Die Brandspuren an den Türrahmen sind geblieben. Sie kräuseln sich dunkelgrau auf braunem Holzlack. An dieser einen Stelle im Haus haben Elisa Grobe, Robert Weis und ihre Mitstreiter:innen sich dagegen entschieden, die Überreste des Feuers unsichtbar zu machen. Obwohl der Anschlag auf das selbstorganisierte Jugendzentrum im sächsischen Limbach-Oberfrohna von einem Tag auf den anderen ihr Leben verändert hatte.
Robert Weis und Elisa Grobe, beide Anfang 30, sind in den 2000er Jahren in Limbach-Oberfrohna aufgewachsen. Damals waren sie Punks. Heute tragen sie New-Balance-Sneakers, schwarze Outdoorjacken und Nasenpiercing. Sie wohnen zusammen in einem Haus, das unter den Nazis der Stadt als „Zeckenhaus“ verschrien ist. „Erinnern heißt Kämpfen“ steht über der Eingangstür, in roten Lettern auf schwarzem Grund. In Limbach-Oberfrohna muss man den Slogan wörtlich nehmen.
Hier im Ort gibt es viele Rechtsextreme und wenige Orte, an denen man vor ihnen sicher ist.
Weis ist durchtrainiert und macht Kampfsport. Grobe sitzt für die Linken im Stadtrat. „Wir sind ein gutes Team“, sagt Grobe. Was zum Beispiel heißt: Als neulich ein Neonazi eben diese Eingangstür aufbrach, stellte Grobe sich dem Mann innerhalb von wenigen Sekunden in den Weg und forderte ihn mit erhobener Stimme auf zu gehen. Als das nicht gelang, bugsierte Weis, zwei Köpfe größer als seine Freundin, den Eindringling die Treppe hinunter. So erzählen es die beiden wenige Monate später. „Wir sind abgehärtet“, sagt Grobe, „wir haben viele solcher Situationen erlebt.“
Limbach-Oberfrohna, eine große Kreisstadt im Landkreis Zwickau, schrumpft seit der Wiedervereinigung. Wer Abi gemacht hat, geht – und die meisten von ihnen sind gegangen. Es gibt viele Rechtsextreme und wenige Orte, an denen man vor ihnen sicher ist. Für Schlagzeilen sorgte die Stadt im September 2022, als CDU, AfD und freie Wähler gemeinsam im Stadtrat gegen Stolpersteine für zwei im Nationalsozialismus ermordete Kommunisten stimmten. Grüne, FDP und SPD erhielten bei der Kommunalwahl 2019 jeweils weniger als fünf Prozent der Wählerstimmen. In den 2000ern wollten die „Autonomen Nationalisten Limbach-Oberfrohna“ hier eine national befreite Zone errichten, ganz nach dem Vorbild von Gruppen im Erzgebirge, das hinter den Hügeln der Stadt beginnt.
Seine erste Erinnerung an Neonazis hat Weis aus dem Jahr 2006, da war er 14 Jahre alt: Wenn er aus der Schule kam, pöbelten sie ihn in Bomberjacke und Springerstiefeln auf dem Heimweg an. Manchmal gab es eine Ohrfeige. Iro und bunte Kleidung trug er trotzdem.
An den Wochenenden eskalierte die Gewalt
2009, da war Weis gerade 17 Jahre alt und Grobe 18, kauften sie mit ihrer Freundesgruppe das Haus in der Dorotheenstraße 40. Rund 15 Jugendliche waren sie, 6.500 Euro kostete das Haus. Ein Spottpreis. Sie wollten einen Ort schaffen, an dem sie gemeinsam Zeit verbringen konnten, ohne dass Nazis ihnen das Leben schwer machten. Ihre Eltern legten zusammen, und sie halfen den Jugendlichen beim Renovieren. Mindestens am Samstag, oft auch am Sonntag. Gemeinsam schleppten sie schubkarrenweise Müll aus dem Haus. Sie schlugen den alten Putz von den Wänden. Nach ungefähr einem Jahr waren sie soweit, dass sie ein paar alte Sofas ins Erdgeschoss stellten, so berichten sie es heute. Grobe sitzt wieder auf einem abgewetzten Sofa, Weis hat sich einen Stuhl dazugestellt.
An den Wochenenden eskalierte die Gewalt. Weis erzählt von Situationen, von denen unter dem Hashtag „Baseballschlägerjahre“ eine ganze Generation berichtete. Zum Beispiel: Er läuft eine Straße entlang, plötzlich bremst ein Auto scharf. Vier Typen steigen aus und prügeln mit den langen Knüppeln auf ihn ein, wenn er nicht schnell genug wegrennt.
Dorffeste waren besonders gefährlich. Seine Mutter verbot ihm, aufs Stadtparkfest zu gehen. „Sie wusste ja, warum ich mit zerrissener Hose und blauem Auge nach Hause kam.“ Die Mutter hatte Angst um ihren Sohn. „Die Gewalt auf der Straße war damals roher als heute“, sagt Weis.
Zurück im Jetzt, im Dezember 2023, haben Jugendliche in Orange, Blau, Rosa und Türkis die Buchstaben DORO auf die Seite des Hauses gesprayt, die zur Straße zeigt. Doro 40 ist ihr Spitzname für den Jugendtreff, den es nicht mehr geben sollte, wenn es nach den Neonazis gegangen wäre. Eine Stahltür fungiert heute als Eingangstür. „Ist doch eh alles scheiße“, hat jemand über ein Fenster im ersten Stock geschrieben. Die Hauswand zum Hof ziert ein Delfin, der auf einem Regenbogen schwimmt.
„Ich hatte so ein Gefühl, dass noch irgendwas passieren wird“
Limbach-Oberfrohna ist klein genug, um die Neonazis der Stadt zu kennen, damals wie heute. Grobe und Weis lernten früh, Situationen einzuschätzen. Zum Beispiel an jenem Freitag Mitte November 2010. Auf dem Johannisplatz hatten auffällig viele Autos von Rechtsextremen geparkt, so erzählt es Grobe. Die Jüngeren aus der Freundesgruppe riefen Grobe an, weil ihnen auf dem Heimweg von einer Schulaufführung eine Gruppe Neonazis hinterherlief. Grobe und ihre Mutter fuhren ihnen entgegen und brachten sie mit dem Auto nach Hause. „Ich hatte so ein Gefühl, dass noch irgendwas passieren wird“, erinnert sich Grobe. Am selben Abend stand die Doro 40 in Flammen.
Ein Neonazi hatte sich Zugang zum Keller verschafft und einen Brand gelegt, rund ein Dutzend Menschen schauten wohl zu. Der Brand fraß sich durch die Decke. Die Sofas fingen schnell Feuer, das Erdgeschoss brannte komplett aus. Nur durch Zufall war niemand im Haus. Nutzen konnten die Jugendlichen ihren Treffpunkt nun nicht mehr.
Es war nicht nur die ganze Arbeit, die der Brandanschlag zunichte gemacht hatte. Es seien auch die Gewissheiten weg gewesen: Dass man im Zweifelsfall rennen kann und mit Blessuren davonkommt. Dass es eine Grenze der Gewalt gibt. „Damit hatte niemand gerechnet“, sagt Grobe, „Wir hätten einfach nicht gedacht, dass sie so weit gehen würden.“ Auch, wenn Limbach-Oberfrohna schon damals kein Einzelfall war. Ebenfalls im November hatten Nazis im nordöstlich von Leipzig gelegenen Eilenburg versucht, in einen Jugendtreff einzudringen. Die acht Jugendlichen im Haus verbarrikadierten die Tür, es blieb bei einer zerschlagenen Fensterscheibe und Beschädigungen der Eingangstür. Einige Tage später wurde ein junger Mann im 30 Kilometer entfernten Hainichen nach einem rechtsextremen Übergriff mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Die 2007 verbotene Kameradschaft Sturm 34 nannte das benachbarte Burgstädt ihr Zuhause.
In Limbach-Oberfrohna waren Elisa Grobe, Robert Weis und ihre Freund:innen gemeinsam mit wenigen Linken-Politiker:innen die einzigen, die das Naziproblem der Stadt benannten, schon vor dem Brandanschlag. Indes erklärte die regierende CDU, dass es kein „rechtes Problem“ in der Stadt gebe, und schob die Schuld auf die Jugendlichen: Ein Herbeireden solcher Probleme durch linke Gruppierungen könne dazu beitragen, rechte Gruppierungen von außerhalb anzuziehen. So berichtete es die Chemnitzer „Freie Presse“ im Oktober 2009. Nach dem Brandanschlag dauerte es, bis der Oberbürgermeister endlich benannte, dass die Gefahr von Rechts ausgeht.
