Dieser Satz beendet jede Debatte: „Du bist ein Nazi.“ Deswegen müssen wir mit dieser Frage beginnen:
Wer oder was ist ein Nazi?
Ein Nazi ist ein Nationalsozialist. Der Nationalsozialismus (NS), angeführt von Adolf Hitler, hörte mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges offiziell auf zu existieren. Wer auch nach dem Krieg nationalsozialistischen Ideen treu blieb, war ein Altnazi. Immer weniger Menschen haben heute die NS-Zeit noch selbst erlebt, deswegen gibt es auch immer weniger (Alt-)Nazis. Wenn Sie heute also jemanden hören, der einen anderen als „Nazi“ beschimpft, ist die Wahrscheinlichkeit sehr, sehr hoch, dass er Unsinn redet. Wenn Sie diese Bezeichnung auf Facebook lesen, beträgt die Unsinns-Wahrscheinlichkeit fast 100 Prozent, denn wie viele 80- bis 90-Jährige kennen Sie, die die Plattform nutzen – und dort auch kommentieren?
Wie soll ich sonst Menschen nennen, die auf Ausländer und die Demokratie schimpfen und immer noch von „Rassen“ reden?
Tatsächlich hat das Wort „Nazi“ einen festen Platz in der Umgangssprache der Deutschen. Das Wort hilft aber nicht weiter, denn es verschleiert mehr als dass es erklärt, weil es alles, was rechts von der CSU ist, in einen Topf wirft. In diesem Text will ich erklären, dass es da Unterschiede gibt – und herausstellen, warum es wichtig ist, diese Unterschiede zu erkennen. Ich will zeigen, dass die Ideen von Pegida, dem völkischen Flügel der AfD und der neuen Rechten ihren Ursprung in der Weimarer Republik vor knapp 100 Jahren haben und ich will zeigen, was diese Ideen bedeuten.
Es wird in diesem Text um Reflexe, Ressentiments und Rassismen gehen; einige Leser werden sich deswegen über diesen Text ärgern. Vielleicht werden genau Sie sich ärgern. Deswegen will ich Ihnen ein Versprechen abnötigen: Lassen Sie ihrem Ärger freien Lauf, aber hören Sie nicht auf zu lesen. Niemand hat die Position eines Anderen richtig verstanden, wenn er sie nicht selbst vertreten könnte. Oder anders formuliert: Sie müssen sich selbst widersprechen können, und das geht nur, wenn Sie wissen, wie Pegida, AfD und Neue Rechte argumentieren.
Das weiß ich schon und ich finde zum Beispiel die AfD gar nicht so schlecht.
Das ist Ihr gutes Recht. Ich möchte Ihnen nicht vorschreiben, was Sie zu denken haben.
Okay, los geht’s: Warum reden wir eigentlich immer noch von „rechts“ und „links“? Haben diese Begriffe nicht ihre Bedeutung verloren?
Wenn ich Sie jetzt auffordern würde, zehn Wörter aufzuschreiben, die Sie mit dem Begriff „rechts“ verbinden, und zehn Wörter, die Sie mit „links“ verbinden, wären diese Wörter bei jedem von uns ein bisschen unterschiedlich. Was diese Wörter auch wären: voneinander verschieden. Auf der Seite „rechts“ würden sich andere Dinge finden lassen als bei „links“. Es gibt etwas, das jeder Mensch als „rechts“ und „links“ ansieht; deswegen haben diese Begriffe nicht ihre Bedeutung und ihren Wert verloren. Das Problem ist eher, dass die Menschen heute nicht mehr an die gleichen Sachen denken, wenn sie diese Begriffe hören. Was „rechts“ ist und was „links“ ist, ist heute auf den ersten Blick nicht mehr so klar wie etwa in Zeiten der Weimarer Republik, als sich Kommunisten und Nationalsozialisten blutige Saalschlachten lieferten.
Kann man es denn wenigstens umreißen? Welche möglichen Definitionen gibt es?
Diejenige des deutschen Soziologen Armin Nassehi ist mir besonders in Erinnerung geblieben. In seinem Buch „Die letzte Stunde der Wahrheit“ schreibt er:
Wenn man das Rechte auf einen Begriff bringen will, dann ist es eine merkwürdige Konstellation von Gleichheit und Ungleichheit, nämlich Gleichheit nach innen und Ungleichheit nach außen.
Das klingt sehr abstrakt, er meint damit aber eigentlich etwas sehr Einfaches: dass wir Menschen uns mit anderen Menschen zusammentun, die uns ähneln und die wir deswegen als ebenbürtig oder eben als uns gleich empfinden. Menschen, die uns nicht ähneln, können nicht Mitglied dieser Gruppe werden.
Moment mal! Borussia-Dortmund-Fans, Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr und des Lesezirkels, die ähneln sich ja auch – sind die etwa alle rechts?
Natürlich nicht. Der Bezug ist entscheidend. Fan von einem bestimmten Fußball-Verein zu sein, wirkt sich nicht darauf aus, wie ich die Welt politisch sehe. Aber wenn ich mich stark mit meinem Deutsch-Sein identifiziere schon. Kultur und Ethnie, kurzum die Herkunft, sind Dinge, die das Denken von Rechten sehr stark beeinflussen.
Und Linke?
Ich will nicht so stark ins Detail bei den Linken gehen, es ist ein anderes Thema. Aber ein Element ist wichtig: Nassehi beschreibt es als das „Projekthafte“. Linke haben oft eine sehr umfassende Idee davon, wie die Gesellschaft aussehen sollte und wollen sie entsprechend umbauen. Karl Marx, der Theoretiker des Kommunismus, schrieb: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Oder denken Sie an die Liberalen des frühen 19. Jahrhunderts. Das waren zumeist junge Menschen, die davon träumten, einen deutschen Nationalstaat aufzubauen. Das ist wirklich kurios: Die Idee der Nation war einmal etwas Liberales. Heute ist diese Idee rechts angesiedelt.
Aber Hand aufs Herz: Wenn ich jemandem sage, dass er rechts ist, dann wird er nicht verstehen, dass er „Anhänger der Idee einer kulturellen oder ethnischen Gleichheit nach innen und einer Ungleichheit nach außen“ ist. Er wird das als Beleidigung auffassen.
Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. „Ich bin ein Rechter“, ist eine Aussage, die durch die deutsche Geschichte und die darauffolgende Aufarbeitung scheinbar unmöglich gemacht wurde. Jemanden als „rechts“ zu bezeichnen, kommt wohl einer ehrabschneidenden Aussage gleich. Aber es gibt Menschen, für die ist diese Aussage keine Beleidigung, sondern eine einfache Beschreibung. Sie finden es nicht anstößig, rechts zu sein.
Aber es ist anstößig, herrje!
Das ist Ihre Meinung. Es ist aber auch nur eine Meinung. Es gibt Menschen, die sich als Rechte sehen. Es gibt Menschen, die sich als Linke sehen.
Mich stört, dass ich nichts Kritisches über die Flüchtlingskrise sagen kann, ohne als „rechts“ bezeichnet zu werden.
Es gilt auch andersherum. Wenn Sie etwas sagen, von dem andere Menschen denken, dass es „rechts“ ist, dann müssen Sie das erst einmal so hinnehmen. Was sollten Sie auch tun? Darauf bestehen, dass Sie nicht „rechts“ sind? Das ist bei Menschen, die Sie gut kennen, unnötig und bei Menschen, die Sie gar nicht kennen, zwecklos. Schließlich können diese Menschen nicht wissen, wie Sie sich bei anderen Themen positionieren. Es ist sehr gut möglich, in einigen Bereichen eher links zu sein und in einigen eher rechts. Deswegen ist auch nicht zwangsläufig jemand ein Rechter, wenn er die Flüchtlingskrise mit Sorgen betrachtet – wenn er aber aus den Entwicklungen den Schluss zieht, das Asylrecht zu verschärfen, dann ist das zumindest eine rechte Position. Wer sie vertritt, sollte ehrlich genug sein und sich eingestehen, dass es eine rechte Position ist. Das ist aber auch nicht per se verwerflich. Denn es gibt einen Unterschied zu Neo-Nazis oder anderen Menschen, die sich selbst etwa als Neue Rechte bezeichnen: Diese Menschen haben ein sogenanntes geschlossenes Weltbild, das heißt also, dass sie sich bei allen möglichen Fragen rechts positionieren würden. Ab wie vielen rechten Positionen jemand ein geschlossenes Weltbild hat und ein Rechter ist, lässt sich nicht sicher sagen. Sicher ist aber: Es muss mehr als eine Position sein, sonst würde die Unterscheidung keinen Sinn mehr machen.
