Gladys, ich habe so viele Fragen an Sie, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll! Auch aus meiner Twitter-Community kamen viele Fragen zurück, als ich dort geteilt habe, dass ich Sie interviewen würde. Vielleicht steigen wir ganz simpel ein: Wie geht es Ihnen heute Morgen, mit 102?
Bei mir in Arizona ist es sehr heiß, wir sind hier in der Wüste, es dürfte so um die 43 Grad sein. Aber ansonsten geht es mir gut.
Wie sieht Ihr Alltag aus?
Ich stehe um 6 Uhr morgens auf, gehe ins Bad, danach bete ich, dann bereite ich mir ein Frühstück zu – und dann mache ich zum Beispiel das, was wir gerade tun: Ich spreche mit Menschen. Oder beschäftige mich mit dem, was der Tag eben so bringt. Es ist eine wahnsinnig aufregende Zeit, um am Leben zu sein, darüber freue ich mich jeden Tag!
Finden Sie? Viele empfinden die Zeit, in der wir leben, als sehr belastend. Der Krieg in der Ukraine, der Klimawandel, der Konflikt des Westens mit China, die Inflation, auch in Ihrem Land ist die politische Situation nicht einfach, undundund.
Es kommt darauf an, was Sie im Leben suchen, wonach Sie sich ausrichten: Konzentrieren Sie sich auf das Licht – oder wollen Sie nur das Dunkel sehen? Ich kann nicht mehr so gut sehen, aber mein Inneres ist vollkommen in Ordnung; ich verstehe immer noch neue Dinge, die mir vorher nicht klar waren. Also meine Sehkraft ist eingeschränkt, aber mein Erfahrungshorizont ist es nicht.
Wären Sie in dieser Welt gerne noch einmal jung, sagen wir 25?
Nein, wirklich nicht! Die jungen Leute haben heute so viele Möglichkeiten, sich permanent abzulenken durch diese ganzen Geräte, die sie besitzen. Ich denke, man hat ihnen die Möglichkeit genommen, einander wirklich zuzuhören, gegenwärtig zu sein und zu verstehen, was das Leben real ausmacht. Außerdem habe ich zu viele wertvolle Dinge gelernt, seit ich 25 Jahre alt war. All diese Dinge noch einmal neu lernen müssen? Das würde ich nicht wollen; ich hatte auch sehr harte Zeiten. Aber was ich gerne mache: Mir meine Träume anschauen und ein bisschen in Erinnerungen schwelgen. Denn ich habe natürlich auch sehr schöne Erinnerungen an früher.
Welche sind es, die Ihnen als Erstes in den Sinn kommen?
Das kommt ganz darauf an, was ich anschauen möchte. Ich habe so viele Erinnerungen, dass ich aus ihnen wählen kann. Viele drehen sich um meine sechs Kinder, um die Zeit, als sie noch klein waren. Und meine Patientinnen sind mir sehr in Erinnerung geblieben. Sie waren wie eine zweite Familie für mich. Sie brauchten mich, und ich habe mich um sie gekümmert.
Wenn du keinen meiner Texte verpassen willst, kannst du hier meinen kostenlosen Gute Laune-Newsletter abonnieren, der dich immer auf dem Laufenden hält.
Ich bin jetzt 39 Jahre alt. Wenn ich mir vorstelle, wie es wohl sein wird, wenn ich alt bin, habe ich immer Angst, dass ich mich zwar an die Dinge, die ich erlebt habe, noch erinnern kann – aber dass ich im Alter vergessen werde, wie sie sich angefühlt haben. Können Sie noch fühlen, wie die Dinge sich damals angefühlt haben?
Ich schaue mir die Erinnerungen an, versuche, mir vor Augen zu führen, was ich in diesen Momenten gemacht habe. Sie können jede Emotion mit diesen Momenten verbinden, die Sie wählen. Manche der Erinnerungen, die ich habe, sind keine guten. Aber ich möchte nicht, dass diese negativen Erinnerungen mich jetzt belasten. Es geht doch darum, sich bewusst zu machen, was man jetzt gerade, in jedem Moment, denkt. Welche Gedanken man wählt. Denn durch Gedanken wachsen wir, oder bleiben irgendwo stecken.
Wenn Sie zurückschauen, was war eine der glücklichsten Zeit in Ihrem Leben?
