Wer in Brasilien zum Karneval ging, bekam früher vielleicht vom Präsidenten ein Kondom an den Kopf geworfen. Das erzählt mir Ana. Sie kommt aus Brasilien und ist Vergnügungsaktivistin. Was klingt, als würde sie den ganzen Tag in der Achterbahn sitzen und Plakate hochhalten, auf denen „Wilde Maus für alle!“ steht. Sie beschäftigt sich aber (leider) gar nicht mit Achterbahnen, sondern mit Sex. Neben ihrem Job als sogenannter Pleasure activist arbeitet sie als Autorin und produziert sexpositiven Content über sexuelle Gesundheit und sexuelle Bildung. Auf ihrem Instagram-Kanal zeigt sie Sexspielzeug oder erklärt, wie man sich selbst die Brust auf Knoten abtastet. Auf Fotos posiert sie im Bikini oder in Unterwäsche, manchmal auch ganz nackt.
Ana hat braune Haare, große, braune Augen und strahlend weiße Zähne. Wir haben uns zu einem Zoomgespräch verabredet und als sie anfängt zu erzählen, spricht sie konzentriert und bedächtig. Vor sieben Jahren kam sie aus Brasilien nach Berlin – die Stadt, in die viele kommen, um sich auch sexuell auszuleben. Die große Offenheit gegenüber Sex hat aber auch einen Haken: „Es gibt hier so viele Vorurteile über HIV oder STIs (sexuell übertragbare Infektionen, d.A.). Als ich hier ankam, war ich wirklich enttäuscht von der Politik. Ich hatte viel mehr erwartet. Es ist wirklich schwer, sich hier auf sexuell übertragbare Infektionen testen zu lassen.“
Das bestätigt Befürchtungen, die ich schon lange habe. Ich habe Ana kontaktiert, weil mich nicht loslässt, wie groß die Unsicherheit und die Unwissenheit gegenüber HIV in Deutschland sind. Und weil ich mich frage, ob die Heteros hierzulande gerade die gleichen Fehler machen wie die Homosexuellen in den 80er Jahren. Millionen Menschen sind damals weltweit, zu Beginn der Aids-Epidemie, in den 1980ern und 1990ern tragisch und würdelos an Aids gestorben. Es gab keine wirksamen Medikamente. Betroffene schämten sich und hatten Angst. Eine ganze Generation schwuler Männer – einfach weg. Zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember gibt es jedes Jahr Mahnwachen für die Verstorbenen. Dann stehen hauptsächlich queere Menschen im Kreis, sie tragen die rote Solidaritätsschleife, lesen Gedichte oder singen Lieder. Auch ich stehe dabei. Die Sinnlosigkeit des Sterbens berührt mich immer wieder. Es ist das Trauma der queeren Community.
40 Jahre später ist Aids kein Todesurteil mehr. Es gibt wirksame Medikamente. Harmlos ist es deswegen nicht. HIV ist immer noch da. Andere sexuell übertragbare Krankheiten natürlich auch. Vielen Menschen ist das egal. Wenn das Gespräch mit heterosexuellen Bekannten auf das Thema kommt, höre ich immer wieder: Fuck it, wenn was ist, geh ich halt zum Arzt! Oder: Was geht mich HIV an? Als könnten ihnen die Viren nichts anhaben, etwa weil sie nicht schwul sind oder kein Heroin spritzen. Das ist natürlich Quatsch. Ich möchte wissen, woher diese Scheinsicherheit kommt und wie gefährlich sie ist. Dazu habe ich mir Umfragen und Statistiken angesehen, mit Ana, einer Sexualtherapeutin und mit einem Arzt gesprochen. Außerdem habe ich die KR-Community nach Erfahrungen gefragt.
Sexdates für alle
Zwei markante Momente gab es in letzten 40 Jahren, zu denen sich besonders viele Männer, die Sex mit Männern haben, mit HIV ansteckten. Mitte der 1980er Jahre, als HIV ein neues Virus und es noch keine Medikamente und Therapiemöglichkeiten gab. Und dann nochmal ab Anfang der 2000er Jahre, als sich das Internet verbreitete und damit vor allem in der schwulen Community neue Möglichkeiten entstanden. Wer bis dahin andere Menschen aus der Community treffen wollte, oder einfach auf der Suche nach Sex war, musste in Bars gehen oder an öffentlichen Cruising-Orten auf das Beste hoffen. Nun konnte man sich online schnell, anonym und unkompliziert verabreden und offline zum Sex treffen. Das Sexdate war geboren und sorgte neben all der neuen Freiheit erstmal auch für viele zusätzliche HIV-Infektionen, so das Robert Koch-Institut (RKI).
