Eigentlich müsste dieser Text mit Hitler beginnen. Und zwar damit, wie der Diktator händeringend nach Ölquellen suchte, um die Eroberungszüge der Wehrmacht anzutreiben. Und damit, wie der andere Diktator Josef Stalin aus der Sowjetunion ihm dieses Öl lieferte – bis er selbst von Nazi-Deutschland angegriffen wurde. Denn das war das erste wirklich relevante Mal, dass russische Energielieferungen in der deutschen Geschichte eine Rolle spielten.
Aber nicht jeder Text über deutsche Politik kann mit Hitler beginnen. Deswegen beginnt er mit dem unbekannten Hamburger Theodor Weisser. Weisser war im Mineralölhandel tätig und suchte nach dem Zweiten Weltkrieg nach Möglichkeiten, sein Geschäft auszubauen.
Was ihm einfiel, revolutionierte den internationalen Ölmarkt und steht am Beginn der nun viel diskutierten Energieabhängigkeit Deutschlands von Russland. Weisser fuhr im Jahr 1954, ein Jahr bevor die letzten deutschen Kriegsgefangenen von Moskau freigelassen wurden, in die Sowjetunion (SU) und handelte mit den Beamten eine Exportlizenz für sowjetisches Öl aus. Das war die erste dieser Art und überhaupt weltweit das erste Ölgeschäft eines unabhängigen Händlers, der nicht für einen der großen Ölkonzerne arbeitete. Weisser legte damit den Grundstein für den Ölmarkt, wie wir ihn heute kennen. Dass er mit einer Diktatur verhandelte: egal. Dass die SU noch deutsche Landsmänner in Gefangenschaft hielt: auch nicht so wichtig.
Ein Deutscher kaufte das erste russische Öl
Dass es ein Deutscher war, der den internationalen Ölmarkt für Russland öffnete, ist nicht ohne Ironie. Sind es doch momentan gerade die Deutschen, die international extrem unter Druck stehen, mit einem Öl- und Gasembargo auf den Angriffskrieg von Wladimir Putin zu reagieren. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hat ein solches Embargo auch schon angekündigt. Das letzte Öl aus Russland soll in diesen Tagen fließen. Das letzte Gas Ende 2024.
Damit endet eine Ära, nicht nur für die deutsche Energieversorgung, sondern auch für die deutsche Außenpolitik. Denn in einem gewissen Sinne war die Moskauer Reise des Ölhändlers Weisser damals auch schon ein Omen für das, was kommen sollte: Die Bundesrepublik Deutschland setzte in ihrer Außenpolitik vor allem auf die Wirtschaft. Sie verstand sich als Handelsnation. Sie war daran interessiert, die Grenzen und die Märkte offen zu halten. Verflechtung von Ländern, Kulturen und Geschäften sollten den Frieden stabilisieren.
Der Ukraine-Krieg hat dieses Selbstverständnis erschüttert. Völlig zu Recht. Denn wer sich anschaut, woher diese Idee kommt, warum sie formuliert wurde, erkennt, dass sie in den vergangenen Jahrzehnten, spätestens mit dem Fall der Mauer, zunehmend korrumpiert wurde.
„Wandel durch Handel“? Da fehlt doch was
Neun Jahre, nachdem der Hamburger Weisser nach Moskau gereist war, um Öl zu kaufen, trat in der Tutzinger Akademie Egon Bahr, SPD-Politiker und Berater des späteren Bundeskanzlers Willy Brandt, ans Pult. Auch ihm ging es um die Sowjetunion. Er hielt eine Rede, die in die Geschichte eingehen sollte, weil er das Motto prägte, das zum geflügelten Wort wurde: „Wandel durch Annäherung“.