Sie haben „Nazi“ gesagt!
Ich habe Neo-Nazi gesagt. Und von denen gibt es heute einige Tausend in Deutschland. Es sind Menschen, die den Idealen und Ideen des Nationalsozialismus anhängen, obwohl sie ihn nicht selbst erlebt haben. Neo-Nazis sind zum Beispiel in der NPD vertreten. Auch die NSU-Mitglieder, die zehn Menschen in Deutschland hingerichtet haben sollen, sind welche. Und wenn sie jemandem auf Facebook begegnen, der den Nationalsozialismus preist, sollten sie ihn auch einen Neo-Nazi nennen.
Manchmal denke ich mir, dass man überhaupt nichts über Rechte sagen muss, so allgemein. Man sollte ihnen keine Plattform geben – so wie Sie übrigens hier.
Schließen Sie die Augen und halten Sie sich die Ohren zu. Ist die Welt noch da?
Das passiert auch mit Rechten, wenn man sie ignoriert. Sie verschwinden nicht, und im Moment suchen viele verunsicherte Menschen nach Lösungen – da werden sie sich auch bei den Rechten umschauen. Besser ist, dass diese Menschen vorher genug wissen, um eine gute Entscheidung zu treffen.
Von wem reden Sie eigentlich die ganze Zeit: AfD, Pegida?
Über beide Phänomene werden wir reden. Ich möchte aber noch einen Schritt zurückgehen, raus aus den Schlagzeilen von Dresden, in das Örtchen Schnellroda in Sachsen-Anhalt. Dort gibt es ein Haus, das dessen Besitzer systematisch zum Zentrum einer anderen Bewegung, der Neuen Rechten, aufbauen will. Die Neuen Rechten verstehen sich anders als die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) als intellektuell beschlagenere Elite. Sie wollen die gesellschaftlichen Debatten weniger durch lautstarke Demonstrationen beeinflussen als durch stetiges, unauffälliges Einmischen mit Hilfe kleiner Blogs und Magazine.
Häh? In der Überschrift hast du „Neue” Rechte klein geschrieben. Warum jetzt groß?
Manche benutzen es als Sammelbezeichnung für jede Strömung, die in den letzten Jahrzehnten rechts von der CSU aufgetaucht ist, aber nicht zwangsläufig rechtsextrem ist. Andere wiederum, vor allem Wissenschaftler, benutzen es als Eigenbegriff, der nur für diese Theoretiker verwendet werden sollte.
Wo kamen die Neuen Rechten her?
Die Neuen Rechten sind viel älter als Pegida. Der Franzose Alain de Benoist ist Vordenker der Bewegung, und als ihn der Spiegel 1979 fragte, worin die alten und die neuen Rechten übereinstimmen, antwortete er: „In der Ansicht, mit der sich alle Rechtsstehenden von allen Linken unterscheiden: in der ausdrücklichen Anerkennung der Ungleichheit und Unterschiedlichkeit der Menschen.“
Alle Menschen sind doch auch ungleich und unterschiedlich, oder nicht?
Sind sie das? Vielleicht. Das ist ein anderes Thema. Aber das Wort „ausdrücklich“ ist entscheidend. Eine Gesellschaftsordnung, deren Fundament gezielt auf der Ungleichheit und Unterschiedlichkeit der Menschen aufbaut, wird eine radikal andere Welt hervorbringen als eine Gesellschaftsordnung, die wie die unsere ausdrücklich auf der Gleichheit der Menschen beruht. In jedem Fall ähnelt Benoists Definition von „rechts“ sehr stark der Definition von Nassehi, das ist bemerkenswert, sind die zwei doch völlig unterschiedliche Denker.
Wer zählt in Deutschland zu den Neuen Rechten?
Namen, die immer wieder fallen sind Götz Kubitschek, seine Frau Ellen Kositza, Dieter Stein, Karlheinz Weissmann und Björn Höcke. Es gibt noch mehr, aber diese Personen sind die wichtigsten, um die Entwicklung der neuen Rechten nachzuvollziehen. Sie haben unterschiedliche Posten inne, kennen sich aber alle mitunter schon Jahrzehnte. Sie haben zum Teil direkte Verbindungen zu Pegida und der AfD.
Götz Kubitschek ist 45 Jahre alt, war mal Mitglied der Deutschen Gildenschaft (merken Sie sich den Namen!), einer Studentenbewegung mit „nationaler Überzeugung“, war mal Redakteur bei der Zeitung Junge Freiheit (und diesen Namen!), gründete den Verlag Edition Antaios (nicht so wichtig), heiratete die Publizistin Ellen Kositza und betreibt heute mit ihr das Haus, das ich bereits weiter oben erwähnt habe. Kubitschek hat auf Pegida-Kundgebungen in Dresden und Legida-Kundgebungen in Leipzig gesprochen. Er gilt als Duzfreund von Björn Höcke.
Seine Ehefrau Ellen Kositza begann 1992 für die Junge Freiheit zu schreiben, vor allem über Familien- und Bildungspolitik. Heute allerdings arbeitet sie nicht mehr für die Junge Freiheit, genauso wenig wie ihr Ehemann. Die Gründe sind bemerkenswert – ich werde noch darauf zu sprechen kommen.
Moment! Zweimal ist jetzt bereits der Name Junge Freiheit gefallen. Was ist das für eine Zeitung?
Es ist unmöglich, ein Medium in wenigen Worten zu beschreiben. Um die Zeitung gut kennenzulernen, müssten Sie sie schon lesen, was übrigens immer mehr Menschen manchen. Gegen den Trend konnte die Zeitung mehr als 50 Prozent Auflage zulegen.
Die Junge Freiheit wurde als Schülerzeitung in Freiburg gegründet und entwickelte sich in den folgenden Jahren zur wichtigsten Stimme des stark konservativen, nationalen Milieus. Als Vision beschreibt sie die „Regeneration deutscher Identität“; die Redaktion wolle „konsequent Widerstand gegen alten und neuen Totalitarismus leisten“, zeige sich dem Fortschrittsglauben reserviert gegenüber und widersetze sich der „Gleichheitsutopie“. Viele verschiedene Sozialwissenschaftler haben dem Blatt beschieden, dass es als Scharnier zwischen rechtsextremen und konservativen Diskursen wirke und eine Plattform für neurechte Gedanken sei. In den 1990er Jahren kokettierte die Zeitung damit, eine „rechte taz“ zu sein.
Die Zeitung wird von Dieter Stein geführt. Raten Sie mal, wo er Mitglied war, als er Politik- und Geschichtswissenschaften in Freiburg studierte?
Bei den Deutschen Gildenschaften!
Ja. Schon davor trat er den Republikanern bei, einer rechtspopulistischen Partei, die in den 1980er Jahren einige kleinere Wahlerfolge erzielen, sich aber nicht dauerhaft etablieren konnte. Nach einem kurzen Intermezzo bei einer anderen rechten Splitterpartei, trat er wieder den Republikanern bei, verließ sie aber endgültig 1990. Seitdem er die Junge Freiheit gegründet hat, wirkt er auch als ihr Chefredakteur. Aber seit dem Sommer 2015 gilt Dieter Stein für manche in der Szene als Abtrünniger – obwohl er immer noch die Junge Freiheit leitet, genauer gesagt gilt er für Kubitschek und Kositza als Abtrünniger.
Einer der profiliertesten Autoren der Jungen Freiheit ist Karlheinz Weißmann. Er ist promovierter Historiker und Gymnasiallehrer und war auch Mitglied der Deutschen Gildenschaft. Er gilt als deutscher Vordenker der Neuen Rechten, weil er zahllose Bücher zu deren Ideengeschichte geschrieben hat und 2000 mit dem Institut für Staatspolitik einen neurechten Think Tank gründete, der mit seiner Zeitschrift Sezession, mit Seminaren und Tagungen politischen Nachwuchs heranziehen will. Weißmann stand dem Think Tank lange Jahre vor, legte aber sein Amt im Sommer 2014 nieder.
Warum ist Weissmann denn zurückgetreten?
Sehr wahrscheinlich, weil er sich mit Götz Kubitschek, dem Ko-Chef des Instituts, nicht einig war, wie sie mit der AfD umgehen sollten.
Und warum gilt Dieter Stein manchen als Abtrünniger?
Weil auch er andere Ansichten über die AfD hatte.
Oha. Die neuen Rechten sind also auch keine einheitliche Truppe.
Ja, und das sollten Sie sich merken. Wo Menschen sind, gibt es Konflikt. Das ist eine seichte Erkenntnis, die aber in der alltäglichen Betrachtung oft links liegen gelassen wird und links liegen gelassen werden muss. Nicht jeder journalistische Artikel kann die Länge dieses Beitrages erreichen. (Sie haben übrigens schon 25 Prozent geschafft!)
Aber was war das jetzt mit der AfD?
Profunde Kenner der Szene werden mir an dieser Stelle eine gnadenlose Vereinfachung vorwerfen, aber im Grunde handelt es sich um einen klassischen Richtungsstreit, den alle „neuen“ politischen Bewegungen ausfechten müssen. Bei diesen Streits geht es immer um die Frage, wie weit sich die Bewegung von ihren Idealen entfernen darf, um sich als politisch wahrnehmbare und vor allem von der breiten Gesellschaft potenziell wählbare Kraft zu etablieren. Bei den Grünen kämpften die Fundamentalisten gegen die Realisten („Fundis“ und „Realos“), bei der Piratenpartei diejenigen, die zu jeder politischen Frage einen Standpunkt formulieren wollten, und diejenigen, die sich auf wenige Kernthemen konzentrieren wollten („Vollis“ gegen „Fundis“).
Unter den neuen Rechten gab es, holzschnittartig aufgeteilt, auch zwei Lager: Einige wie Dieter Stein und Karlheinz Weissmann begrüßten die AfD als eine Möglichkeit, die bürgerliche Mitte, die bisher fest in der Hand der Unionsparteien war, zu erobern. Dafür sollte sie sich klar und eindeutig von Neo-Nazis distanzieren. Die anderen um Götz Kubitschek und Ellen Kositza lehnten diesen Weg ab. Sie hatten sich schon in der Vergangenheit immer wieder zugänglich gezeigt für offen faschistische Ideen und Methodiken. So bedachte etwa Kositza einen Aufmarsch der neofaschistischen italienischen Bewegung Casa Pound mit vielen, großen, pathetischen Jubelworten in einem Blogeintrag der Sezession.
Gab es diesen Streit nicht auch in der AfD selbst? Da war doch was mit Frauke Petry und Bernd Lucke.
Ja, da war was – und im Grunde war es ein ähnlicher Streit, wenn auch mit anderen Vorzeichen, da etwa Hans Olaf Henkel oder Bernd Lucke, die beide Vorstand in der AfD waren, keine ausdrücklich neurechte Vorgeschichte haben. Sie waren nicht Mitglied in der Deutschen Gildenschaft oder schrieben für die Jungen Freiheit oder so. Ihr Hauptinteresse galt zu Beginn der EU-Mitgliedschaft Deutschlands und dem Euro. Beides sehen sie, wie viele andere AfD-Mitglieder, vor allem aus ökonomischen und rechtsstaatlichen Gründen kritisch.
Ich kann nicht mehr folgen.
Tut mir leid! Wenn Sie Fragen haben, posten Sie sie in den Kommentaren oder hier auf Facebook. Ich versuche, sie zu beantworten.
Also, Henkel, Lucke & Co sind EU- und Euro-Skeptiker, weil sie glauben, dass die derzeitige Gestalt Europas Deutschlands Wirtschaft schadet und zudem nicht rechtmäßig ist. Sie glauben, dass es Paragraphen in den EU-Verträgen und im deutschen Grundgesetz gibt, die zurzeit nicht eingehalten werden. Es gab aber immer auch einen anderen Flügel in der AfD, der am Anfang eher im Hintergrund blieb und ungefähr 2014 mit Macht auf die nationale Medienbühne drängte. Damals zeichneten sich durch die Ukraine-Krise erste Unterschiede zwischen dem pro-westlichen Lucke und eher Russland-freundlichen Parteimitgliedern ab, die dann Ende des Jahres zu unüberbrückbaren Gegensätzen wurden, als Pegida zum ersten Mal demonstrieren ging. Lucke und Henkel hielten Abstand zu der Bewegung, ihre Parteikollegen Alexander Gauland und Frauke Petry bekundeten öffentlich ihren Beifall. Der NRW-Landesvorsitzende Marcus Pretzell bezeichnete die AfD als „Pegida-Partei“.
Zum offenen Bruch kommt es im März 2015. Der Fraktionsvorsitzende der AfD in Thüringen, Björn Höcke, und der Landessprecher der AfD in Sachsen-Anhalt, André Poggenburg_,_ veröffentlichen die sogenannte Erfurter Resolution, in der die beiden es verurteilen, dass sich die AfD-Spitze von Pegida & Co distanziert hat und die klarmachen soll, wie sich die Partei versteht: „als Bewegung unseres Volkes gegen die Gesellschaftsexperimente der letzten Jahrzehnte (Gender Mainstreaming, Multikulturalismus, Erziehungsbeliebigkeit usf.)“ und „als Widerstandsbewegung gegen die weitere Aushöhlung der Souveränität und der Identität Deutschlands“. Höcke und Poggenburg werden damit zu den Gründungsvätern des völkischen-nationalistischen Flügels der AfD.
Nach dieser Resolution verliert Lucke eine Kampfabstimmung, Frauke Petry wird die neue Vorsitzende der AfD und Björn Höcke nach außen hin einflussreichster Kopf der Partei, nicht zuletzt durch seinen Auftritt in der Talkshow von Günther Jauch.
Daran erinnere ich mich. Als der die Deutschland-Fahne herausholte und…
… und sie über die Stuhllehne legte, haben manche vor dem Fernseher aufgestöhnt, andere gefeixt, aber einige wenige sicherlich wissend genickt. Denn schauen Sie sich die Fahne nochmal genau an:
Ja, eine Deutschland-Fahne…
Schon, aber verkehrt herum. Die Farben sind in der falschen Reihenfolge. Nicht Schwarz-Rot-Gold, sondern Gold-Rot-Schwarz.
Ein Fehler.
Vielleicht. Aber bei den Neo-Nazi-Demonstrationen in sächsischen Heidenau trug ein Teilnehmer auch die Flagge, die verkehrt herum ist. Gold-Rot-Schwarz wird von extremen, nationalistischen Gruppen auch als die wahre Flagge Deutschlands bezeichnet, weil sie auf einer Darstellung des frühen 19. Jahrhundert angeblich so zu sehen sei. Dass diese Farbkombination aufgrund eines damaligen Schriftzuges unmöglich ist, interessiert diese Gruppen nicht. Aber für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass Höcke diesen Zusammenhang nicht kannte?
Und können Sie sich daran erinnern, dass Höcke kürzlich gegen jede wissenschaftliche Vernunft in einer Rede behauptete, dass Menschen in Afrika „andere Reproduktionsstrategien“ haben sollen als Europäer?
Wie könnte ich diese Rede vergessen?
Diese Rede hielt er am Institut für Staatspolitik im sachsen-anhaltinischen Schnellroda, bei einer Tagung im Haus von Götz Kubitschek, dem Verleger, den ich weiter oben schon erwähnt habe. So schließt sich der Kreis.
Wenn Höcke so etwas sagt, steht er dann eigentlich 100 Prozent dahinter?
Welchen Unterschied würde es machen, wenn er das nicht tun würde? Er sagt es, um eine bestimmte Botschaft zu vermitteln. Ob die authentisch ist oder nicht, ist erst einmal zweitrangig. Schließlich definiert ihn als Politiker vor allem, was er öffentlich sagt. Der Politiker Höcke hat es gesagt, also müssen wir es ernst nehmen. Es passt auch im weiteren Sinne zu den Ideen, die kursieren.
Welche denn?
Es gibt drei Ideen, die immer wieder mit unterschiedlicher Intensität in den Schriften der völkischen Denker und bei den Demonstrationen der AfD in Erfurt, bei Pegida, Legida & Co auftauchen: Ethnopluralismus, Anti-Liberalismus, Anti-Parlamentarismus.
Der Begriff des Ethnopluralismus hat für die neuen Rechten den Vorteil, unbelastet zu sein, er klingt harmlos, fast positiv. Denn politischer Pluralismus ist eine Errungenschaft der Demokratie, er bezeichnet das friedliche Nebeneinander völlig unterschiedlicher politischer Meinungen. Hier aber bezieht sich das Nebeneinander auf die Ethnie eines Menschen bzw. auf seine Kultur oder Herkunft. Ethnopluralisten behaupten, dass jeder Mensch eine bestimmte, feste kulturelle und ethnische Identität habe. Wenn Menschen mit verschiedenen Identitäten aufeinandertreffen, komme es unweigerlich zu Konflikten, vielleicht sogar zu Bürgerkriegen. Deswegen sei es besser, die verschiedenen „Kulturen“ zu trennen. Entscheidend für dieses Konzept ist die Annahme, dass die kulturelle und ethnische Identität eines Menschen unveränderbar sei. Der Ethnopluralismus sagt, zu Ende gedacht, dass es erfolgreiche Integration niemals geben kann. Kritiker bezeichnen dieses Konzept als „Rassismus ohne Rasse“: Wo der Rassismus die Biologie anführte, um das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft unmöglich zu machen, führe der Ethnopluralismus die Kultur ins Feld. Der Ethnopluralismus klingt zum Beispiel im Ziel von Höckes Erfurter Resolution wider, die Aushöhlung der „deutschen Identität“ zu beenden.
Aber es gibt immer wieder Ereignisse, die zeigen, dass es verschiedene Kulturen gibt. Das kann, ganz harmlos, von verschiedenen Feiertagen bis hin zu den Kölner Silvesterübergriffen reichen.
Köln! Gut, dass Sie das erwähnen. Für Ethnopluralisten waren die Ereignisse dort ein gefundenes Fressen. Dabei unterlagen sie nur dem sogenannten confirmation bias: Sie sahen ihre eigenen Vorurteile bestätigt.
Wie kann es sein Vorurteil sein, wenn es tatsächlich passiert ist?
Weil das Verhältnis nicht stimmt. In Köln sollen es 80 Täter gewesen sein, insgesamt leben in Deutschland aber Millionen Männer, deren Wurzeln in einem mehrheitlich muslimischen Land liegen. Zudem können sich Einstellungen verändern. Die Neue Zürcher Zeitung schreibt: „Der Kriminologe Christian Pfeiffer hat seit 1998 türkischstämmige Jugendliche befragt, ob ein Mann seine Frau schlagen dürfe, wenn sie ihn betrüge. Stimmten dieser Aussage zunächst 41 Prozent uneingeschränkt zu, so hat sich dieser Anteil bis heute auf 11 Prozent reduziert.“ Ethnopluralisten behaupten, dass so etwas nicht möglich sei.
Ansätze des Ethnopluralismus gehen fast 100 Jahre zurück, auf einen Staatstheoretiker, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert in Deutschland sehr einflussreich war. Sein Name ist Carl Schmitt. Schmitt wurde 1888 in Nordrhein-Westfalen geboren und ist ein Paradox der politischen Theorie. Denn einerseits loben ihn manche als „Klassiker“, andere große Denker bedienen sich freimütig im Baukasten seiner Arbeiten. Gleichzeitig galt Schmitt aber auch als „Kronjurist des Dritten Reiches“, als einer, der den Aufstieg der Nationalsozialisten aus politischen Gründen zunächst ablehnte, dann aber voll auf die Linie der Diktatur schwenkte. Das Bindeglied im Denken Schmitts war aber vor, während, sowie nach Hitler sein Anti-Liberalismus und sein Anti-Parlamentarismus.
Anti-Liberalismus? Ich kenne nur Neo-Liberalismus.
Ganz grundsätzlich: Es gibt zwei Strömungen im Liberalismus. Die eine schaut auf die Freiheit des Marktes, die andere auf die Freiheit des einzelnen Menschen. Gegen beides wenden sich die neuen Rechten, wichtiger für ihr Denken ist aber der Widerstand gegen die Idee von der Freiheit des einzelnen Menschen. Es ist wichtig genau zu sein, sie sind nicht gegen die Freiheit per se. Im Gegenteil spielt bei ihnen „die Freiheit“ auch eine große Rolle. Sie sind gegen die Idee des Individualismus: dass jeder Mensch auf die Welt kommt und bestimme Pflichten, aber eben auch Freiheiten hat.
Wie kann jemand dagegen sein? Das ist doch selbstverständlich.
Denker, die diese Strömung des Liberalismus kritisieren, behaupten, dass die individuellen Freiheiten das Zusammenleben der Menschen stören würden, weil sie erstens gegen die Natur seien und vermeintlich feste und unerlässliche Gruppenstrukturen aufbrechen und zweitens zu einer Wertelosigkeit und einem kulturellen Verfall beitragen würden. Auch dieses Motiv findet sich in der Erfurter Resolution von Björn Höcke, wenn er die „Gesellschaftsexperimente“ und die „Erziehungsbeliebigkeit“ beklagt. Und wenn einer wie Thilo Sarrazin behauptet, dass Deutschland sich „abschaffe“, dann klingt darin die Angst vor dem Untergang und Verfall mit, genauso wie in diesen Zeilen eines Ahnen der Neuen Rechten, Arthur Moeller van den Bruck: „Liberalismus hat Kulturen untergraben. Er hat Religionen vernichtet. Er hat Vaterländer zerstört. Er war die Selbstauflösung der Menschheit.“
Wenn man diese anti-liberalen Ideen mit dem Kerngedanken des Ethnopluralismus zusammenbringt, ergibt sich ein vollständigeres Weltbild. Der Antiliberalismus bedingt die Idee der feststehenden Identität der verschiedenen Völker sogar ein Stück weit. Warum wird in diesem Video aus dem Hollywood-Streifen „Lincoln“ deutlich. Darin erklärt er die Idee der Gleichheit der Menschen.
https://www.youtube.com/watch?v=SPiw7bKwL2M
Euklids erstes Axiom ist dieses hier: “Dinge, die demselben gleich sind, sind auch einander gleich.“
Lincoln spricht davon, dass die Menschen vor Gott gleich seien und deswegen einander gleich seien. Ersetzen Sie „Gott“ durch „Verfassung“ und Sie haben eine der zentralen, politischen Ideen der Bundesrepublik Deutschland verstanden. Denn wenn die Menschen einander gleich sind, kann kein Mensch eine Herrschaft über den anderen mit der „Natur“ oder ähnlichen Sachen begründen. Konsequent zu Ende gedacht, mündet diese Idee in den ersten Paragraphen des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Lincoln weiter:
Wir beginnen mit Gleichheit. Das ist der Ursprung, oder? Das Gleichgewicht, die Fairness. Das ist Gerechtigkeit.
Dagegen wenden sich die neuen Rechten, wenn sie behaupten, dass Menschen aus verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich sind.
Aber ein Mensch, der in Uganda geboren wird und lebt, kann doch nicht die gleichen Rechte und Pflichten wie ein Mensch haben, der in Deutschland geboren wird und lebt!
Das ist eine sehr interessante Frage, über deren Antwort sich viele kluge Köpfe uneinig sind. Wichtig für uns ist: Die neuen Rechten streiten ab, dass der Mensch aus Uganda die gleichen Rechten und Pflichten wie der Mensch aus Deutschland haben kann, sobald er Deutschland betritt. Erfolgreiche Integration, Wechsel der Staatsbürgerschaft ist in ihrem Weltbild nicht vorgesehen. Deswegen lehnen sie Einwanderung ab.
Der Anti-Parlamentarismus schließlich bildet die letzte Zutat, die wir brauchen, um das Denken der neuen Rechten zu verstehen. Er bildet auch den Schlüssel für manche der bizarreren, sprachlichen Bilder, die in letzter Zeit immer wieder auftauchten: „Merkel-Diktatur“, verbunden mit dem Wunsch nach einer „echten Demokratie“ sowie die Warnung vor dem „Bürgerkrieg“.
Den Anti-Parlamentarismus hat Carl Schmitt wohl in seiner reinsten Form vertreten. Er ist einfach zu erklären: Er lehnt die Vertretung der Bevölkerung durch gewählte Repräsentanten ab, weil diese unfähig seien, den „Willen des Volkes“ zu kanalisieren. Carl Schmitt verglich Faschismus und Liberalismus: „Dass der Faschismus auf Wahlen verzichtet […], ist nicht etwa undemokratisch, sondern antiliberal und entspringt der richtigen Erkenntnis, dass die heutigen Methoden geheimer Einzelwahl alles Staatliche und Politische durch eine völlige Privatisierung gefährden, das Volk als Einheit ganz aus der Öffentlichkeit verdrängen (der Souverän verschwindet in der Wahlzelle) und die staatliche Willensbildung zu einer Summierung geheimer und privater Einzelwillen, das heißt in Wahrheit unkontrollierbarer Massenwünsche und -ressentiments herabwürdigen.“
Für Schmitt bilden Demokratie und Diktatur keinen Gegensatz: „Es kann eine Demokratie geben ohne das, was man modernen Parlamentarismus nennt, und einen Parlamentarismus ohne Demokratie; und Diktatur ist ebenso wenig der entscheidende Gegensatz zur Demokratie wie Demokratie zur Diktatur.“ Autoritäre Herrscher von links wie rechts greifen diesen Gedankengang auf, wenn sie behaupten, dass sie den Willen des Volkes verkörpern würden.
Naja, das sind aber immer nur Lippenbekenntnisse, ganz offensichtlich.
Das sagen Sie. Aber manche Menschen glauben das wirklich, auch heute noch. Unterschätzen Sie das nicht. Etwas übersehen sie dabei aber bei ihren Verteufelungen der parlamentarischen Demokratie – und es ist in meinen Augen entlarvend.
Was denn?
Dadurch, dass sie so viel Mühe darauf verwenden zu behaupten, dass eine Demokratie auch ohne Wahlen und Parlamente existieren kann, beweisen sie doch letztlich das Gegenteil. Denn, wenn es selbstverständlich wäre, müssten sie es nicht erst wortreich darlegen. Es ist ein bisschen wie ein Kind, dass immer wieder beteuert, dass es nicht vom Kuchenteig genascht hat – und sich dadurch verrät.
Okay. Ethnopluralismus, Anti-Parlamentarismus und Anti-Liberalismus. Das sind alles ziemlich klare Konzepte. Vertreten alle bei Pegida, AfD und den neuen Rechten diese Sachen?
Nein. Definitiv nicht. Wir müssen genau hinschauen. Die Zerwürfnisse in der AfD, bei Pegida und auch bei den elitären Denkern der neuen Rechten zeigen, dass es unterschiedliche Strömungen gibt – die aber zum Teil mit den gleichen Denkfiguren arbeiten.
Denkfiguren?
Bestimmte Argumente finden sich in verschiedener Ausprägung immer wieder bei allen Akteuren. Entschuldigen Sie bitte diesen allzu abstrakten Satz, aber konkreter kann ich nicht werden, ohne am Ende falsch zu liegen – und ohne am Ende einem Mythos aufzusitzen, den einer der wichtigsten historischen Denker der neuen Rechten in die Welt gesetzt hat: dass es eine einheitliche Rechte gebe, dass es eben keine Unterschiede gebe.
Armin Mohler heißt dieser Denker und er hat 1949 ein Buch veröffentlicht, das er lapidar „Konservative Revolution“ nannte und zu einem Standardwerk in der Szene wurde. Der oben bereits erwähnte Karlheinz Weissmann hat das Buch überarbeitet und eine neue Auflage herausgebracht. Mit seinem Buch verfolgte Mohler einen klaren Zweck: Er will zeigen, dass es eine Tradition des konservativen Denkens gibt, das vom Nationalsozialismus unberührt geblieben ist, mehr noch, dass sogar einige von ihnen verfolgt wurde. Den Begriff der „Konservativen Revolution“ bezeichnen Historiker wie Volker Weiß von der Universität Hamburg jedoch als „Schutzkonstruktion“. Sie haben zwei entscheidende Argumente: Erstens werfe Mohler wahllos Geopolitiker, humanistische Katholiken, Gegner und Parteigänger Hitlers in einen Topf und stelle sie als eine einheitliche Bewegung dar, obwohl das ganz augenscheinlich nicht möglich sein kann. Zweitens haben die ganzen verschiedenen Menschen kein einheitliches Verhältnis zum Nationalsozialismus. Manche emigrierten, manche wurden tatsächlich verfolgt und manche versuchten sich gemein zu machen mit dem System wie etwa Carl Schmitt oder Mohler selbst, der als Schweizer versuchte, der Waffen-SS, einer militärischen Elitetruppe im Dritten Reich, beizutreten.
Wen zählt den Mohler zur „Konservativen Revolution“?
Dutzende! Schauen Sie sich einfach mal das Inhaltsverzeichnis an, es sieht wie ein Personenregister aus:
Ein paar Namen sind aber wichtiger als andere: Etwa Edgar Julius Jung, ein rechter Katholik, der in der Demokratie die „Herrschaft der Minderwertigen“ sah und das Kommando bei der Ermordung eines politischen Gegners führte. Oder Arthur Moeller van den Bruck, der 1923 das Buch „Das Dritte Reich“ veröffentlichte, ein völkisches Werk, das einen deutschen Staat skizzierte, in dem eine kleine Elite ohne Parteien und ohne Ausländer und Juden regieren sollte. Darin wandte er sich auch gegen die USA und ihren Liberalismus und warb für eine Ausrichtung gen Osten, gen Sowjetunion. Goebbels und Hitler umwarben van den Bruck, er solle der Partei beitreten. Aber der lehnte ab: „[Hitler] verstand nicht, seinen Nationalsozialismus geistig zu unterbauen.“ Wenige Jahre nachdem er das sagte, starb van den Bruck. Die Machtergreifung Hitlers erlebte er nicht mehr.
Dieser van den Bruck verdeutlich sehr gut, warum die „Konservative Revolution“ für die neuen Rechten so wichtig ist. Sie ist wie ein Denkmal, das nie gebaut wurde, aber in ihren Köpfen einen festen Platz hat. Sie ist eine Konstruktion, die ihnen ermöglicht, zu denken wie sie denken, ohne sich deswegen mit dem Nationalsozialismus in eine Linie stellen zu müssen.
Dabei gibt es eine starke Gemeinsamkeit zwischen Hitler und van den Bruck, Jung oder einem gewissen Oswald Spengler, der mit seinem Buch „Untergang des Abendlandes“ eine Parole prägte, die heute noch jeden Montag bei den Pegida-Demonstrationen in Dresden widerhallt. Die Denker der Konservativen Revolution und die Nationalsozialisten schauten mit Bewunderung nach Italien, wie der Historiker Volker Weiß in diesem Text darlegt. Dort hatte Benito Mussolini 1925 begonnen, eine faschistische Diktatur aufzubauen.
Lässt sich beweisen, dass die neuen Rechten von heute auf diese Denker von damals zurückgriffen?
Ja, zum Beispiel kamen sie am 7. Mai 2011 am Grab von Oswald Spengler zusammen, um dessen 75. Todestag zu begehen. 2011 war eine Ausgabe der Sezession der Zeitschrift des Instituts für Staatspolitik der „Konservativen Revolution“ gewidmet. Die „Bibliothek des Konservatismus“, die explizit mit ihrer Sammlung zur „Konservativen Revolution“ wirbt, wird von einer Stiftung getragen, der Dieter Stein vorsteht. Und einschlägige Facebook-Seiten teilen Sprüche von van den Bruck, in denen er den Liberalismus geißelt und über Afrika sagte: „Das Tier im Menschen kriecht heran. Afrika dunkelt in Europa herauf. Wir haben die Wächter zu sein an der Schwelle der Werte.“
Aber, wenn ich mir die Like-Zahlen dieser Facebook-Posts anschaue… besonders viele sind das nicht.
Aber schauen Sie sich das Afrika-Zitat nochmal an. In welchem Kontext müssen wir das verstehen, wenn es Mitte September 2015 gepostet wurde, zwei Wochen nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel meinte: „Wir schaffen das“?
Flüchtlinge!
Das muss man annehmen – und dieses Zitat von diesem Mann zu dieser Zeit ist symptomatisch für das Vorgehen der neuen Rechten. Sie versuchen Ängste, Sorgen, aber auch Ressentiments der bürgerlichen Schichten zu nutzen, um ihre Ideologie zu verbreiten und diese Menschen für ihre Politik zu gewinnen. Vor allem vermeintliche „Tabu-Themen“ spielen bei dieser Strategie eine sehr große Rolle. Schließlich können sich Neurechte, AfD, Pegida & Co bei diesen Themen als Verfechter der Wahrheit inszenieren und so Sympathiepunkte bei Menschen einsammeln, die mit plumpen Sprüchen nicht zu bekommen wären.
Das ist auch so etwas, das ich nicht verstehe. Wie können so viele immer behaupten, dass sie gewisse Dinge in Deutschland nicht sagen dürfen und dann sagen sie es tausendfach, ohne Probleme, sogar in großen reichweitenstarken Medien und Bestsellern?
Ich kann sehr gut verstehen, wie Menschen auf den Gedanken kommen, dass sie in Deutschland nichts mehr sagen dürfe. Durch die sozialen Medien kann jeder Meinung von potenziell Hunderten halbbekannten, wildfremden, verhassten, längst vergessenen Menschen widersprochen werden. Die Summe des Widerspruchs kann einem vorkommen wie ein Maulkorb, dafür muss man aber auch besonders uneinsichtig sein. Dazu kommt, dass auch die traditionellen Medien nicht völlig wertfrei berichten, wie auch? Eine taz ist anders als eine Frankfurter Allgemeine. Aber Widerspruch und die grundsätzliche Existenz anderer Meinungen haben doch nichts mit Tabus zu tun, oder? Das ist ein logischer Sprung, der nicht schlüssig ist. Schließlich kann Widerspruch nur dort erfolgen, wo überhaupt eine Meinung vorgetragen werden konnte. Diesen logischen Sprung machen aber viele und deswegen ist die vermeintliche Dominanz der „politischen Korrektheit“ ein Grund für die Attraktivität der neuen Rechten.
Es gibt aber noch eine zweite Komponente: Die Rede von den Tabus und den Sprechverboten erhöht die Position des Sprechers. Um diesen Zusammenhang zu verstehen, müssen wir uns kurz in jemanden hineinversetzen, der so ein vermeintliches Tabu bricht: Er glaubt, eine Grenze zu überschreiten und damit der Allgemeinheit zu dienen - die genauso denkt wie er, sich aber nicht traut, es auszusprechen. Er kann von sich das Bild eines Menschen zeichnen, der weise genug ist, die Wahrheit zu erkennen, sich aber auch als ein Mensch der Tat geben, der mutig genug ist, Verletzungen zu riskieren, um diese Wahrheit auszusprechen. Er ist zunächst Held – und wird in dem Moment, in dem ihm widersprochen wird, zum Opfer. Denn die Gegner sind gigantisch, der Kampf deswegen unfair. Hier David, der einsame Facebook-Kommentator, dort Goliath, die Mainstream-Medien.
Diese Opferposition ist essenziell für die neuen Rechten. Ohne sie hätten sie zwar ein Programm, aber kein Ziel. Denn ihre Ideen speisen sich aus der Vergangenheit, sind oft deckungsgleich mit dem, was konservative Theoretiker vor 100 Jahren schrieben. Darauf aber lässt sich keine politische Bewegung gründen – welcher Mensch von heute will für die Ideale von 1920 streiten? Was aber, wenn sie diesem Menschen glaubhaft machen können oder er selbst erfährt, dass das ihm Eigene in Gefahr sei, möge es sein „Deutsch-Sein“ sein, seine Heimat, seine Landsleute, seine Religion, seine Kultur oder auch seine Wahrheit? Was, wenn diese Grundfesten erschüttert werden oder sie das letzte sind, was einem bleibt?
Dann beginnt der Kampf zu ihrer Verteidigung. Die Gegner müssen besiegt werden. Dann plötzlich haben die neuen Rechten ein Projekt – genauso wie es die Linken immer hatten und mit ihren Revolutionen durchsetzen wollten.
Dieser elegante, sehr klare Gedankengang stammt wiederum von Armin Nassehi und er erklärt die Opferstilisierung wie kein zweiter. Sie hat neben dem offensichtlichen Effekt der Mobilisierung auch noch einen zweiten: Sie schafft Sympathie. Wer würde nicht die Schwachen verteidigen gegen die Starken?
Jeder will das. Wenn es einen universalen Wert gibt, dann diesen - jedenfalls bei anständigen Menschen.
Dabei ist Camouflage Teil der Taktik. 1973 erschien in einer argentinischen Zeitschrift, die der ehemalige Adjutant von Goebbels herausgab, diese in ihrer Klarheit völlig unzweideutige Überlegung: „Wir müssen unsere Aussagen so gestalten, dass sie nicht mehr ins Klischees des ,Ewig-Gestrigen‘ passen. Eine Werbeagentur muss sich auch nach dem Geschmack des Publikums richten und nicht nach dem eigenen. Und wenn Kariert Mode ist, dann darf man kein Produkt mit Pünktchen anpreisen. Der Sinn unserer Aussagen muss freilich der gleiche bleiben. Hier sind Zugeständnisse an die Mode zwecklos. In der Fremdarbeiter-Frage etwa erntet man mit der Argumentation, ,Die sollen doch heimgehen‘ nur verständnisloses Grinsen. Aber welcher Linke würde nicht zustimmen, wenn man fordert: ,Dem Großkapital muss verboten werden, nur um des Profits willen ganze Völkerscharen in Europa zu verschieben. Der Mensch soll nicht zur Arbeit, sondern die Arbeit zum Menschen gebracht werden.‘ Der Sinn bleibt der gleiche: Fremdarbeiter raus! Die Reaktion der Zuhörer aber wird grundverschieden sein.“
Mit solchen Taktiken wollen Neue Rechte den „vorpolitischen Raum“ erobern, jenen Raum, in dem es nicht um die ganz konkrete Gestaltung unseres Gemeinwesens geht, die jeder Bürger sofort spüren würde, sondern um vermeintlich harmlosere Themen wie „Kultur“. Sie wollen das Feld bereiten - für eine reiche Ernte in der Zukunft. Sie nennen das „Metapolitik“, und diese Taktik haben sie sich übrigens von einem berühmten italienischen Marxisten abgeschaut.
Faschismus, Marxismus, Hauptsache Italien! scheint für sie zu gelten. Aber so lange sie nur reden…
Natürlich, so lange sie nur reden, ist es ungefährlich. Aber diese Reden sind die Vorstufe der Politik. Armin Nassehi hat in einem Briefwechsel mit Götz Kubitschek die entscheidende Frage so formuliert: „Ich frage mich, was denn die politischen Konsequenzen Ihrer Denkungsart wären. Wie viel Pluralität ist dann denkbar? Mit welchen Mitteln ließe sich so etwas wie eine stärkere Homogenität des kulturellen Zuschnitts einer Gesellschaft erreichen? Wie verträgt sich das mit der liberalen Idee der unhintergehbaren Wertigkeit der einzelnen Person?“
Nassehi war zu höflich, es auszubuchstabieren, deswegen tue ich es: Wer die „deutsche Identität“ schützen will und die politische Macht bekommt, dies auch zu tun, wird zunächst einmal definieren, wer Deutscher ist und wer nicht. Er wird sortieren.
Das macht die Bundesrepublik doch auch. Im Grundgesetz steht: „Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.“
Ja. Deutscher ist, wer Staatsbürger Deutschlands ist. Deswegen würden Menschen, die in diesen Traditionslinien denken, zunächst verhindern wollen, dass Menschen mit Migrationshintergrund Deutsche werden. Aber was machen sie dann mit Hassan, der in Meppen geboren ist, oder mit Yasin aus Stuttgart, wenn beide bereits den deutschen Pass haben? Der Logik der neuen Rechten nach dürften diese Menschen nicht die gleichen Rechten und Pflichten haben wie Menschen mit „deutscher Identität“. Wenn sie aber nicht die gleichen Rechte und Pflichten haben wie andere Bürger auch, werden sie zu Bürgern zweiter Klasse. Sie werden ganz offiziell, von Staats wegen, diskriminiert werden. Ist ein Staat, der manche seiner Bürger per Gesetz diskriminiert, ein gerechter Staat? Ist das ein guter Staat?
Aber das will doch niemand in Deutschland. Nur die paar Verrückten vom rechten Rand denken und argumentieren so.
Es stimmt: Nur die ganz Radikalen denken diese Dinge zu Ende und legen sich entsprechend ihr Weltbild zurecht. Aber die Ressentiments, an die sie anknüpfen, die gibt es in Deutschland. Die Forscher Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler untersuchen alle zwei Jahre, wie stark antisemitische, ausländerfeindliche und ähnliche Denkfiguren in Deutschland verbreitet sind. Das sind die Ergebnisse:
Es gibt eine bestimmte Gruppe von Menschen in Deutschland, die anfällig ist für antisemitische und ausländerfeindliche Botschaften. Sie stellt aber nicht die Mehrheit und sie ist weit davon entfernt, über den völkischen Flügel der AfD oder eine andere politische Bewegung die Macht zu übernehmen - trotz der ganzen Diskussionen im Zuge der Flüchtlingskrise. Und die neurechten Denker wissen das auch.
Da können wir den Text jetzt hier beenden. Ist ja auch schon lang genug.
Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so lange aufhalte. Eine Sache ist wirklich noch wichtig: das Gerede vom „Bürgerkrieg“, der Deutschland durch Flüchtlinge oder wahlweise radikale Islamisten drohe. Darüber müssen wir sprechen.
Denn diese Diskussionen werden mit vollem Ernst geführt. Focus Online befragte dazu fünf „Experten“, ein CDU-Mitglied äußerte diese Sorge. Und selbst der Vorstandsvorsitzende des Axel Springer Verlages, Matthias Döpfner, war sich nicht zu schade, das Wort in den Mund zu nehmen. Sie alle spielen damit der neuen Rechte in die Hände.
Eine miese Unterstellung!
Nein. Einer der berühmtesten Sätze Carl Schmitts lautet: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Den Ausnahmezustand kann ein Staat nur in Notsituationen verhängen, zum Beispiel bei offenen gewalttätigen Auseinandersetzungen auf seinem Territorium, bei einem Bürgerkrieg. Wer ihn beschwört, schafft die Grundlage für einen direkten, tiefgreifenden Zugriff des Staates. Oder wie Nassehi schreibt: „Schmitts Sentenz, souverän sei, wer über den Ausnahmezustand verfüge, macht aus der Gesellschaft eine politische Gesellschaft, die sich dann aus einem Guss steuern ließe.“
Okay. Mal blöd gefragt: Wie soll denn ein „Bürgerkrieg“ zwischen Migranten und Deutschen stattfinden, wenn die Migranten gar keine „Bürger“ sind.
Ja, das ist eine gute Frage, vielleicht etwas haarspalterisch. Sie zielt aber in die richtige Richtung: Wer sollte denn diesen Bürgerkrieg mit den Migranten führen?
Sicher ist, dass an ihm die extremen und radikalen Kräfte der Rechten beteiligt wären, also auch Neo-Nazis. Die Geschichte hat gezeigt, dass Vordenker nur selten zur Waffe griffen – auch wenn sie mit der Gewalt flirten. So schreiben etwa die neurechten Autoren des Buches „Junges Europa“: „Die Ausweglosigkeit der Situation in Deutschland und Europa führt kritische Geister unweigerlich zu schweren persönlichen Gewissensentscheidungen: Bleibt nur noch der Weg in die Illegalität, weil der eigene Staat und die EU sich selbst nicht mehr an Recht und Gesetz halten?“ Dieser Gedanke findet ein Echo auf dem zehntausendfach auf Facebook geteilten Spruch „Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“
Die neurechte Politik bräuchte den Ausnahmezustand, um zu wirken. Ihre Vordenker sehnen ihn geradezu herbei. Götz Kubitschek selbst bringt es im Briefwechsel mit Armin Nassehi auf den Punkt: „Und ich bin mir – das wird Sie nicht verwundern – sicher, dass in Zeiten der Not und des Mangels, der Bedrohung und der Verteidigung des Eigenen recht schnell entlang ethnischer, kultureller, auch staatsbürgerlicher Linien klar wird, wer ‘Wir’ und wer ‘Nicht-Wir’ sei.“
So elegant formuliert die AfD allerdings nicht. Sie veröffentlicht dieses Bild auf Facebook:
Die stellvertretende Bundessprecherin der AfD erklärt:
„Die Kanzlerin stürzt unser Land derart ins Chaos, dass nicht nur die Bürger anfangen sich zu bewaffnen, sondern dass die Polizei öffentlich - im wahrsten Sinne - Schützenhilfe leistet. Die bald Ex-Kanzlerin Merkel ruiniert unser Land, wie es seit ’45 keiner mehr getan hat. Der Platz in unseren Geschichtsbüchern ist ihr sicher. Und ich nehme Wetten an: wenn sie bald zurücktritt, wird sie das Land verlassen. Aus Sicherheitsgründen. [Hervorhebungen durch Redaktion]“
Gewalt, Unruhe, Kampf, Chaos, Krieg. Das nützt ihnen, deswegen beschwören sie es.
Und Pegida? Von denen habe ich auch schon lange nichts mehr gehört.
Gibt es noch, aber die Demonstrantenzahlen stagnieren auf mittelhohem Niveau zwischen 3.500 und 5.500 Teilnehmern. Weit entfernt von den 25.000, die sie mal auf die Straße gebracht haben.
Wo kam Pegida her?
Von Facebook. Wortwörtlich. Es startete als Facebook-Gruppe und endete als Demonstration auf der Straße.
Was ich nie begriffen habe: Warum habt ihr Journalisten Pegida so viel Aufmerksamkeit geschenkt? Ich meine: Die Demo gegen TTIP am 10. Oktober 2015 war größer, viel größer. 200.000 Menschen nahmen daran teil.
Dafür gibt es nicht nur einen Grund. Es sind viele Punkte zusammengekommen. Aus meiner Sicht:
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Pegida demonstriert regelmäßig. Eine Demo an einem Samstag kann jede Redaktion mal verpassen. Bei Demos jeden Montag schickt auch die verpennteste Redaktion irgendwann einen Reporter vorbei.
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Pegida demonstriert gegen die Islamisierung des Abendlandes. Ein Thema, das auf den ersten Blick so bizarr wirkt, ist medial gesehen reizvoll, hätte aber immer noch keine Berichterstattung verdient, wenn nur ein paar Demonstranten gekommen wären.
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Aber zu Pegida kamen Tausende, dann Zehntausende. Dass die Demozahlen ausschlaggebend waren für die Berichterstattung, lässt sich sehr schön in dieser Grafik sehen. Darin habe ich die Zahl der Teilnehmer mit der Zahl der Nachrichtenartikel abgeglichen, und ab 10.000 Teilnehmern haben immer mehr Redaktionen berichtet.
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Zuletzt: Das Publikum hat sich für Pegida interessiert. Eine Zeit lang gab es an deutschen, vor allem ostdeutschen Esstischen kein anderes Thema mehr. Das ist wichtig, weil es erklärt, warum die Redaktionen drangeblieben sind.
Warum unternimmt der Staat eigentlich nichts gegen Pegida & Co?
Warum sollte er? Wenn Pegida & Co sich an die Gesetze halten, gibt es keinen Grund. Dort, wo etwa die Straftat der Volksverhetzung im Raum stand, haben die Staatsanwaltschaften auch ermittelt.
Aber es gab doch noch andere Demonstrationen. Ich erinnere mich an irgendwelche Mahnwachen.
Ja! Sie fanden 2014 und Anfang 2015 im ganzen Land statt.
Der Sänger Xavier Naidoo war auch bei einer dabei:
Diese Mahnwachen starteten, als sich die Ukraine-Krise im Frühjahr 2014 zuspitzte. Sie sind für uns interessant, weil sie eine auf den ersten Blick linke Agenda mit durchaus rechten Parolen verbanden.
Linke Rechte?! Rechte Kommunisten?
Wir betreten nun den Bereich der sogenannten Querfront. Damit werden Netzwerke und Bündnisse bezeichnet, die sowohl Elemente von rechts wie links beinhalten. Von rechts kann zum Beispiel die Betonung des Nationalen kommen, von links zum Beispiel die Betonung des Sozialen.
National-Sozialismus?!
Nationalsozialismus, kurz NS.
Aber auf den Mahnwachen waren keine Nazis. Sie haben am Anfang selbst geschrieben, dass es die nicht mehr gibt.
Das stimmt. Ich wollte auch nicht andeuten, dass auf den Mahnwachen Nazis sind. Allerdings waren etwa in Berlin auch bekannte Neo-Nazis bei den Mahnwachen dabei. Es wäre falsch, alle Mahnwachen über einen Kamm zu scheren, aber unter den Tisch fallen lassen kann ich die Information auch nicht.
Wer nahm denn an den Mahnwachen vor allem teil?
Mitglieder der Linkspartei, der Piratenpartei und generell viele friedensbewegte Menschen.
Für Frieden zu sein, kann nicht schlecht sein!
Das stimmt. Auf den Mahnwachen wünschten sich manche Teilnehmer tatsächlich nur Frieden und wehrten sich gegen jegliche Vereinnahmung. Andere wiederum nutzten die Rednerbühnen, um ihre Sicht auf die Welt darzulegen. Sie sagten dabei manchmal Dinge, die Beobachter als judenfeindlich und nahe an Verschwörungstheorien einordnen würden. Der Star dieser Mahnwachen war Ken Jebsen, ein Publizist, der behauptet, dass die Terroranschläge vom 11. September von der US-Regierung inszeniert worden wären, sich zweideutig über Juden äußert und nicht viel von der Demokratie hält: „Mein Vorbild ist die Natur. Im Wald gibt es keinen Krieg. Und die Zugvögel, die schaffen es jedes Jahr nach Afrika. Wenn die das demokratisch organisieren würden, kämen sie nur bis Sylt. Nein, die kommen bestens ohne Demokratie zurecht.“ Jebsen legt großen Wert darauf, nicht mit Rechten in einen Topf geworfen zu werden. Er schrieb lange für das Magazin von Jürgen Elsässer, einem ehemaligen Linken, der heute bei Pegida und Legida spricht – weswegen sich Jebsen auch von ihm distanzierte. Das Magazin heißt „Compact“. Schauen Sie auf die Titelgeschichten und Spezialhefte des Magazins. Da Magazine immer die Themen auf die Titelseite heben, von denen sie sich mehr Verkäufe versprechen, sind Titelseiten ein gutes Zeichen für die angestrebte Leserschaft:
Und liest das jemand?
Ja. Genauso wie Junge Freiheit verzeichnet auch dieses Magazin eine steigende Auflage – was daran liegt, dass ein gekaperter Anonymous-Account mit 1,8 Millionen Fans auf Facebook unablässig Werbung für das Heft macht. Die meisten dieser Fans dürften in dem Glauben sein, die Anonymous-Gruppe geliked zu haben, die etwa dem IS den Krieg erklärt hat, Occupy unterstützt oder versucht die Machenschaften von der Scientology-Sekte zu entlarven.
Wieso geht man zu Pegida, wählt die AfD und liest Compact und behauptet dann, man wäre nicht rechts?
Weil sich die Menschen dafür schämen. Compact verschickt das Heft in einem neutralen Umschlag an seine Abonnenten.
Aber auch weil viele Menschen wirklich nur ihren Sorgen und Ängste Luft machen wollen. Eine Angst auszusprechen, ist nicht rechts. Selbst dann nicht, wenn es Angst vor dem „Ausländer“ ist. Viele Menschen fürchten sich schließlich vor dem Unbekannten. Rechts ist es erst dann, wenn aus dieser Angst bestimmte politische Schlüsse gezogen werden.
Aber das tun sie ja!
Ich weiß nicht. Manche ja, manche nein. Wenn ich mir die ungekürzten Interviews mit Pegida-Demonstranten anschaue, kommt es mir so vor als ob sich manche Menschen gar nicht überlegen, was das eigentlich politisch bedeuten würde. Manche sind Wendeverlierer, die keine Perspektive mehr haben. In ihren Augen läuft etwas schief und dieser Missstand muss behoben werden. Die Lösungen, die Neue Rechte anbieten, haben dabei den Vorteil, „alltagsplausibel“ zu sein – sie scheinen auf den ersten Blick zu stimmen. Andere wiederum wissen ganz genau, was sie wollen. Sie rufen dann „Merkel weg“ und reden von „Systemparteien“, sehen sich also nicht mehr als Teil des Systems.
Muss ich Angst haben, dass eine Machtergreifung durch die Rechten wie 1933 erneut passieren kann? Ist das in unserem Wahlsystem so möglich?
Wenn die Rechten den Gang durch die Parlamente antreten würden, könnten sie auch auf ganz normalen demokratischen Weg die Macht erringen, so kam auch Adolf Hitler an die Macht. Er wurde gewählt. Dann nutzte er ein gesetzliches Werkzeug, das es im heutigen Deutschland nicht mehr gibt. Er schränkte mit sogenannten Notverordnungen die demokratischen und politischen Rechte im Land ein. Aber nur dadurch konnte Hitler sich nicht die Macht sichern – er hatte Unterstützung bekommen von jenen Kräften, die stark deutschnational waren und/oder sich ein Kaiserreich zurückwünschten. Diese Männer dachten, dass sie Hitler kontrollieren und ihn für ihre Zwecke benutzen konnten. Dabei hatte er sie benutzt, um Diktator Deutschlands zu werden.
Es ist eine Grundregel der Geschichte, niemals nie zu sagen. Aber die Bundesrepublik Deutschland ist ein völlig anderes Land als die junge Demokratie der Weimarer Republik, eine Machtergreifung wie 1933 erscheint heute unwahrscheinlich.
Eine letzte Frage habe ich noch: Warum lassen sich so viele Rechte nicht von Argumenten überzeugen?
Mmh, das ist eine schwierige Frage, weil sie zwei Dinge zu unterstellen scheint: Erstens, dass Linke leichter mit Argumenten zu überzeugen seien. Und ich weiß nicht, ob Sie schon einmal mit einem echten Marxisten geredet haben… Tun Sie es und Sie werden diese Frage so nicht noch einmal stellen. Sie unterstellen aber noch etwas, und das ist wichtiger als meine launigen Bemerkungen über Marxisten, die ich so über eigentlich jeden Ideologen fallen lassen könnte. Sie gehen zweitens, ohne es auszusprechen davon aus, dass man ein ganzes Weltbild nur mit Argumenten ändern kann. Wie wollen sie das schaffen? Sie werden dafür das ganze Leben ihres Gegenübers angreifen müssen und ihm wieder die Opferrolle geben, die er dringend nötig hat, um politisch zu wirken.
Ich persönlich bin deswegen skeptisch, glaube aber, dass wir trotzdem nicht aufhören sollten mit den Gesprächen, schon allein, weil es bei jeder Diskussion auf Facebook, am Familientisch, bei der Party stille Zweifler gibt, die dieses Gespräch aufmerksam verfolgen werden, weil sie gerade nach Antworten suchen.