Anders die Freundesgruppe um Robert Weis und Elisa Grobe. Sie sprachen mit Zeitungen und Fernsehteams. Plötzlich tauchten die Doro 40 und ihre unerschrockenen Jugendlichen auch in überregionalen Medien auf. An anderen Orten hätte man sie für ihren Mut gefeiert. In Limbach-Oberfrohna seien sie fortan als Nestbeschmutzer behandelt worden, erzählt Grobe. Hajo Funke, Rechtsextremismus-Forscher an der FU Berlin, attestierte der Stadt im Jahr 2012 angesichts brutaler rechter Angriffe auf Punks, verspäteter oder ausgebliebener Hilfeleistung oder gar der Umkehrung der Faktenlage durch die Polizei einen nur
„eingeschränkten Rechtsstaat“. Er vermisse eine klare Positionierung des Oberbürgermeisters zugunsten der alternativen Jugendlichen.
Vor Ort konnten die Jugendlichen auf kaum jemanden zählen, nur auf ihre Eltern. Diese schlossen sich zusammen und fuhren Streife, weil man sich auf die Streife der Polizei nicht verlassen konnte.
Neben Robert Weis türmen sich Cola-, Limo- und Bierkästen. Die Wände im Konzertsaal hat die neue Generation der Doro 40 schwarz gestrichen, hinter der Bar mit Kreidefarbe die Getränkeauswahl an die Wand geschrieben. „Alles auf Soli-Basis“, steht auch dabei. Sprudel, Limo und Bier sind hinter der Theke aufgereiht. Den Raum mit dem Kicker haben sie in Dunkelrot gestaltet, das Zimmer mit den Infomaterialien in Grün. „Damit man auch mal Chillen kann, wenn man gerade keine Lust auf Punk hat“, sagt Weis. Er selbst hat darauf meistens Lust. Mit seiner Band hat er mehr als 400 Punkkonzerte gespielt. Im kommenden Jahr wird sein erster Auftritt in der Doro 40 sein, mehr als ein Jahrzehnt nach ihrer ersten Eröffnung.
Sie haben selbst nicht mehr geglaubt, dass sie es schaffen könnten
Es gab Zeiten, in denen Weis nicht mehr daran geglaubt hat, dass es diesen Moment jemals geben würde. Ja, da seien Menschen gewesen, die sich nach dem Brand an die Seite der Jugendlichen gestellt haben – vor allem das Kulturbüro Sachsen, eine NGO aus Dresden. Aber die Arbeit im Haus konnten sie ihnen nicht abnehmen, die mussten die Jugendlichen selbst machen: Den kürzlich angebrachten Putz von den verrußten Wänden schlagen, die gerade reingestellten Möbel wieder entsorgen. „Alles ist vom Löschen durchnässt, du hast die ganze Zeit kalte Finger, keinen Strom, alle sind genervt und niemand kennt sich aus“, erzählt Weis über die erste Zeit nach dem Anschlag. Die Gruppe arbeitete trotzdem weiter. Aber die schönen Momente fehlten und auch der gemeinsame Treffpunkt, der das Haus gewesen war.
Aus der damaligen Freundesgruppe wohnen nur noch Grobe, Weis und seine Schwester in Limbach-Oberfrohna. „Ich verstehe, dass die anderen nicht unbedingt zum Baueinsatz nach Hause kommen, wenn sie gerade nach Leipzig oder Chemnitz gezogen und die Uni angefangen haben“, sagt Grobe, „die Prioritäten verschieben sich.“ Trotzdem bedeutete das auch, dass die drei plötzlich allein dastanden, mit einem kaputten Haus, ohne ihre Freund:innen und ohne Rückhalt in der Stadt.
Weis ist die Enttäuschung darüber, dass es so kam, noch heute anzumerken. Ob er selbst darüber nachgedacht hätte, die Stadt zu verlassen? Er schüttelt den Kopf. „Wir hatten hier eine Aufgabe, außer uns war niemand mehr da, wir konnten nicht einfach gehen“, sagt er. Sie machten zu dritt weiter. Irgendwann war ihre Aufgabe die Abwicklung. Sie suchten nach Käufer:innen für das Haus.
Niemand wollte die Bruchbude haben. Heute sind sie darüber froh. Zum Glück habe sich damals niemand zurückgemeldet. 2014 eröffneten die drei einen neuen Treffpunkt im Erdgeschoss ihres Wohnhauses: den sogenannten Infoladen. Jeden Mittwoch habe es dort Essen für alle gegeben, auf Spendenbasis. Der Plan funktionierte: Jugendliche aus der Stadt entdeckten den Ort für sich. 2015 kam eine ganze Clique hinzu, 2017 eine weitere. „Die bringen dann jeweils ihre Freund:innen und Geschwister mit“, sagt Grobe. Mehr als 20 junge Menschen mit Lust und Kapazitäten zum Renovieren waren sie im darauffolgenden Jahr. Sie wagten sich an die eingeschlafene Baustelle. Sechs Jahre später und knapp 13 Jahre nach dem Brandanschlag, am 12. August diesen Jahres, eröffneten sie die Doro.
Den ersten Gin Tonic mischen. Den ersten Soundcheck machen. Das erste Mal die Scheinwerfer erstrahlen sehen. Den ersten Akkord des Debütkonzerts hören. Das erste Sterni darauf trinken, dass sie nicht aufgegeben haben. „Das war ein unglaubliches Gefühl“, sagt Weis. „Wir haben es tatsächlich geschafft!“
Es kamen viele Freund:innen von damals. Und der Bürgermeister samt Präventionsbeauftragtem. Das Verhältnis zur Stadt habe sich über die vergangenen Jahre stark verbessert, davon ist Grobe überzeugt. Fest steht: Die Gemeinde hätte die Engagierten finanziell dabei unterstützen können, das Haus wieder aufzubauen. Stattdessen erfuhren Grobe und ihre Mitstreiter:innen erst aus der Baugenehmigung, dass das Jugendzentrum einen Parkplatz mit Wendemöglichkeit brauchte – eine Auflage, die die Kosten in die Höhe trieb.
Durch den Schnee, den Hügel hinauf stapfen Grobe und Weis zu ihrem Wohnhaus. Es liegt nur ein paar Minuten Fußweg von der Dorotheenstraße entfernt. In manchen Fenstern leuchten schon die Weihnachtssterne. So friedlich wirkt die kleine Stadt unter der dicken Schneedecke. Nicht so, als ob sich bei einem der letzten Stadtparkfeste rund 70 Rechtsextreme auf der Straße vor dem Wohnhaus von Weis und Grobe aufgebaut hätten. Flaschen und Steine waren gegen ihr Haus geflogen, erzählen die beiden. Die Woche vor dem Rummel schliefen sie noch immer schlecht.
Es gibt noch zwei andere Jugendtreffs im Ort. Aber sicher vor rechtsextremen Anfeindungen sei man dort nicht, so berichten es die Jugendlichen Grobe. Zu den Abipartys, einem der wenigen Events für junge Menschen in der Stadt, trauten sie sich nicht: „Da kommen halt alle hin, auch die rechtsextremen Jugendlichen.“ Wer auf die Frage, „Bist du Nazi?“, nicht mit ja antworten könne, „der kriegt Stress“. Mindestens verbale Abwertungen seien dann vorprogrammiert.
„Nette Aktionen wie Schwimmen gegen Rechts bringen hier nichts, aber eine konsequente Türpolitik schon“, sagt Grobe. In die Doro kommt niemand rein, der beispielsweise ein Shirt der rechtsextremen Marke Thor Steinar trägt. „Man ist ja nicht nur ein Neonazi, wenn man ein Hakenkreuz auf die Stirn tätowiert hat.“ Die Doro solle kein Ort werden, an dem rechtsextreme Jugendliche sich breit machen könnten.
Es macht Grobe und Weis stolz, dass sie es nun sind, mit denen die Jugendlichen ihr neues zweites Zuhause aufgebaut haben. Und wenn eine Band sie anschreibt und hier spielen will: Dann sagen sie einfach zu. Sie haben ja jetzt Platz. Das Konzertprogramm für den Januar steht schon.
Redaktion: Esther Göbel, Fotos: Franziska Schindler, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversionen: Christian Melchert