Wie geht das, einfach mal zufrieden sein mit dem, was ist? Genau diese Frage hatte ich mir gestellt. Und euch, unseren Lesern. Unter den Antworten, die ich bekam, blieb ich vor allem an einer E-Mail hängen. An der von Katja, 49 Jahre alt. Weil Katja mir schrieb, sie lebe allein und sei total zufrieden damit. Kein Mann, keine Kinder, noch nicht mal eine Katze.
Weil sie außerdem schrieb, ihr Leben verlaufe still und unspektakulär: „Arbeiten, kochen, backen, stricken, Serien gucken, wenig, sehr wenig unternehmen“, mit dem Zusatz „ICH LIEBE ES!“ Und ich blieb hängen, weil Katja früher ein ganz anderes Leben gelebt hatte. Eines, das in einem Alkoholproblem endete und in der Klapse, nach einem Selbstmordversuch mit 5,5 Promille. Die Pulsadern aufzuschneiden hatte Katja nicht mehr geschafft an jenem Abend; zu besoffen. Das Messer und die Schüssel fürs Blut, beides schon von ihr selbst bereitgestellt, fand sie später, als sie aus der Klinik wieder nach Hause kam.
Ich fuhr also los und besuchte Katja zu Hause in Hamburg. Sie arbeitet als „Office Assistant Manager“, als Assistentin der Bürovorsteherin, in einem großen Marktforschungsinstitut. Was macht Katja so zufrieden, wollte ich wissen?
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Katja, muss man in seinem Leben schlimme Krisen durchleben und mindestens einmal richtig fies auf die Fresse knallen, um zu sich selbst zu finden?
Sagen wir so: Es hilft dabei. Es bringt einen auf den Boden. Bei mir war es definitiv notwendig.
Dein heutiges Leben könnte man langweilig nennen, oder auch spießig – dabei warst du früher, mit Mitte 30, das Vorzeige-Partygirl. Was macht dich heute so glücklich?
Ich habe gemerkt, dass man mit ziemlich wenig total zufrieden sein kann. Ich muss nicht mehr überall dabei sein. Und ich verpasse auch nichts, wenn ich am Wochenende zu Hause bleibe.
Das war ja früher völlig anders.
Ja, es gab kein Wochenende, an dem ich nicht auf irgendeinem Konzert war, in irgendeiner Kneipe. Im Sommer Festivals, immer, überall. Schweden, Barlingen, Wacken, egal wo. Ich habe nicht nur freitags und samstags gefeiert, manchmal auch noch an den Sonntagen.
Was war damals ein gutes Leben für dich?
Party, ganz klar. Auch der Rausch. Das Hinfiebern aufs Wochenende. Das Wissen: „Da kann ich loslassen. Mich kratzt nichts, ich muss nicht funktionieren. Wo ist mein Dealer? Ah, da isser ja, alles klar, es kann losgehen.“ Rückblickend war das auch ’ne Flucht. Vielleicht vor mir selbst, weil ich so unausstehlich war.
Du warst damals Mitte 30 – viele Menschen gründen in dieser Zeit eine Familie. Du aber hast dich lieber durch Hamburgs Metal-Szene gefeiert. Warum?
Kinder, heiraten, Haus mit Vorgarten: Das war der Plan meiner Eltern gewesen. Aber meiner nicht. Sollte ich etwa in Büsum Krabbenbrötchen verkaufen? Um Himmels willen! Heavy Metal hat zudem einen ganz besonderen Zusammenhalt in der Szene; Wacken ist nicht ohne Grund das friedlichste Festival der Welt. Es ist eine tiefe Gemeinschaft, man hilft sich. Das war das Gefühl einer Familie für mich. Zum Teil sehr tiefgehend. Eine kleine, aber sehr feste und feine Szene.
„Ich war ein arrogantes, unausstehliches, aggressives Miststück“
Bevor deine extreme Feierphase losging, warst du auch nicht gerade zahm. Mit 30 bist du zur See gefahren …
Ja, ich hatte Berufsschullehramt studiert, aber abgebrochen und brauchte Geld. Und da ich eine Hotelausbildung in der Tasche hatte, dachte ich: „Alles klar, dann fährst du zur See.“ Weil es einfach war, in diesem Gewerbe an einen Job zu kommen. Ein Jahr lang war ich Tellerpinguin, also Food- und Cabin-Stewardess.
Wo bist du überall rumgeschippert?
Frag mich lieber mal, wo nicht! Das erste Schiff war furchtbar, das war damals schon so ’ne Luxusjacht für sehr Reiche, Mittelmeer. Da kostete eine Nacht 1.000 Dollar – pro Person! Und genau so haben sie sich auch benommen. Ich bin aber auch tolle Strecken gefahren, von Vancouver durch die Nord-West-Passage, Grönland, Ostküste Nordamerika runter, dann Karibik, durch den Panamakanal, Westküste Südamerika runter, bis zur Antarktis.
Und da lautete das Motto auch schon: Party, Party, Party?
Nee, auf dem Schiff haben wir 18-Stunden-Arbeitsschichten geschoben! Als ich nach Hause kam, wartete mein Freund auf mich, aber den habe ich bald rausgeschmissen. Das war Anfang der Nullerjahre, und ich wollte total frei sein. Kein Mann, nach dem ich mich richten musste, genug Geld hatte ich nach den Jobs auf See auch. Als Hotelfachangestellte wollte ich nicht mehr arbeiten, über meinen Ex rutschte ich zunächst in einen Job im Vertrieb, zack. Das war Zufall. Ungelernt reingeschliddert, mittlerweile kann ich den Job.
Wie bist du in die Metal-Szene gekommen?
Ich war schon immer Metal-affin gewesen, aber nun gab es nichts mehr, was mich bremsen konnte. Ich hatte mir damals einen Nebenjob gesucht, an der Theke in einer Heavy-Metal-Kneipe. Im Headbanger’s Ballroom, das war damals der Szeneladen für Metal-Fans in Hamburg. Legendär! Und dann bin ich losgezogen an den Wochenenden.
Sex, Drugs, Rock ‘n’ Roll?
Und Arbeit. Meine Feuerprobe war auf dem Wacken-Open-Air, im Zelt. Alter! (Katja lacht) Da fetzt du vier Nächte durch und schiebst Bier über den Tresen, bis keiner mehr geradeaus gucken kann. Dort lernte ich jemanden kennen, mit ich ein paar Jahre zusammen war, der war ein in der breiten Öffentlichkeit unbekanntes, aber trotzdem sehr hohes Tier in der Metal-Szene in Hamburg. Durch ihn kamen dann Sex, Drugs, Rock ‘n’ Roll: Backstage-Pass, schwarze Sonnenbrille, schwarze Lacklederhose. Ich musste mich um nichts mehr kümmern, kam in jeden Laden, auf jedes Konzert, bis zu Touren in Japan.
Was hast du dir in der damaligen Zeit abgeholt durch das ganze Feiern?
Ich glaube, ich fand es ziemlich geil, dass ich so ein Mini-VIP war. Man kannte mich halt. Es ging um Status, eindeutig. Man definierte sich durch Äußeres – Haare schwarz gefärbt, die entsprechenden Klamotten, der entsprechende Schmuck, entsprechende Stiefel, ich kannte die coolen Typen; die aber gar nicht so cool waren, ganz im Gegenteil. Rückblickend kommen sie mir oberflächlich vor, damals war das für mich jedoch völlig in Ordnung. Aber es war auch sehr anstrengend: immer unterwegs, immer unter Strom, zum Schlafen hatte ich kaum Zeit. Dann kamen irgendwann Drogen dazu. Koks. Obwohl das nicht zum Problem wurde. Der Alkohol anfangs auch nicht. Das beschränkte sich erst noch aufs Wochenende.
Warst du glücklich in dieser Zeit?
Ich dachte, ich wäre es. Erst später ist mir aufgefallen, wie oberflächlich das alles war. Ich lebte nur von Wochenende zu Wochenende, hatte keine Pläne, keine Vorstellung vom Leben.
Ich war ein arrogantes, unausstehliches, aggressives Miststück, so hast du dich selbst beschrieben in der Zeit damals.
Ich war einfach überheblich. Dabei hatte ich nichts getan, um das zu rechtfertigen. Deswegen ist mir heute auf dem Boden bleiben so wichtig; ich könnte mir das an die Decke malen! Und auf dem Boden war ich damals eben überhaupt nicht. Wir waren das alle nicht in der Szene. Es gab halt Leute, die sind gesund wieder da rausgekommen. Weil die schon damals in sich selbst ruhten. Aber ich ruhte nicht in mir selbst; ich war laut, extrovertiert. Da wo ich war, musste Party sein. Ich musste immer im Mittelpunkt stehen.
„Erst war’s nur ein Glas Wein jeden Abend. Dann ’ne Flasche. Und danach kam der Wodka“
Wieso wurde der Alkohol irgendwann zum Problem?
Ich habe bis heute nicht herausgefunden, wieso ich mit dem Saufen angefangen habe. Diverse Psychiater auch nicht. Ich weiß, dass ich eine Affinität zu Drogen habe; alles, was irgendwie androgt oder tüdelig macht, das fand ich schon immer cool. Aber abgesehen davon kann ich es mir bis heute nicht richtig erklären. Ich kenne andere Leute, die echt allen Grund zum Trinken hatten, weil die Schreckliches erleben mussten. Auch, dass die immer wieder zum Trinken zurückgekehrt sind. Aber bei mir gab es eigentlich absolut keinen Grund dafür, ich hatte nie ein wirklich schweres Leben. Okay, gut, ich hatte eine Depression – aber deswegen wird man auch noch kein Alkoholiker.
Weißt du, was die Depression ausgelöst hat?
Vielleicht war es der Arbeitsstress. Ein paar Jahre lang habe ich mich von einem Scheißjob zum anderen gehangelt. Noch ein Zeitvertrag und noch ein Zeitvertrag. Und parallel lief diese Partyschiene bei mir, schneller und schneller. Irgendwann habe ich dann nicht mehr nur am Wochenende Alkohol getrunken, sondern auch mal nach der Arbeit ein Gläschen Wein. Zuerst war’s immer nur ein Glas. Und irgendwann war’s dann ’ne ganze Flasche.
Jeden Abend?
Ja. Ich hatte zu dieser Zeit auch noch einen anderen kleinen Job in ’ner kleinen Heavy-Metal-Kneipe. Heute kommt mir das unglaublich anstrengend vor: montags bis freitags Vollzeit arbeiten, dann das ganze Wochenende hinter der Theke, getrunken, viel zu wenig geschlafen. Ohne Koks ging das gar nicht; hält man ja nicht durch. Nach einer Weile musste ich dann vor meinen Schichten in der Kneipe schon einen Schnaps trinken, um überhaupt loslegen zu können. Und irgendwann saß ich abends in meiner Wohnung und dachte: „Mein Gott, ich brauche ganz schön viel Wein, um auf meinen Pegel zu kommen, steigen wir doch mal auf Wodka um.“ Das war der Anfang vom Ende.
Zuerst habe ich den Wodka noch mit Energy-Drinks gemischt. Gegen Ende hin, als es schlimm wurde, mischte ich mit Wasser. Und ganz am Ende, als es richtig schlimm war, habe ich ihn pur runtergekippt.
Hast du gemerkt, was damals mit dir passiert ist?
Von außen hat es niemand mitbekommen. Alkoholiker sind die besten Schauspieler der Welt. Du hast einen enormen Verbrauch an Mundspray und Tic Tac, aber Wodka riechst du sowieso nicht; du hast keine Fahne. Ich selbst habe lange gebraucht, bis ich gesehen habe, was mit mir passierte. Nach ein paar Monaten Saufen habe ich immer nachmittags auf der Arbeit so gegen zwei, drei Uhr solche Anfälle bekommen: Schwitzen, zittrige Hände. Aber dass das klassische Symptome eines Alkoholikers sind? Nee, darauf bin ich lange nicht gekommen. Wollte ich auch nicht. „Ich kann jederzeit aufhören mit Trinken, ich habe doch kein Problem! Ich doch nicht!“ Das dachte ich damals. Gleichzeitig hatte ich meine Sucht schon perfekt organisiert, kaufte meine Dosen Alkohol also beispielsweise immer in unterschiedlichen Läden ein.
„Im Krankenhaus mit 5,5 Promille – ich wollte nicht mehr“
Und dann?
2011 war mein letztes Wacken-Festival, ich habe kaum noch Erinnerungen daran. Zähneputzen mit Wodka. Gesundheitlich ging es mir immer schlechter, ich musste weitertrinken, um meinen Pegel zu halten. Alles wurde egal, die Musik, meine sozialen Kontakte. Das Wichtigste war: ungestört saufen. Irgendwann habe ich Blut gekotzt. Und mich dann selbst ins Krankenhaus eingeliefert. Was wirklich los war, wollte ich mir immer noch nicht eingestehen. Dabei fragte mich die Krankenschwester schon bei der Aufnahme: „Wann haben Sie zuletzt Alkohol getrunken?“ Ich so: „Vor drei Wochen.“ Und die Krankenschwester schaute mich nur sehr ungläubig an, nach dem Motto: „Ja klar!“ Die Ärzte sagten mir dann ganz deutlich: „Mädel, wenn du nicht aufhörst zu trinken, gehst du hops! Deine Bauchspeicheldrüse ist kaputt, und du hast ein richtig schweres Alkoholproblem!“
Muss ein ziemlicher Schlag ins Gesicht gewesen sein.
Im Gegenteil! Du glaubst nicht, was mir da ein Riesenstein vom Herzen gefallen ist! Nach der ärztlichen Diagnose konnte ich meinen Zustand endlich zugeben. Auch vor mir selbst. Musste nicht mehr lügen, mich nicht mehr verstecken. Das war wahnsinnig erleichternd.
Nach dem Schock hast du dein Leben in den Griff gekriegt?
Nee, es hat noch den ganzen Sommer gedauert, bis ich überhaupt bereit für die Langzeittherapie war, die ich brauchte. Ich kam erst für 13 Tage in eine stationäre Kurzzeittherapie; „Trockenschleuder“ nennt man das im Fachjargon. Da gehst du rein, machst ein bisschen Ergotherapie, ein bisschen Sport, ein bisschen Seidenmalerei, ein bisschen Gesprächstherapie. Und denkst, wenn du rausgehst, trinkst du nie wieder. Aber das ist natürlich Quatsch. Ich bin immer wieder rückfällig geworden. Irgendwann bin ich morgens in der Klapse aufgewacht; ich hatte versucht, mich umzubringen. Und 5,5 Promille überlebt. Es war wie bei einem Auto, das rollt und rollt und rollt, immer schneller – und irgendwann knallt es gegen eine Wand.
Du wolltest nicht mehr leben?
Wir hatten viel Stress in der Firma zu dieser Zeit, es stand ein großer Event bevor, bei dem auch Alkohol ausgeschenkt wurde. Am Abend vor der Veranstaltung bekam ich Panik, „das schaffe ich nicht“, dachte ich. Zudem stand mein Umzug in eine neue Wohnung an, von dem ich nicht wusste, wie ich ihn allein stemmen sollte. Meine sozialen Kontakte hatten sich zu dieser Zeit, 2012 war das, schon sehr eingedampft. Und meine Wohnung sah aus – ich war ein Messie. Seit Wochen nicht gespült, mein Bruder räumte später meine Wohnung auf, während ich in der Psychiatrie war. An die 200 leeren Wodka-Flaschen schleppte er raus. Es war einfach alles zu viel für mich, ich wusste nicht mehr, wo ich anfangen und wo ich aufhören sollte. Und da dachte ich: „Ich mach Schluss, mir reicht’s. Dann höre ich lieber ganz auf.“ Wenn ich mich heute daran erinnere, ist das, als würde ich von einer anderen Person sprechen.
„In die Klinik zu gehen, war die beste Entscheidung meines Lebens“
Was hat man dir in der Psychiatrie gesagt?
Meine Diagnose lautete: schwerer Alkoholmissbrauch, Abhängigkeit, Depressionen. Ich wollte aber unbedingt wieder zurück ins Büro, weil ich immer solche Angst hatte, meinen Job zu verlieren. Ich wollte mein Leben nicht aufgeben – dabei war das gar kein Leben mehr. Aber ich habe lange krampfhaft daran festgehalten: „Ach, das krieg ich schon wieder hin!“
Ist doch Wahnsinn, wie viel Energie man darauf verwendet, an einem Leben festzuhalten, das einem so viel Angst macht.
Aber das sieht man nicht, wenn man Depressionen hat. Das ist echt ’ne fiese Krankheit. Und selbst als ich bereit war für die Langzeittherapie, dauerte es noch zwei Monate, bis ich überhaupt einen Platz bekam. Natürlich bin ich in dieser Zeit wieder rückfällig geworden. Ich rief irgendwann in der Klinik an und bettelte: „Bitte, ihr MÜSST mich JETZT aufnehmen! Ich weiß nicht, ob ich das noch lange so durchhalte!“ Von Dezember 2012 bis April 2013 war ich schließlich in der Klinik. Das war die beste Entscheidung meines Lebens.
Was ich nicht verstehe: Du hattest ja schon eine Zeit lang nicht getrunken – wieso fängt man immer wieder an?
Das ist der Arsch, der in deinem Gehirn sitzt. Der sich aus dieser wahnsinnigen Angst speist, die du hast: „Oh Gott, wie soll ich das jemals ohne Alkohol schaffen?“ Der Fiesling sagt dir: „Och, es geht dir schlecht? Na komm, einen kannst du doch trinken. Da passiert nix, ehrlich nicht!“ Aber natürlich passiert was. Und gegen diesen Fiesling kämpfst du auch als trockener Alkoholiker für den Rest deines Lebens.
Auch heute noch?
Ja. Heute kommt er nur noch ganz, ganz selten um die Ecke, dann kriegt er einen Arschtritt und geht wieder. Aber man ist und bleibt Alkoholiker, auch wenn man trocken ist irgendwann.
Wie hast du es geschafft, trocken zu werden?
In der Langzeittherapie hatten wir eine tolle Suchtberaterin, eine sehr energische, durchgreifende und gnadenlos ehrliche Frau, die selbst mal alkoholsüchtig war. Die hatte durch ihre Krankheit den Vorteil: Ihr hast du geglaubt. Sie war genau das, was ich brauchte. Wenn die zu mir sagte: „Na denk mal drüber nach, warum du jetzt in dieser Situation steckst!“, dann dachte ich auch wirklich darüber nach. Die ersten zwei Wochen in der Klinik habe ich nichts anderes getan.
Wir hatten außerdem ein straffes Programm: Gruppen-, Einzeltherapie, wir mussten zu den Mahlzeiten erscheinen, höllenviel Sport, Arbeitstherapie. Die machte ich in der Gärtnerei, das war sehr heilsam. Meine Antidepressiva nahm ich weiter in dieser Zeit, auch nachdem ich entlassen wurde noch ein paar Monate. Im Frühjahr 2013 kam ich raus, im Herbst setze ich die Medikamente ab. Mir ging es richtig gut!
„Ich hab im Vergleich zu anderen Menschen eine unglaubliche Freiheit“
Hattest du nochmal einen Rückfall?
Nein, seitdem nicht mehr. Aber ich habe auch Situationen vermieden, in denen es gefährlich werden könnte. Seit der Langzeittherapie ist meine Wohnung mein „safespace“.
Du führst jetzt ein Leben, wie du es eigentlich nie wolltest. Klein und relativ zurückgezogen, unspektakulär, viel stiller als früher. Findest du das schlimm?
Nein, ich hatte genug Aufregung in meinem Leben. Ich will das nicht mehr. Trotzdem vermisse ich ab und an den Rausch von früher, die alten Zeiten. Aber ich erinnere mich auch noch an das schreckliche Gefühl, dass ich zum Beispiel auf Entzug hatte. Und das will ich wirklich nie, nie wieder haben.
Was machst du am Wochenende, an denen du ja jetzt nicht mehr feiern gehst?
Freitagnachmittags gehe ich erstmal auf den Wochenmarkt. Ab und an habe ich abends was vor, aber wenn ich nichts vorhabe, ist es auch schön. Dann gucke ich Serien. Grade die neue Marvel-Serie, unglaublich gut! Ich lese sehr viel. Und ich stricke! In der Therapie habe ich mir das angewöhnt, das ist für mich wie Gehirn-Yoga. Ich gehe nur noch selten auf Konzerte, vom Heavy Metal bin ich ziemlich weg. Vor kurzem habe ich mir sämtliche Sachen von Nina Simone angehört, auch Folk kann ich den ganzen Nachmittag hören. Simon & Garfunkel.
Was ist heute wichtig in deinem Leben?
Ich habe im Verhältnis zu vielen anderen Menschen eine unglaubliche Freiheit. Auch wenn andere das vielleicht als Einsamkeit bezeichnen würden. Kennst du dieses Lied von Simon & Garfunkel, „I feel groovy“? Da heißt es: „I got no needs to do, no promises to keep.“ Genau das ist es: Bis auf den Job habe ich keine Verpflichtungen. Was nicht heißt, dass ich den Umgang mit Leuten nicht total genießen würde. Letztens war ich auf dem Christopher Street Day hier in Hamburg und habe da getanzt, das war so toll! Aber nach zwei Stunden war’s dann auch gut.
„Viele Menschen sind total verwöhnt – denen fehlt es an Demut“
Ist Freiheit das wichtigste?
Nein, das wäre zu viel gesagt. Das Wichtigste ist, glaube ich: Dass ich mir nichts mehr beweisen muss. Mir ist mein Job wichtig, ich habe endlich mal ein bisschen Geld. Mir ist Sicherheit wichtig; all das, was ich mir so mühsam aus diesen ganzen Scherben zusammengefriemelt hab.
Du bist angekommen.
Ja, definitiv. Ich kann mich heute gut leiden. Und ich weiß das Leben zu schätzen. Die Anspruchshaltung vieler Menschen ist unglaublich hoch. Ich sehe das andauernd. Die Leute sind total verwöhnt. Viele wollen alles, aber sind nicht bereit, alles dafür zu tun. Ihnen fehlt es an Demut. Mir ist das heute total wichtig.
Ist Demut ein Weg zu mehr Zufriedenheit?
Definitiv. Viele Menschen sehen nicht, wie viel sie eigentlich haben. Sie sind nur am Meckern. Man kann wirklich einfach mal zufrieden sein mit dem, was man hat.
Was ist mit Kindern, einer Familie? Fehlt dir das echt nicht?
Ich habe nie bereut, keine Kinder zu haben. Ich hatte nie dieses Mutti-Gen. Und ich muss ernsthaft überlegen, ob ich in meinem Umkreis eine Beziehung kenne, die richtig, richtig cool ist? Ehm … nö. Manchmal vermisse ich schon einen Partner, okay. Aber ein neuer müsste einen ganz schönen Geduldsfaden mit mir haben, von hier bis New York (Katja lacht). Und was ich niemals wieder versuchen werde: mit jemandem zusammen zu ziehen. NO WAY! Ich hätte auch nie gedacht, dass ich mal so werden würde. Aber erst jetzt, kurz vor meinem 50. Geburtstag, bin ich happy.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Illustration: Peter Gericke; Schlussredaktion: Vera Fröhlich