Mittlerweile ist das Sexdate natürlich längst keine explizit schwule Erfahrung mehr, wenn es das überhaupt je war. Aber: Seit ungefähr zehn Jahren gibt es Dating-Apps für alle. Dazu kommen Instagram und andere soziale Medien, die viele Menschen nutzen, um Leute kennenzulernen – auch für Sex. Die sexuelle Revolution ist bei allen angekommen.
Das sah man zuletzt zum Beispiel ziemlich deutlich auf Tiktok: Im vergangenen Jahr haben auf Tiktok viele User:innen ihren sogenannten Body Count in Reels besprochen. Die Zahl gibt die bisherigen Sexpartner:innen an, die man bereits angesammelt hat (früher stand die Bezeichnung für die Anzahl von Todesopfern im Krieg).
Und natürlich ist das Internet voll mit Pornos. Sex ist überall.
Sextoys für alle
Haben wir deswegen heute mehr Sex als in der Generation unserer Eltern, als es keine Hookup-Apps gab und früh heiraten und Kinder bekommen üblich war? Dörte van Benthem Favre, systemische Therapeutin und Paar- und Sexualtherapeutin aus Berlin, ist sich da nicht so sicher. Aber eine klare Veränderung beobachtet sie beim Paarungsverhalten der Menschen in den letzten Jahren: Sex ist präsenter und verfügbarer, es gibt mehr Singles und die polyamore Community wird immer größer. „An HIV und andere sexuell übertragbare Infektionen denken die Menschen, die zu ihr kommen, vor allem dann, wenn sie ihre Beziehung für andere Sexpartner:innen öffnen möchten“, sagt mir van Benthem Favre. „Ich habe aber den Eindruck, dass das auch oft vergessen wird.“
Eine der wenigen guten Quellen, um das Sexleben der Deutschen zu verstehen, ist der „Amorelie Sexreport“. Amorelie ist ein bekannter Händler für Sex-Toys. Die Firma verkauft zu Weihnachten immer einen beliebten Adventskalender mit Anal-Plugs und Handschellen, ihre Vibratoren stehen in Drogerien jetzt so selbstverständlich wie Deos und Sojamilch. In ihrem Sexreport befragt Amorelie einmal im Jahr ca. 2.000 Teilnehmende zwischen 18 und 65 Jahren repräsentativ nach ihrem heterosexuellen Sexleben. 2023 sagten 30 Prozent der Befragten, dass sie mehrmals pro Woche Sex hätten. Bei weiteren 36 Prozent passierte es mehrmals im Monat und bei 4 Prozent sogar täglich. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam die GeSiD-Studie von 2020. Das ist die erste umfangreiche Befragung zu „Gesundheit und Sexualität in Deutschland“. Singles haben laut der Umfrage außerdem weniger Sex als Menschen in einer festen Beziehung und Männer haben in der Regel mit mehr Menschen Sex als Frauen.
Viren für alle
Ich denke an meine sorglosen Bekannten und frage mich, ob mit all diesem Sex auch mehr HIV-Infektionen einhergehen. Ich schaue mir noch mehr Daten des RKI an: Laut dessen letzter Schätzung haben sich 2022 ca. 1900 Menschen in Deutschland mit HIV angesteckt. Knapp die Hälfte davon sind Männer, die Sex mit Männern haben (“MSM” ist dafür die Abkürzung von Epidemiologen): etwa 1.000 Menschen. Die übrigen 900 Infektionen verteilen sich laut RKI auf etwa 370 Drogengebrauchende und etwa 520 Infektionen auf heterosexuellem Weg. Die Infektionen bei MSM sind seit Jahren einigermaßen gleichbleibend und viel weniger als in der Vergangenheit. Die Zahl der Infektionen auf heterosexuellem Weg ist mit kleinen Schwankungen seit Beginn der Statistik gleichbleibend hoch. Seit ein paar Jahren steigen die Infektionen mit HIV in dieser Gruppe aber leicht an. Bei anderen sexuell übertragbaren Krankheiten ist der Effekt deutlicher: Vor allem Chlamydien und Syphilis verbreiten sich seit einigen Jahren wieder stärker.
Ob wir nun mehr Sex haben oder nicht: Klar ist, dass wir uns dabei öfter mit Krankheiten anstecken. Und anders als in der Vergangenheit gilt das besonders für Heteros. Warum?