Oh, da gibt es viele! Aber auch das hier gerade ist ein glücklicher Moment für mich: In Kontakt zu sein mit jemandem, der real ist und Dinge tut, in Deutschland! Ist es nicht verrückt, dass wir so sprechen können, einmal rund um den Globus? Besser gehts nicht! (lacht) Na gut, am liebsten würde ich Ihnen direkt gegenüber sitzen und Sie einmal umarmen. (lacht wieder)
Das ist sehr freundlich von Ihnen, danke! Gab es trotzdem eine beste Zeit in Ihrem Leben? Oder ein bestes Alter?
Die Zeit, als die Kinder noch klein waren, habe ich wirklich geliebt. Diese Abende, wenn wir uns um 18 Uhr alle zuhause trafen, um gemeinsam zu essen. Oft brachten die Kinder noch Freunde mit; manchmal saßen zwölf Kinder an unserem Tisch! Oder mein damaliger Mann und ich, wir arbeiteten beide als Ärzte, luden Kollegen ein. Einmal zum Beispiel hatten wir zwei Ärzte aus Japan zu Besuch, mit denen wir uns über das Thema Akupunktur austauschten. Der eine vertrat den Standpunkt, es handle sich dabei um eine absolut wissenschaftliche Methode. Der andere war Priester und lehnte Akupunktur als ein seltsames „Energie-Ding“ ab. Es war immer was los bei uns. Wirklich eine tolle Zeit!
Was war das spannendste oder beste Jahrzehnt, in dem Sie gelebt haben?
Oh, ich weiß es nicht. Ich versuche wirklich, jeden einzelnen Moment wertzuschätzen. Ich habe als Ärztin Tausende Babys mit auf diese Welt gebracht und ich schwöre Ihnen, wenn ein Baby geboren wird und man den kleinen Kopf eines Neugeborenen zum ersten Mal in den Händen hält, in solchen Momenten habe ich wirklich die Engel singen hören! Aber was sind diese Momente im großen Zeitverlauf? Nichts. Und doch sind sie alles.
Welches Ereignis hat Sie in ihrem Leben am meisten geprägt?
Als mein Mann mir kurz vor meinem 70. Geburtstag die Scheidungspapiere unter die Nase gehalten hat – nach 46 Jahren Ehe.
Warum hat Sie dieses Ereignis so tief geprägt? Ich meine, es war sicherlich sehr schmerzhaft. Aber zu diesem Zeitpunkt hatten Sie ja schon ganz andere Dinge durchgestanden: eine Krebserkrankung etwa oder den Tod eines Ihrer Kinder.
Die Scheidung von meinem Ehemann war die härteste Sache, die ich in meinem ganzen Leben durchstehen musste. Wir hatten sechs Kinder zusammen, die wir gemeinsam großgezogen haben, wir teilten als Ärzte eine gemeinsame Praxis, wir riefen gemeinsam die American Holistic Medical Association ins Leben, die sich zu einer großen Sache entwickelte über die Jahre. Wir waren Gefährten, privat und beruflich, und ich dachte, das wäre unser Leben. Als er mich dann bat, die Scheidungspapiere zu unterschreiben, fühlte es sich an, als hätte jemand mein Leben genommen, in die Luft geworfen und gerufen: „So, und nun schau, was du davon noch auffangen kannst.“
Was haben Sie gedacht, als er Sie um die Scheidung bat?
Ich dachte, ich würde verrückt werden! Ich verstand es einfach nicht, wollte nicht glauben, was er mir erzählte. Es machte alles keinen Sinn! Ich dachte nur: Wo bin ich? Was passiert hier? Wie soll ich den Menschen begegnen, die uns all die Jahre als Paar kennengelernt haben, als Partner.
Wie sind Sie durchgekommen?
Ich hatte immer noch meine Kinder, die mich brauchten. Meine Patienten, die mich anriefen und um die ich mich kümmern musste. Unsere jüngste Tochter hatte kurz zuvor angefangen, als Ärztin in unserer Praxis zu arbeiten, als Partnerin. Sie wollte sich etwas aufbauen. Es gab also genug andere Menschen, an die ich auch denken musste, nicht nur an mein eigenes Unglück. So konnte ich mich darauf konzentrieren, dass das Leben weiterging. Diese Erkenntnis hat mich zurück in mein Leben geführt. Wenn ich jetzt zurückblicke auf all die Jahre, die wir gemeinsam hatten, bereue ich keine einzige Minute, die wir als Ehemann und Ehefrau hatten. Er ist auf diesem gemeinsamen Weg abgebogen, aber ich bin ihn weitergegangen, so gut ich es konnte.
Sie haben sehr lange gebraucht, um diese Trennung zu akzeptieren und zu verarbeiten, mehr als 20 Jahre. Warum hat es so lange gedauert?
Ich muss dafür etwas ausholen: Als Kind wuchs ich in Indien auf. Als ich in die erste Klasse ging, konnte ich nicht lesen; die Buchstaben und Nummern, die auf der Tafel standen, tanzten vor meinen Augen umher. Heute würde man sagen, ich litt unter Legasthenie, aber damals nannten mich die Lehrer:innen die Dumme in der Klasse. Ich musste die erste Klasse zweimal wiederholen. In der Schule war ich also der Dummie, aber zuhause nicht. Ich hatte zum Glück wunderbare Eltern, die meine Stärken förderten. Und in der dritten Klasse erkannte eine Lehrerin etwas in mir: Sie ernannte mich zur Klassensprecherin. Trotzdem dachte ich lange Zeit, ich sei dumm. Dieser alte Schmerz von damals hat eine Narbe in mir hinterlassen, ohne dass ich mir bewusst darüber gewesen wäre. Aber all die Jahre, in denen ich mit meinem Mann Bill verheiratet war, suchte ich seine Rückversicherung. Wenn ich einen Fachartikel schrieb, ließ ich ihn vorher von Bill absegnen. Wenn ich eine Rede halten musste, gab ich sie ihm vorher zum Lesen. Weil ich meiner eigenen Stimme nicht vertraute.
Sie waren also auf ihn angewiesen?
Ja, in unserem Privatleben verließ ich mich in sehr vielen Dingen auf ihn. Nach der Trennung musste ich lernen, wirklich selbstständig zu werden, mir selbst und meiner inneren Stimme zu vertrauen. Tatsächlich war das eine sehr wichtige Lektion, wenn ich zurückschaue. Durch die Trennung verstand ich es schließlich: Egal, welchen Schmerz ich damals als Kind davongetragen hatte, es war jetzt an der Zeit, auf mich selbst zu vertrauen, das zu sagen, was ich dachte, und dazu zu stehen. Ich hörte auf, mir selbst auszuweichen. Aber es hat Zeit gebraucht, um das erkennen. Das Leben braucht Zeit, wissen Sie?
Glauben Sie, Sie hätten Dinge in Ihrem Leben anders entschieden, wenn Sie diese Erkenntnis früher gehabt hätten?
Wahrscheinlich, ja. Aber wäre mein Leben dann besser gewesen? Das weiß ich nicht. Ich habe so gehandelt, wie ich es damals für richtig hielt, mit dem Wissen, das mir damals zur Verfügung stand. Und mit dem, was ich damals verstehen konnte.
Man versteht die Dinge dann, wenn man so weit ist, wollen Sie das sagen?
Genau.
In Ihrem Buch schreiben Sie einen sehr interessanten Satz über Trauer. Ehrlich gesagt verstehe ich ihn aber nicht richtig. Sie schreiben: „Wenn man trauert, ist es nicht das Ziel, die Trauer loszuwerden.“ Wie meinen Sie das? Natürlich will man die Trauer loswerden.
Es geht mehr darum, versuchen zu verstehen, was die Trauer einem sagen will. Ich denke, alle Erfahrungen, die wir machen, lehren uns etwas. Alles, was wir erleben, hat seinen Platz, im richtigen Kontext. So wie die Scheidung von meinem Mann mich schlussendlich hat verstehen lassen: „Doch, ich habe eine eigene Stimme!“
Ich möchte noch auf eine andere Sache zurückkommen, die Ihnen in der Trennungszeit geholfen hat: Ihre Arbeit. Sie haben Ihren Beruf als Ärztin jahrzehntelang ausgeübt. Sie sind erst mit 86 Jahren in Rente gegangen und schreiben in Ihrem Buch, Arbeit sei eine der wichtigsten Säulen in Ihrem Leben. Wie schafft man es, die Leidenschaft für den Beruf so lange aufrechtzuerhalten?
Es ist ganz einfach: Ich habe meine Patient:innen geliebt.
Es gab nie den Punkt, an dem Sie dachten: „Ach, lasst mich doch alle in Ruhe!“
Doch, natürlich gab es den. Wenn ich morgens um 3 Uhr aufstehen musste, zum Beispiel, weil eine Patientin mich anrief, nach nur wenigen Stunden Schlaf. Aber diese Momente hielten nicht lange. Die Liebe zu meinen Patientinnen aber, die hielt.
Man muss allerdings auch dazusagen, dass es eine sehr privilegierte Position ist, seinen Job so zu lieben, ihn mit so viel Leidenschaft auszuführen. Nicht jede Person hat dieses Privileg. Manche Menschen machen einfach ihren Job, weil sie einer Arbeit nachgehen müssen, um Geld zu verdienen. Und das ist ja vollkommen in Ordnung. Was sagen Sie diesen Menschen?
Ich denke, man vermisst etwas, wenn man keine Hingabe hineinlegt, keine Liebe.
Arbeit als solche hat allerdings unter jungen Leuten heutzutage keinen guten Ruf. Wir hatten vor ein paar Monaten bei Krautreporter eine Praktikantin, Anfang 20. Sie schrieb einen Text darüber, wieso sie eigentlich nicht mehr arbeiten wolle. Die Überschrift hieß „Hört auf zu arbeiten!“ Dieser Text wurde von sehr vielen Menschen gelesen und war sehr erfolgreich. Was würden Sie unserer ehemaligen Praktikantin sagen?
Es ist nichts falsch oder schlecht daran, zu arbeiten. Natürlich ist es nervig, wenn man sich jeden Morgen hinschleppen muss. Aber vielleicht findet sie in ihrer Analyse, warum sie Arbeiten schlecht findet, etwas Wertvolles. Vielleicht hat sie noch nicht verstanden, was die Arbeit sie lehren kann. Oder sie hat noch nicht die Arbeit gefunden, die sie erfüllt.
Wie kann sie es herausfinden?
Das ist auch unser Job, der der Älteren. Den Jüngeren aufzuzeigen, dass ein Wert in Arbeit liegt, nicht nur für sie selbst.
Das bringt mich zu einem kleinen Spiel, das ich gern mit Ihnen spielen würde: Ich gebe Ihnen die Hälfte eines Satzes vor und Sie beenden den Satz. Einverstanden?
Alles klar!
Wenn eine Person ihre oder seine Bestimmung im Leben finden will, sollte er oder sie …
Nach innen schauen und versuchen, die eigene Stimme zu hören.
Wenn ich noch einmal jung wäre, würde ich …
Genau das machen, was ich auch mit 102 tue: das Leben Moment für Moment leben.
Ego ist …
Es gibt einen Unterschied zwischen falschem Stolz und der Fähigkeit, sich selbst zu lieben. Letzteres ist sehr wichtig, das müssen wir im Leben lernen. Ein Gefühl der falschen Überlegenheit ist allerdings wirklich das, was kommt, bevor man stürzt. Aber das, was man tut, als das Richtige zu akzeptieren und sich gut damit zu fühlen, ist das, wonach sich mein Inneres sehnt. Das hat aber nichts mit Ego zu tun. Es bedeutet, sich selbst zu verstehen und zu akzeptieren.
Wenn das Leben zu deprimierend wird …
Fange ich an zu singen. Lieder, die mir Freude machen.
Wenn ich an den Tod denke, denke ich …
An das Leben. Weil beides zusammengehört. Meine Schwester, die mit 96 Jahren starb, ist immer noch sehr lebendig in meinem Leben. Meine Erinnerungen an unsere gemeinsame Zeit sind so reich. Als sie noch am Leben war, telefonierten wir; sie lebte in Pennsylvania. Ich kann sie jetzt nicht mehr anrufen oder umarmen. Aber wer sie war, ist immer noch ein großer Teil von dem, was ich bin. Der Tod hat meine Schwester nicht von mir genommen. Und ich denke auch nicht, dass der Tod mich meiner Familie wegnehmen wird.
Wenn ich an die Zukunft denke, denke ich an …
Ein Dorf für ganzheitliche Medizin. Es soll ein Ort sein, in dem man gesunden kann, sobald man den Boden betritt. Dieses Dorf ist mein Zehnjahresplan.
Positiv daran, so alt zu sein, ist …
Man kann Dinge tun, die man vorher nicht konnte. So wie wir beide gerade zoomen. Das hätte ich mir wirklich nicht ausmalen können, als ich noch jünger war. Man kann sich Dinge vergeben, die man sich vorher nicht vergeben konnte. Man kann seinen Platz im Leben akzeptieren.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Illustration: Mia Oberländer, Bildredaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert