rückkehr für falsch“

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