Eine mögliche Antwort steckt in der GeSiD-Studie. Sie fand heraus, dass fast die Hälfte (44 Prozent bei Männern, 42 Prozent bei Frauen) der Befragten, die angaben, in den vergangenen zwölf Monaten außerhalb ihrer Beziehung Sex gehabt zu haben, dabei kein Kondom benutzt haben. Als Gründe für den Kondomverzicht geben die Befragten am häufigsten an, dass sie sich sicher waren, der oder die Partner:in sei gesund. Und, dass Sex mit Kondom weniger lustvoll sei.
Dabei ist das Kondom laut einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, das beliebteste Verhütungsmittel der befragten 18- bis 49-Jährigen ist. 53 Prozent der Befragten bevorzugen demnach das Kondom. Und zwar weil die Pille, also hormonelle Verhütung, im Verhältnis immer unbeliebter wird. In allen Altersgruppen sinkt die Verwendung der Pille, vor allem bei den 18- bis 29-Jährigen.
Auf der einen Seite soll das Kondom also das häufigste Verhütungsmittel der Deutschen sein und auf der anderen Seite spielt das Kondom beim Fremdgehen bei fast der Hälfte der Menschen keine Rolle. Also dann, wenn es sich tatsächlich anbieten würde, eins zu benutzen. Wir haben also gar nicht mehr Sex, sondern nur mehr ungeschützten?
Aufklärung wie in den 80ern
Ich spreche darüber mit Sven Schellberg. Er ist Arzt und betreibt die Novopraxis in Berlin, eine Praxis mit Schwerpunkt auf sexueller Gesundheit. Zu ihm kommen Menschen, die Fragen zu ihrer Sexualität haben. Die erste Beratung geht oft zurück bis zur Banane aus dem Bio-Unterricht: „Ich habe hier auf meinem Schreibtisch ein Marmeladenglas mit Kondomen stehen. Das steht da nicht nur zur Bedienung. Das steht da, weil wir ganz vielen Leute zeigen müssen, wie man sowas auspackt – die haben keine Ahnung“, erzählt mir Sven Schellberg. Er ist Anfang 50, trägt Glatze, eine markante eckige Brille und einen grauen Bart. Beim Sprechen hört man ein bisschen seinen Kölner Dialekt. „Verhütung beziehen viele nur aufs Kinderkriegen. Das heißt, wir sind mit der Aufklärung wieder da, wo wir in den 80ern auch waren“, sagt Schellberg. Und: „Wenn du in einer Klasse Sexualkunde machen willst, musst du erstmal 23 Seiten Aufklärungsmaterial an die Eltern geben und Unterschriften sammeln, ob jemand zum Beispiel aus religiösen oder anderen Gründen etwas dagegen hat. Und das führt letztlich dazu, dass die Kids gar nichts mehr mitkriegen“, so der Arzt. „Dann haben wir die Situation: die Menschen haben kein Wissen, lassen sich nicht testen und dann verdümpelt die ganze Sache so. Manche haben vielleicht noch Chlamydien und Tripper auf dem Schirm. Wenn ich zu denen dann sage: Dann machen wir auch noch einen HIV-Test, dann gucken die mich an und sagen: Wieso? Brauche ich nicht! Und ich sage: Doch!“
Ärzt:innen, die nicht testen wollen
Weil sich viele Menschen der Risiken einer Infektion nicht bewusst sind, merken sie oft erst sehr spät, dass sie HIV-positiv sind. Manchmal erst viele Jahre später, wenn das Immunsystem schon angegriffen ist. Die Wissenschaft nennt diese Erkrankten „Late Presenter“. Ihr Anteil liegt seit Jahren bei etwa 50 Prozent. Die Hälfte der Diagnosen hätte also schon viel früher gemacht und damit die Symptome auch besser behandelt werden können. Das Problem liegt aber nicht nur bei den Patient:innen. Betroffene erhalten ihre späten Diagnosen sehr häufig bei der gleichen Ärztin oder beim gleichen Arzt, oder in derselben Beratungsstelle, wo sie davor schon waren. Aber niemand hatte sie rechtzeitig auf HIV getestet. Dafür gibt es viele Gründe. Viele Ärzt:innen wissen gar nicht, wie sie HIV-Tests abrechnen sollen. Muss der Patient das jetzt selber zahlen oder geht das so? Und überhaupt, was wissen Ärzt:innen darüber, wie ihre Patient:innen Sex haben? Meistens nicht sehr viel, weil sie nicht danach fragen. So kennt es auch Sven Schellberg. In seine Praxis kommen oft Menschen, die andere schon weggeschickt haben, auch Urolog:innen oder Gynäkolog:innen. Also die Praxen, wo viele hingehen, wenn sie sich um ihre sexuelle Gesundheit kümmern möchten.
Das passt zu den Erfahrungen der KR-Community. In einer Umfrage wollte ich wissen, wie viele der Teilnehmenden schon einmal einen präventiven HIV-Test gemacht haben und wie sie selbst ihr Wissen zu HIV und Aids einordnen. Manche Teilnehmer:innen machten Erfahrungen wie Felix: „Der Arzt meinte, das lohnt sich nicht.“ Ein anderer Teilnehmer antwortete, er sei zu einer Teststelle gegangen und dort sei ihm gesagt worden, ein Test hätte bei ihm keinen Sinn. Und Anna berichtet, ihr sei noch nie ein Test angeboten worden.
Schwule Männer schützen sich besser
Wenn Ärzte selbst interessierten Menschen nicht dabei helfen, sich vor HIV zu schützen, steigt das Risiko für unerkannte Infektionen. Late Presenter werden erst Jahre später in einer Statistik erfasst und hatten dann vielleicht schon jahrelang ungeschützt Sex. Das betrifft häufig ältere heterosexuelle Männer. Aber nicht nur: „Es fängt natürlich schon beim jungen Mann an, der sich durch die Gegend vögelt. Die denken überhaupt nicht daran, dass es ein Risiko geben könnte. Und daran hat sich in den letzten Jahren überhaupt nichts geändert“, so Schellberg.
Viele dieser Männer glauben immer noch, dass HIV und Aids nichts mit ihrer Lebenswelt zu tun haben. Das gefährdet ihre Gesundheit, sagt Sven Schellberg: „In die Aidshilfe oder zum Checkpoint geht halt so ein Heteromann wahrscheinlich nicht, oder?“
Diese Ignoranz kommt sicherlich auch daher, dass überall, wo es um HIV oder STIs geht, immer zuerst von Männern, die Sex mit Männern haben, gesprochen wird. Ausnahmslos jede Statistik, jeder Artikel und jede Infoseite richtet sich zuerst an diese Gruppe. Auch hier oben habe ich die Zahlen so eingeordnet. Der Grund liegt nahe: Sie haben rein statistisch das größte Risiko, sich zu infizieren, weil sie die bereits größte Gruppe unter den Infizierten sind. Das klingt schlüssig, missachtet aber das individuelle Verhalten der Menschen. Jemand, der viele unterschiedliche Sexpartner:innen hat, hat auch ein erhöhtes Risiko, sich mit einer sexuell übertragbaren Infektion anzustecken. Das lesen viele aber nicht aus den jährlichen HIV-Zahlen des RKI (wenn sie überhaupt etwas davon mitbekommen). Sie lesen: Ich gehöre nicht zur Risikogruppe. Das geht mich also nichts an. Glück gehabt!
Dabei hat sich medizinisch viel getan. Eine HIV-Infektion ist heute sehr gut behandel- und kontrollierbar. Eine Therapie kann dafür sorgen, dass das Virus nicht übertragen wird. Und es gibt sogar eine Pille, die bei korrekter Einnahme davor schützt, sich zu infizieren, auch ohne Kondom: die PrEP. Das Medikament wird Menschen mit erhöhtem Risiko für eine HIV-Ansteckung empfohlen, in der schwulen Community ist die Pille sehr bekannt und verbreitet. Schon bevor das Medikament hier in Deutschland verfügbar war, haben sich viele die Tabletten im Ausland bestellt. Viele Heterosexuelle haben hingegen noch nie von PrEP gehört. Auch bei Sven Schellberg in der Praxis sind nahezu alle PrEP-Patienten schwule Männer. Er kennt nur eine Handvoll Frauen, die sich damit schützen. Allerdings hält der Arzt PrEP auch nicht für das geeignete Mittel, um alle vor HIV zu schützen. Das sei viel zu aufwändig. Einfacher sei es, Kondome zu verwenden und sich regelmäßig testen zu lassen.
So ungut es ist, dass die Infektionszahlen steigen: Wir können selbst bestimmen, wie es weitergeht.
Kondome für alle (nicht nur in Düsseldorf)
Anas Heimat Brasilien galt lange als gutes Vorbild dafür, wie sich HIV-Ansteckungen verhindern lassen. Das hat nachgelassen, auch wegen des Konservatismus der ehemaligen Regierung. Die Folge: Die HIV-Zahlen steigen wieder an. Vielleicht verteilt die Regierung also bald wie früher Millionen Kondome auf dem Karneval.
Das gibt es in Deutschland auch: in Düsseldorf. Dort verteilen zum Karneval seit einigen Jahren Taxifahrer Kondome an Fahrgäste. Letztes Jahr waren es 5.000 Stück. Immerhin. Jetzt müssten die Menschen sie nur noch benutzen.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Astrid Probst, Audioversion: Christian Melchert