Der Volksmund brachte es dann noch etwas griffiger, aber auch leicht und entscheidend abgeändert auf den Punkt: „Wandel durch Handel“. Darin versteckt sich die Idee, dass autoritäre Regime wie die Sowjetunion nicht von außen gestürzt werden können. Sie können aber verändert werden mit der richtigen Politik. Westdeutschland begegnete so damals der DDR. Es verband wirtschaftliche Hilfen und Austausch mit Zusagen an die Menschenrechte. Das ist der Kern der berühmten Ostpolitik von Willy Brandt, die bis heute die SPD in ihrem Handeln prägt. Die Sätze aus Egon Bahrs Rede können wir heute zitieren; sie passen noch immer zu der aktuellen Debatte rund um ein Gas- oder Ölembargo gegenüber Russland:
„Es ist eine Illusion, zu glauben, dass wirtschaftliche Schwierigkeiten zu einem Zusammenbruch des Regimes führen könnten.“
„Wenn es richtig ist, was Kennedy sagte, dass man auch die Interessen der anderen Seite anerkennen und berücksichtigen müsse, so ist es sicher für die Sowjetunion unmöglich, sich die Zone [die DDR] zum Zwecke einer Verstärkung des westlichen Potentials entreißen zu lassen.“
Hier klingt der Konflikt an, der sich auch beim Umgang mit dem heutigen Russland immer wieder aufgetan hat und auftut: Auf der einen Seite jene, die für Austausch plädieren und dafür, die russischen Interessen zu berücksichtigen. Auf der anderen Seite jene, die immer wieder darauf hinwiesen, wie sich Putins Russland in eine Diktatur verwandelte und dass mit solch einem Mann und System nur wenig Verständigung möglich ist.
“Endlich” hatte Gazprom einen Fuß in der Tür in Deutschland
Begleitet wird und wurde diese zivilgesellschaftliche und politische Debatte von wirtschaftlicher Zusammenarbeit, die sich über die Jahre immer enger gestaltete: Nachdem die Sowjetunion sich aufgelöst hatte und Russland eine Marktwirtschaft wurde, begann die deutsche Wirtschaft, unterstützt durch die Politik, enge Verbindungen zu Russland aufzubauen. Wer einen großen deutschen Wirtschaftsnamen sucht: Fast alle sind oder inzwischen „waren“ sie in Russland vertreten. Ein Beispiel von vielen: Die Ludwigshafener BASF tauschte 2012 Güter mit Gazprom. Es war dieser Moment, in dem die deutschen Gasspeicher, die vor dem Ukraine-Krieg so seltsam leer blieben, an Gazprom übergingen. Im Gegenzug bekam die BASF-Tochter Wintershall Anteile an einem hochlukrativen Gasfeld in Sibirien. Laut Handelsblatt sagte der Gazprom-Vorstand zu dem Deal, dass damit ein Traum in Erfüllung gehe. Denn damit habe der Konzern endlich einen Fuß in der Tür in Mittel- und Westeuropa.
Gazprom war auch damals schon der Konzern des Kremls. Auch damals schon konnte wissen, wer es wissen wollte, dass Putin selbst so großes Interesse an Gazproms Geschäften hat, dass er als inoffizieller Vorstand gelten kann. Nur wenige Jahre zuvor, nach der prowestlichen Orangenen Revolution in der Ukraine, hatte Russland einen Streit um Gaslieferungen mit der Ukraine vom Zaun gebrochen. Es setzte Gas metaphorisch gesprochen als Waffe ein. Und wenn man in dem Bild bleiben will, dann hat der größte deutsche Chemiekonzern BASF Russland diese Waffe gereicht.
Oder die Deutsche Bank, die dem Kreml riet, den Ölkonzern Jukos zu zerschlagen. Ein Fall, der von Beobachterinnen wie der britischen Journalistin Catherine Belton als Ursünde bezeichnet wird. Weil der Westen damals nicht darauf reagiert habe, dass Putin und seine KGB-Leute sich den größten Ölkonzern des Landes aufteilten, schloss dieser daraus, dass er freie Bahn habe, so Belton in ihrem empfehlenswerten Buch „Putins Netz“. Die Deutsche Bank war es auch, die in ihrer Moskauer Filiale Aktiengeschäfte und Briefkastenfirmen benutzte, um Hunderte Millionen von Dollar für Mafiosi, sanktionierte Oligarchen und andere Russen zu waschen, die ihr Geld außer Landes bringen wollten.
Putin schien wie der perfekte Partner
Die Deutsche Bank ist ein Extrembeispiel. Viele deutsche Firmen machen beziehungsweise machten in Russland Geschäfte, die nicht zu beanstanden waren – jedenfalls aus enger betriebswirtschaftlicher Sicht. Man könnte sogar sagen: Die Unternehmen erfüllten ihren Teil der Strategie, auf die die gesamte deutsche Spitzenpolitik seit dem Fall der Mauer gegenüber Russland gesetzt und vor allem auch gehofft hat: eine immer engere Verflechtung von Wirtschaft und Gesellschaft wird zu Modernisierung und Öffnung des Landes führen. Putin selbst akzeptierte das, zumindest behauptete er das. Er schien zunächst wie der perfekte Partner für diese Strategie. Im Bundestag hielt er 2001 auf Deutsch eine wirklich bemerkenswerte Rede, in der er die europäische Integration lobte, den „stabilen Frieden auf dem Kontinent” und „die Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit“ als Hauptziele ausgab. Vielleicht glaubte Putin damals sogar selbst, was er sagte. Auf jeden Fall glaubten ihm die Spitzenpolitiker des Westens, allen voran die deutschen.
SPD-Leute wie der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern Manuela Schwesig und der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel trieben den Bau der inzwischen abgesagten Gaspipeline Nord Stream 2 voran. Politiker und Politikerinnen der Union setzten allerdings genauso auf wirtschaftliche Annäherung, auch sie hielten viele Projekte für „unpolitisch“, wie Bundeskanzler Scholz Nord Stream 2 einmal nannte. Der ehemalige Wirtschaftsminister Peter Altmaier etwa sah im April 2021 in Russland noch einen potentiellen „Wasserstoff-Partner“. Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel wiederum steht vor den Scherben einer außenpolitischen Strategie gegenüber Russland, die sie 15 Jahre lang durchzog, obwohl Russland Georgien und die Ukraine überfiel, in Moskau der Oppositionelle Boris Nemzow erschossen und in Großbritannien Menschen vom russischen Geheimdienst vergiftet wurden.
Am Ende agierte Deutschland doch wie ein Ölhändler
Der Zeit-Auslandsexperte Jörg Lau schreibt in einem Kommentar: „Heutige Fans der Phrase ignorieren geflissentlich, dass sie in den Siebzigern mit einem klaren Bekenntnis zu Menschen- und Bürgerrechten daherkam. Man rang den Ostblock-Herrschern ein Ja zur ‚Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- oder Überzeugungsfreiheit‘ ab.“ Dieses Ja wurde in der Helsinki-Schlussakte festgehalten und diese konnte die Opposition in den Ostblock-Staaten dann als Hebel gegen ihre Regierungen nutzen, um mehr Freiheiten zu bekommen. Etwas Vergleichbares gab es mit Russland nie.
Deutschland machte Geschäfte; es verstand sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges als weitgehend pazifistische Handelsnation. Keine andere Politik hat das so deutlich zum Ausdruck gebracht wie „Wandel durch Handel“. Weil die Spitzenpolitiker aber ihre zentralen Lehren zu Menschenrechten beiseite geschoben haben, ist sie strategisch gescheitert.
Anstatt ein freies Russland zu ermöglichen, das die internationalen Normen respektiert, muss Putin darin einen Freifahrtsschein gesehen haben. Im Zweifel interessiert den Westen nur Geld. So muss er es sehen.
Deutschland trägt keine Schuld am Krieg. Die trägt Wladimir Putin. Was die deutsche Politik und auch die deutsche Wirtschaft – und hier sind fast alle gemeint – sich aber vorwerfen lassen müssen: dass Deutschland Russland begegnet ist wie ein Ölhändler, wie der unbekannte Hamburger Theodor Weisser, der damals nach Moskau fuhr, die Politik ausblendete und Gewinne machen wollte. Das aber war immer nur die eine Hälfte der Formel „Wandel durch Handel“. Die andere Hälfte hat Deutschland vergessen.
Redaktion: Esther Göbel; Schlussredaktion: Susan Mücke Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert