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Was ist gerade wichtig?
Andrij Melnyk soll ukrainischer Botschafter in Brasilien werden. Melnyk ist den meisten Deutschen ein Begriff: Der Diplomat trat in seiner Zeit als Botschafter in Deutschland (2015 bis 2022) oft undiplomatisch auf und setzte sich vehement für Waffenlieferungen ein.
Im Herbst vergangenen Jahres ging er zurück nach Kyjiw und wurde einer von fünf stellvertretenden Außenminister:innen. In dieser Position war er auch für die Beziehungen zu Lateinamerika zuständig. Jetzt soll der ziemlich krawallige Diplomat nach Brasilien, in ein Land, das nicht vorbehaltlos auf der Seite der Ukraine steht.
Wie tickt Brasilien in Bezug auf den Russland-Ukraine-Krieg?
Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva sieht sich als Vermittler – und stößt damit auf Kritik. Noch vor einem Jahr gab er Wolodymyr Selenskyj eine Mitschuld am russischen Angriff. Zwar ist er inzwischen etwas zurückgerudert, sagte aber kürzlich trotzdem: „Wenn einer nicht will, dann streiten sich zwei nicht.“ Anders ausgedrückt: Die Ukraine ist auch verantwortlich für den Krieg.
Lula weigert sich, der Ukraine Waffen zu liefern. Kürzlich warf er dem Westen sogar vor, den Krieg gegen die Ukraine durch die Waffenlieferungen zu befeuern. Er verurteilt zwar die russische Invasion, ruft aber gleichzeitig zu „mehr Friedensbemühungen“ auf. Diese Haltung stößt oft auf Kritik, denn Verhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt würden wahrscheinlich bedeuten, dass die Ukraine Gebiete abtreten muss. Außerdem ist fraglich, ob Russland überhaupt an ernsthaften Verhandlungen interessiert ist.
Lulas Einstellung entspricht der traditionellen brasilianischen Strategie: Nicht einmischen und Beziehungen zu allen unterhalten, egal ob Demokratie oder Diktatur. Und das bedeutet, dass sich Brasilien ganz gut mit Russland versteht. Im April reiste Lulas außenpolitischer Berater Celso Amorim nach Moskau und traf sich eine Stunde lang mit Putin persönlich. Ein paar Wochen später reiste der russische Außenminister Sergej Lawrow nach Brasilien, nachdem er zuvor in Kuba, Nicaragua und Venezuela gewesen war. Das ZDF nannte die Reise eine „kleine Diktaturen-Tournee“.
Hintergrund dieser betont freundlichen Beziehungen könnte auch sein, dass Brasilien, ein Agrarstaat, russischen Dünger braucht. Seit 2020 hat Brasilien seine Importe aus Russland mehr als verdreifacht. Russland ist einer der weltweit größten Düngemittelproduzenten, nach dem Beginn des Russland-Ukraine-Krieges fielen diese Exporte trotz der Sanktionen nur um zehn Prozent.
Und jetzt soll Melnyk nach Brasilien und dort ukrainische Interessen vertreten. Das hat Potenzial für ein paar Skandale – aber vielleicht auch für Veränderungen in der brasilianischen Außenpolitik.
Die Frage der Woche
KR-Mitglied Dana fragt: „Was ist, wenn die Ukraine den Krieg verliert?“
Russland würde dann ukrainische Gebiete besetzen. Die Kriegshandlungen, also Bombardierungen und Kämpfe, wären dann erst mal vorbei. Doch aus befreiten Gebieten wissen wir, was das für die dort lebenden Ukrainer:innen bedeutet: Angst vor Folter und Entführungen, Unterdrückung der ukrainischen Sprache und Kultur.
Auch außerhalb der Ukraine hätte es Folgen, wenn die Ukraine verliert. Der Politologe Maximilian Terhalle sagte in einem Interview mit der Zeitung Die Welt: „Verliert die Ukraine, kommt der Krieg zu uns.“ So ähnlich formulierte es kürzlich auch der polnische Präsident Andrzej Duda: „Wenn die Ukraine verliert, greift Russland ein anderes Land an.“
Ich finde, man muss vorsichtig mit solchen Szenarien sein. Denn Polen oder die baltischen Staaten – die sich besonders sorgen – sind immer noch Teil der Nato. Und Russland würde bestimmt nicht ohne Weiteres ein Nato-Mitgliedsland angreifen. Trotzdem bleibt es eine reale Sorge, denn würde Russland die gesamte Ukraine besetzen, dann wären auch Polen, die Slowakei, Ungarn und Rumänien nicht mehr weit. Der amerikanische Analyst George Friedman schreibt, dass in diesem Fall die USA Truppen in die Ukraine senden könnten, um Russland zum Rückzug zu zwingen. Aber auch hier ist unklar, wie wahrscheinlich das ist.
Ein historisches Beispiel zeigt, wie radikal die Folgen sein könnten, würde die Ukraine verlieren. Es zeigt außerdem, welche wichtige geopolitische Rolle das Gebiet der heutigen Ukraine für Europa hat. Denn vor ca. 800 Jahren zog der sogenannte Mongolensturm über Europa, mongolische Krieger erreichten bereits Brandenburg. So weit konnte das mongolische Heer nur vorstoßen, weil es zuvor die Armee der Kyjiwer Rus besiegt hatte. Damit war der Weg nach Mittel- und Westeuropa frei. Ihren Vormarsch brachen die Mongolen nur ab, weil ihr Anführer, der Großkhan, in der Mongolei gestorben war und die Feldherren umdrehten, um einen Nachfolger zu bestimmen. Sie kehrten nie wieder nach Europa zurück.
Der Historiker Timothy Snyder betont in einer seiner Vorlesungen, wie wichtig dieser Moment in der Geschichte war. Wenn der Großkhan ein Jahr später gestorben wäre, so erklärt es Snyder, dann würde es das Europa von heute nicht geben. Und Snyder vergleicht dieses historische Ereignis mit dem März 2022, als russische Truppen kurz vor Kyjiw standen – und sich dann doch zurückziehen mussten.
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Der Link der Woche
Darf man im Krieg lachen? Viele Ukrainer:innen finden: Ja! Stand-up-Comedy erlebt in der Ukraine einen richtigen Boom. Warum das so ist, erfährst du in diesem Artikel des MDR.
Die Hoffnung der Woche
Das ukrainische Team gewann den europäischen Spitzenplatz bei der europäischen Mathe-Olympiade für Mädchen. Die vier Teilnehmerinnen mussten drei mathematische Aufgaben lösen und hatten dafür viereinhalb Stunden Zeit.
Redaktion: Rico Grimm, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger