Gibt es mehr Übergewichtige?
Ich glaube das nicht. Wir werden größer und schwerer, das ist erwiesen. Und es gibt mehr Extreme – sehr dünne und fettleibige Menschen. Aber Schulklassen wiederum nehmen eher an Gewicht ab.
Ich zum Beispiel entspreche dem typischen übergewichtigen Mann, denn ich habe einen BMI von 26,5. Wenn dann in den Medien davon berichtet wird, dass 60 Prozent der Männer übergewichtig sind, müsste man korrekterweise ein Bild von einem Mann wie mir nehmen. Dann würde die Absurdität dieser Meldung sofort klar. Stattdessen zeigt man aber ein Bild von einem stark übergewichtigen Mann.
Man will den Markt anheizen, die Ernährungsberatungen müssen auch von etwas leben, so schafft man Kunden.
Wie kommt es denn, dass wir meinen, dass es mehr Übergewichtige gibt?
Das passiert, wenn man ständig mit Bildern von Übergewichtigen bombardiert wird. Dann glaubt man sie auch zu sehen, die dicken Kinder in den Schwimmbädern. Aber wenn man sich eine definierte Menge, zum Beispiel Schulklassen, anschaut ist klar, es gibt keine Übergewichtswelle. Und es gibt keine mir bekannt Längsschichtstudie, die man also in 10 oder 20 Jahren mit den gleichen Kindern wiederholen kann. Es gibt sie einfach nicht. Man vergleicht Schulklasse aus Bayern mit Kindern aus Jena.
Das Robert-Koch-Institut hat die KiGGs-Studie durchgeführt, mit 12.000 Kindern und Jugendlichen, das ist eine sehr sorgfältige Stichprobe. Nach 10 Jahren wollte man das wiederholen. Stattdessen hat man 2003 eine Vergleichsgruppe aus Jena genommen, das ist indiskutabel. In Jena gibt es zum Beispiel mehr asiatische Kinder, das verfälscht das Ergebnis. Und anhand dieser Erhebung hat man gesagt, es gebe einen Anstieg des Adipositas-Risikos bei Kindern um 50 Prozent. Es handelte sich jedoch nur um das relative, nicht das absolute Risiko - dies liegt bei nur 5 Prozent. Ich habe nachgefragt, was mit der zweiten Messung ist – bis jetzt hat sie nicht stattgefunden, oder wir hören nichts davon. Warum nicht? Fürchtet man die Realität? Muss man erst dafür sorgen, dass das Ergebnis passen wird?
Stellen Sie fest, dass sich ihre Patienten vermehrt um ihr Gewicht sorgen?
Ja. Und es hat nicht nur Frauen erreicht, sondern auch die Männer. Von drei Männern wollen zwei abnehmen, aus Karrieregründen. In den obersten Etagen darf es keine Speckpolster geben. Wenn sie einen großen Konzern haben und sie wählen einen dicken Menschen als Chef, das geht nicht – der ist ja angeblich undiszipliniert und hat sich nicht im Griff. Ich kenne auch Menschen mit einem BMI über 30, die nicht verbeamtet wurden, obwohl sie gesund waren.
Sind Speckpolster eine Frage fehlender Disziplin?
Nein, mit Disziplin hat das wenig zu tun, dafür umso mehr mit Genetik und Hormonen. Und übrigens liegt der „kranke“ BMI jenseits der 40. Diese Leute sehen richtig fettleibig aus. Bei diesen Menschen gibt es tatsächlich Zusammenhänge mit ihrer Gesundheit, aber eben auch im Sinne, dass Menschen durch eine Krankheit oder Medikamente fettleibig werden. Aber auch da ist es ungerechtfertigt, jemanden gleich aufgrund seines Gewichts Disziplinlosigkeit zu attestieren. Dass sich jemand Gewicht angefressen hat, ist selten.
Wenn es heißt, wir müssen in der Medizin Qualitätssicherung einführen, dann sagt die Fachwelt „Jawohl, wir haben evidenzbasierte Medizin, damit können wir die Qualität von Studien bewerten“. Sie missbrauchen die evidenzbasierte Medizin und ihre Mechanismen aber, indem sie zum Beispiel miserable Studien als hochgradig evident auszeichnen. Es ist, als würde man feststellen, dass es im Straßenverkehr zu viele Unfälle gibt, und deshalb wird der TÜV eingeführt. Der soll die Bremsen prüfen. Nun stellen Sie sich vor, er macht das gar nicht - vergibt aber trotzdem seine Siegel. So wird die evidenzbasierte Medizin missbraucht – die Qualitätssicherung passiert damit nur dem Namen nach, nicht dem Inhalt.
Was ist überhaupt ein Normalgewicht?
Ich würde sagen: Das Gewicht, das ein Mensch hat, wenn er gesundheitlich ohne große Einschränkungen leben kann. Dieses Gewicht, das er dann hat, ist anscheinend sein Normalgewicht. Abweichungen kann man nur durch Mästen oder Hungern herbeiführen. Aber da zeigen Zwillingsstudien, dass die Menschen immer wieder zum Ausgangsgewicht zurückkehren. Wenn man zum ersten Mal Diät macht, ist nach zwei Jahren das Ausgangsgewicht normalerweise wieder erreicht, das ist der bekannte Jo-Jo-Effekt.
Aber was ist, wenn man immer wieder zwei bis drei Kilo abnimmt? Wie es viele zum Beispiel nach der Weihnachtszeit machen, um den Feiertagsspeck loszuwerden.
Schwankungen des Gewichts hängen meistens mehr mit Stress zusammen als mit der Ernährung. Es gibt dann eine Ansammlung von viszeralem Bauchfett, das sogenannte Kampfgewicht, das dazu da ist, um Stress zu puffern. Winterspeck verschwindet von alleine, mit diesen willentlichen Versuchen scheitern Sie so gut wie sicher.
Ist es egal, ob man mit Sport abzunehmen versucht, oder mit weniger Essen?
Sport wirkt sich oft positiv aus, weil er Stress abbaut. Wenn Sie viel reisen müssen, deswegen beruflich eine Wampe haben, und dann Sport treiben und das gerne machen, nehmen Sie ab. Das Plus-Minus-Modell, das immer noch propagiert wird, dass man also Energie einnimmt durch Essen und abnimmt, wenn man weniger Energie aufnimmt, funktioniert nicht. Ein anderes Modell kann die Beobachtung viel besser erklären: Subkutanes Fettgewebe ist ein genetisches Wärmeisolationsprogramm. Die Natur will, dass manche Menschen ihre Temperatur besser halten als andere, die sind dann dicker. Die Natur will aber auch Menschen haben, die viel Energie abstrahlen, das sind die Dünnen. Die müssen sich mehr bewegen, damit sie Muskelwärme erzeugen, und davon kriegen sie Hunger. Deswegen essen Schlanke oft mehr als Dicke.
Kann man mit Diäten seinen Stoffwechsel dauerhaft durcheinander bringen?
Es gibt Studien, die zeigen, dass viele Diäten die Energiewahrnehmung verändern. Wenn Sie diäterfahrenen Frauen ankündigen, dass sie in vier Wochen eine Diät machen werden, dann essen die unbewusst mehr. Die Gruppe ohne Diäterfahrung macht das nicht. Sie bilden also über Diäten unbewusst Mechanismen aus, immer mehr zu futtern, sie programmieren ihr Gehirn auf Essen. Das ist auch eine extreme Nebenwirkung von Magen-Bypass-Operationen. Ich kenne Schilderungen von solchen Patienten, bei denen das ganze Denken nur noch auf Essen programmiert ist. Sie bunkern Vorräte, obwohl sie sie nicht essen können. Ernährung ist ein Trieb wie Sexualität, das kann man schlecht über Zwang regulieren.
Haben Sie von der New Yorkerin Dara Lynn-Weiss gehört, die ihre siebenjährige Tochter auf Anraten ihres Arztes auf Diät gesetzt hat?
Den müsste man auf Körperverletzung verklagen. Ich habe auch ein paar Patienten, bei denen dieser Druck schon vor der Pubertät angesetzt wurde. Manche davon werden später richtig dick. Das ist eine enorme psychische Belastung für die Kinder. Wenn man einmal mit Diäten angefangen hat, hat man ein gestörtes Verhältnis zum Essen.
Das gesellschaftliche Klima und die Medizin schaffen in dieser Hinsicht einen unheimlichen Druck auf Eltern. Das geht bis an den Punkt, dass man bei Kindern schon über Magen-Bypass-Operationen nachdenkt. Und ich rede nicht über tonnenschwere Kinder. Für mich ist wäre das eine irreversible, also lebenslange Folter. Sozusagen die ultimative Bestrafung für den falschen Körper. Allein, dass man darüber diskutiert, zeigt, in welche üble Richtung man bereit sein könnte zu gehen.
Wenn man das Ganze gesellschaftlich betrachtet, muss man langsam dem ganzen Treiben noch einen anderen Hintergrund unterstellen: Es geht darum, wieder Gewinner und Verlierer zu produzieren. Evolutionssoziologen nennen das Gruppenmoral. Dann sind alle, die es schaffen, schlank zu sein, die Starken. Alle anderen sind die Untermenschen. Jede Gesellschaft produziert diese Mechanismen – mal geht es gegen Rothaarige, gegen Schwarze oder eben gegen Dicke. Es geht dabei gar nicht um Gesundheit, sondern darum, eine Verlierergruppe zu definieren, auf der man rumhacken kann. Man sagt „Wir müssen denen helfen“ - wohl ignorierend, dass man dadurch in besonders perfider Weise den moralisch Unterlegenen schädigt. Wenn diese Menschen aber dann nicht spuren, zerstört man ihr Leben durch Magenoperationen. So betrachtet befinden wir uns im tiefsten Mittelalter.
Gewichtsdiskriminierung ist ja gesellschaftlich akzeptiert.
Dieser ganze Gewichtsbohei ist eigentlich sehr leicht zu entlarven. Jeder, der will, kann sich eine Studie zu Übergewicht vornehmen und feststellen, dass das Kokolores ist. Wenn man weiterdenkt, muss man sich fragen: Wozu sind Universitäten da? Eigentlich sollen sie eine moderne Gesellschaft mit objektiven Daten versorgen. Aber unsere Universitäten agieren völlig anders. Sie produzieren Glaubensätze, um sie gesellschaftlich durchzusetzen, und verteidigen sie mit allen Mitteln auch dann, wenn sie schon längst widerlegt sind. In dieser Hinsicht sind sie wie die Kirche im 16. Jahrhundert. Es sind Moralinstitutionen, nicht Wissensinstitution. Und Sie machen beispielsweise in den Ernährungswissenschaften nur Karriere, wenn Sie diese Glaubenssätze offensiv vertreten.
Wie stark das Thema Ernährung moralisiert, kann man daran sehen, wie das Thema öffentlich diskutiert wird. Wenn ich in einer Talkshow bin, bei der es darum geht, dass es zu viele Medikamente gibt, bekomme ich immer Beifall von allen Seiten. Bin ich in einer Sendung zu Gast, wo es um Gewicht geht und ich sage „Wir vergaloppieren uns hier“ – dann kriege ich gemischte Reaktionen, auch hämische E-Mails von Leuten, die unter die Gürtellinie gehen.
In diesem Zusammenhang ist auch das Thema Veganismus interessant. Das ist auch ein Moralthema. Das hat den evolutionären Effekt, dass sich die diejenigen, die sich nicht an diese Moral halten, Untermenschen sind. Und so findet man auf Veganerblogs auch mal Mordaufrufe gegen Fleischproduzenten. Die Parallelen zu den 20er und 30er Jahren in Deutschland sind teilweise schockierend. Die Ernährungsratschläge, die man den Kindern in der Hitlerjugend gegeben hat, sind eins zu eins das gleiche wie das, was unsere Kinder heute hören. Das geht auf die Lebensreformbewegung im 19. Jahrhundert, zurück, eine Art Naturreligion, die alles Zivilisatorische mit Schlecht und alles Natürliche mit Gut bewertete. Doch mit Naturliebe hat dies nichts zu tun, sonst hätte man Bergbauern gefragt, wie sie die Natur einschätzen. Nein, es ging wieder um die selbst definierte Einteilung von „böse“ und „gut“. Und böse waren natürlich die anderen. Die verweichlichten Städter, Gebildeten, Geschäftemacher, Fleischesser, Tierschänder etc. - alles Attribute, mit denen die Judenverfolgung anfing.
Übrigens gibt es jetzt auch die „guten“ Dicken. Das sind dann diejenigen, die die Ratschläge annehmen, viel Sport treiben und immer schön zeigen, dass sie fettarm essen und nicht zu viel. Da sie aber genetisch gar nicht abnehmen können, bleiben sie dennoch Untermenschen, allerdings erster Klasse.
Sie würden also einem Menschen, dessen BMI höher ist als der Normbereich, nicht zum Abnehmen raten.
Nein, sonst könnte ich ihm auch raten, seine Körperlänge zu kürzen. Ein solcher Rat ist medizinisch unsinnig und gaukelt Lösungen vor, die es nicht gibt. Sicher ist es für mich ein wichtiges Diagnose-Kriterium, wenn jemand Gewichtsschwankungen hat, also zum Beispiel im letzten Jahr acht Kilo zu- oder abgenommen hat. Aber ich werde ihm nicht aufgrund seines Gewichts eine Diagnose verpassen. Außer, er ist sehr extrem dünn oder fett.
Ärzte sind aber so indoktriniert, dass sie denken, es sei eine Krankheit, wenn jemand eine Gewichtsgrenze überschreitet. Das ist aber schlichte Diskriminierung auf dem Boden eines Körperbaumerkmals. Und wenn Harvard-Forscher nun warnen, sich von Dicken fernzuhalten, denn man könnte dadurch durch ihre Nähe selber dick werden durch „soziale Kontamination“, dann verschließt man die Augen davor, wohin das in unserer Gesellschaft wieder führen kann. Lieber bildet man die nächste Lichterkette gegen Kinderarbeit in Nepal und fühlt sich ganz toll dabei.
Dieses Interview ist eine Ergänzung zum Text „Du bist nicht zu fett“ über die Thesen der US-Autorin Harriet Brown, die gesellschaftliche und medizinische Dogmen zu Übergewicht hinterfragt.