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KR-Mitglied Barbara fragt: „Wie ist das Verhältnis zwischen den Menschen in der Ukraine und Polen? Ich habe gehört, dass die Ukraine im Zweiten Weltkrieg Gräueltaten an polnischen Menschen begangen hat.“
Wenn es um das Verhältnis zwischen der Ukraine und Polen geht, muss ich sofort an dieses Meme denken:
https://twitter.com/uamemesforces/status/1529452666102980608?s=20
Es zeigt auf einen Blick, wie viele Ukrainer:innen ihr Verhältnis zu Polen sehen: herzlich, hilfreich, unterstützend. Das war nicht immer so, denn viele Jahre überschatteten grausame Verbrechen aus dem Zweiten Weltkrieg das Verhältnis der beiden Länder. Nach dem russischen Angriff zeigten sich die Pol:innen solidarisch, nahmen Ukrainer:innen bei sich zuhause auf und setzten sich für Waffenlieferungen ein. Doch jetzt, eineinhalb Jahre nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, bröckelt die polnische Unterstützung teilweise.
Ukrainische Nationalisten ermordeten Zehntausende Pol:innen
Polen und die Ukraine sind seit Jahrhunderten eng verbunden, zum Beispiel gehörten große Teile der heutigen Ukraine bis ins 18. Jahrhundert zum Königreich Polen-Litauen. So nah sich Pol:innen und Ukrainer:innen waren, Konflikte gab es trotzdem. Vor allem um Regionen, in denen sowohl Ukrainer:innen als auch Pol:innen lebten.
Der Konflikt eskalierte in den Jahren 1943 und 1944. Die „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN) und ihr militärischer Arm, die UPA, ermordeten in der Region Wolhynien und Ostgalizien Zehntausende Menschen. Manche Schätzungen gehen sogar von bis zu 100.000 Toten aus. Nach Ansicht der UPA sollten in einem ukrainischen Nationalstaat, zu dem sie auch Wolhynien und Ostgalizien zählten, nur Ukrainer:innen leben. Deshalb ermordete und vertrieb die UPA die polnische Bevölkerung. Die „polnische Heimatarmee“ wiederum rächte sich und ermordete bis zu 20.000 Ukrainer:innen.
Es sind Ereignisse, auf die einige Pol:innen bis heute sensibel reagieren, hat mir Félix Krawatzek gesagt, Politikwissenschaftler beim Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien Berlin (ZOiS). „Die Gewalt, die die eigenen Vorfahren erlebt haben, ist sehr präsent in den Familiengeschichten.“ Ältere Menschen erinnerten sich zum Beispiel an die Angst vor den Ukrainer:innen oder hätten überlebende Eltern oder Großeltern.
Polen nennt es ein Massaker, die Ukraine nennt es eine Tragödie
Die Ukraine bewertet die Massenmorde anders. Das ist allein daran erkennbar, wie die beiden Länder diese Ereignisse nennen: Auf Polnisch ist es das „wolhynische Gemetzel“ (rzeź wołyńska), auf Ukrainisch nur eine „Tragödie“ (volynska trahediia).
Die Massenmorde spielen politisch bis heute eine Rolle. 2015 verabschiedete das ukrainische Parlament ein Gesetz, das der OUN und UPA den Status von „Unabhängigkeitskämpfern“ gab und ihren noch lebenden Mitgliedern Sozialleistungen zusicherte. Polen war empört und auf Initiative der nationalkonservativen PiS-Partei erklärte das polnische Parlament 2016 das Massaker zu einem Genozid. „Die PiS-Partei hat dieses Geschichtsthema in den öffentlichen Diskurs eingeführt und stark emotional aufgeladen“, sagt Krawatzek.
Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hält sich Polen bei dem Thema zurück. Die Unterstützung der Ukraine und der Widerstand gegen Russland waren erst mal wichtiger. Und im Juli gedachten die Präsidenten von Polen und der Ukraine zum ersten Mal gemeinsam den Opfern. „Das ist ein großer Schritt“, sagt Krawatzek.
In Polen stehen Wahlen an – und die Solidarität bröckelt
Die Solidarität mit der Ukraine ist in Polen zwar hoch, schrumpfte aber in den vergangenen Monaten. In einer aktuellen Studie befragte Félix Krawatzek junge Pol:innen zwischen 16 und 34 Jahren zu ihrer Einstellung gegenüber der Ukraine. Vor einem Jahr sprachen sich 83 Prozent dafür aus, die Ukraine zu unterstützen, jetzt sind es nur noch 65 Prozent. Und während vor einem Jahr noch 16 Prozent der Meinung waren, Polen solle neutral bleiben, denken das inzwischen mehr als doppelt so viele.
Im Oktober wählt Polen ein neues Parlament und die rechtsextreme Partei Konfederacja liegt in Umfragen bei bis zu 14 Prozent. Die Partei, so sagte es einer ihrer prominentesten Politiker 2019 selbst, sei gegen „Juden, Homosexuelle, Abtreibungen, Steuern und die Europäische Union“. Und sie ist gegen die Aufnahme ukrainischer Geflüchteter. „Falls die Konfederacja ein Koalitionspartner in der neuen Regierung wird, ändert sich wahrscheinlich auch die Ukraine-Politik“, sagt Krawatzek.
Insgesamt bezweifelt er aber, dass die Wahlen in Polen starke Auswirkungen auf die Ukraine haben werden. In absoluten Zahlen helfen die USA, Deutschland und Großbritannien der Ukraine militärisch und finanziell am meisten. Doch egal wie die Wahlen ausgehen, Polen und die Ukraine haben bereits bewiesen, dass sie in der Lage sind, sich zu versöhnen.
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Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert