Nadine sitzt neben ihrem Hund, ein Terrier-Mix, auf der Bank. Sie lächelt und trägt Pullover mit Schwarz-Weißen Streifen.

© Philipp Sipos

Sinn und Konsum

Interview: Warum sollte man als Arbeitslose keinen schönen Tag haben?

Statt sich zu schämen, zeigt Nadine ihr Leben als Arbeitslose auf Instagram. Dafür wird sie angefeindet.

Profilbild von Astrid Probst
Reporterin

Nadine Wagenaar antwortet überraschend schnell auf die Mail. Ein Interview? Gerne. Und nein, sie habe keine Bedenken gegenüber Journalist:innen, nur, weil Die Zeit sie in einem kurzen Post auf Instagram kritisierte und über Wagenaar schrieb: „Echte Arbeitslosigkeit sieht anders aus.“ Wobei sich die Frage stellt, wie echte Arbeitslosigkeit aussieht und was „echt“ bedeuten soll.

Wagenaar jedenfalls, 34 Jahre alt, war Social-Media-Managerin und wurde betriebsbedingt gekündigt. Wenn dieser Text erscheint, ist das 286 Tage her. In ihren Videos zählt sie mit. Dort berichtet sie als heynadus über ihren „brotlosen Alltag als Arbeitslose“, wie sie es nennt. Sie filmt sich wie sie zum Arbeitsamt geht, zum Friseur oder zur Maniküre. Auf Instagram folgen ihr inzwischen mehr als 65.000 Menschen. Als Deutschlands erfolgreichste Arbeitslose will sie sich trotzdem nicht bezeichnen. Dennoch: „Ich war vielleicht eine der Ersten, die provokant, selbstironisch und sarkastisch über Arbeitslosigkeit gesprochen hat“, sagt sie.

Warum sie nicht ins Klischee passt, das viele von Arbeitslosigkeit haben und welchen Anteil die Medien an solchen Vorurteilen haben, erzählt sie im Interview. Außerdem wollte ich wissen, wie es ihr gelungen ist, so viel Kraft aus einer Kündigung zu ziehen, die für viele Scheitern darstellt. Und warum der Hass, der ihr in den sozialen Medien entgegenschlägt, an ihr abprallt.


„Ich heiße Nadine und wurde vor 286 Tagen gekündigt“ – so beginnst du deine Videos und das ist der Satz, mit dem du auf Tiktok und Instagram berühmt bist. Was war dein erster Gedanke, als du gekündigt wurdest?

Ich war geschockt, traurig, wütend, fühlte mich irgendwie unfair behandelt und hatte gleichzeitig auch positive Emotionen. Ich fühlte mich befreit, weil es im Unternehmen bereits mehrere Kündigungswellen gegeben hatte, gleichzeitig habe ich die Kündigung als Chance gesehen, mich beruflich neu aufzustellen.

https://www.tiktok.com/@heynadus/video/7473945142194408726

Dann hast du schon geahnt, dass du gekündigt werden könntest?

Die Kündigung kam schon überraschend. Es war ein Dienstagvormittag. Als ich mich in ein kurzfristig angesetztes Meeting einwählte, sah ich, dass neben meiner Vorgesetzten auch mein Teamlead da war. Drei Sekunden später schaltete sich eine Person aus der Personalabteilung dazu. Da wusste ich, ich werde gekündigt. Einerseits war das über Google Meet wahnsinnig unangenehm. Ich sah mich in der Kamera. Sah, wie ich rot anlief. Außerdem heule ich schnell. Das wollte ich unterdrücken, also kriegte ich einen Kloß im Hals. Andererseits war es gut, dass es über Google Meet geschah. Ich konnte danach den Laptop zuklappen und in meinen eigenen vier Wänden meinen Unmut, Frust und Trauer kurz rauslassen.

„Für die meisten Menschen bedeutet eine Kündigung einen Verlust ihrer Identität und ihres Selbstverständnisses.“ Das schreibt die kubanische Professorin für Organisationsverhalten Herminia Ibarra in ihrem Buch „Working Identity“. Wie hast du das empfunden?

Ich habe mich nie wirklich mit meiner Arbeit identifiziert. Für mich ist sie ein Mittel zum Zweck, irgendwie muss ich mir meinen Lebensunterhalt verdienen. Ich identifiziere mich eher über meine Hobbys und Sport. Das macht mich viel mehr als Menschen aus als Arbeit.

Laut einer Befragung des Statistischen Bundesamtes empfinden 88 Prozent ihre Arbeit als sinnstiftend. Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass sich viele Menschen über ihren Job definieren und darin ihren Sinn fürs Leben suchen?

Ich glaube, das ist ein Mindset, das sehr weit zurückgeht. Ich nenne das Schaffe-Schaffe-Häusle-Mindset. Für viele ist Arbeit eine Tugend und nur wenn du arbeitest, bist du etwas wert. Das hat sich so in die Köpfe eingebrannt.

Was ist dein Tipp für Menschen, die gerade arbeitslos sind und damit hadern, sich vielleicht sogar schämen?

Schwierig. Wir haben alle so unterschiedliche Lebenssituationen. Ich würde mich als privilegierte Arbeitslose bezeichnen. Dadurch, dass ich in meinem Job gut verdient habe, mein Arbeitslosengeld somit hoch ausfällt, ich niedrige Fixkosten habe. Was soll ich jemandem raten, der alleinerziehend ist oder vorher nicht so gut verdient hat? Ich weiß, dass eine Kündigung nicht das Ende der Welt ist – auch, wenn es sich erstmal so anfühlt. Während Corona hat mir ein früherer Arbeitgeber einen Aufhebungsvertrag hingelegt und ich fand daraufhin einen viel besseren Job. Das war der Job, bei dem ich vor rund einem Jahr betriebsbedingt gekündigt, allerdings ist auch diese Kündigung eine Chance für mich gewesen. Vielleicht inspiriert das den einen oder anderen, aber da wir alle unterschiedliche Lebenssituationen haben, kann ich keinen allgemeingültigen Rat geben.

Nadine Wagenaar und ihr Hund Otto.

Nadine Wagenaar und ihr Hund Otto. Philipp Sipos

Mit deinen Videos polarisierst du. Dass du dir von deinem Arbeitslosengeld in Cafeś teure Avocado-Toasts leistest und zur Maniküre gehst, passt für viele nicht ins Bild von Arbeitslosen. Einige denken anscheinend, dass du etwas in Anspruch nimmst, das dir nicht zusteht.

Viele wissen gar nicht, was der Unterschied zwischen Arbeitslosengeld und Bürgergeld ist. Ich kannte ihn bis zum letzten Jahr auch nicht. Ich bekomme Arbeitslosengeld, für mich sind das 60 Prozent meines vorherigen Gehalts, ein Jahr lang.Warum soll ich auf eine Leistung verzichten, für die ich in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt habe? Wer sich mit den Unterschieden nicht befasst, kehrt schnell alle Erwerbslosen über einen Kamm. Und warum sollte man sich keinen schönen Tag machen dürfen, nur weil man arbeitslos ist? Ich habe manchmal das Gefühl, dass manche Menschen erwarten, dass man als Arbeitslose keinen Spaß mehr haben und sich nichts mehr gönnen darf. Sich also selbst bestrafen muss, dafür, dass man aktuell nicht arbeitet.

Du zeigst uns in gewisser Weise, dass wir keine Ahnung von Arbeitslosigkeit haben. Laut Studien denken viele, wer nicht arbeitet, ist faul und liegt dem Staat auf der Tasche. Woher kommen diese Stereotype?

Für mich sind es die Medien, die das geprägt haben. RTL II mit seinem Nachmittagsprogramm, wie „Hartz und herzlich“ oder „Armes Deutschland“. Dort wurde eine Randgesellschaft gezeigt und zu der wollte man nicht gehören. Als ich das sah, dachte ich: So etwas darf mir nie passieren, das ist schrecklich. Die Bild-Zeitung hat den Begriff des Sozialschmarotzers mit aufgebracht. Überhaupt haben viele Medien eine Wut auf Sozialhilfeempfänger geschürt.

Was muss sich ändern, damit Arbeitslosigkeit nicht mehr stigmatisiert wird?

Wir müssen darüber sprechen, der Arbeitslosigkeit unterschiedliche Gesichter geben, so dass man nicht nur den stereotypischen vermeintlichen Sozialschmarotzer vor Augen hat. Aber ich glaube, es wird sich nicht wirklich etwas ändern. Weil es nicht erwünscht ist, dass wir alle locker mit Arbeitslosigkeiten umgehen. Sonst funktioniert das System nicht mehr. Friedrich Merz könnte man hier wahrscheinlich zitieren.

An welche Aussage denkst du?

Zum einen will er, dass wir mehr arbeiten. Und er will Bürgergeldempfängern Leistungen kürzen, wenn sie Jobs ablehnen. Wir verbringen den Großteil unseres Lebens mit Arbeit. Ich bin der Meinung, dass jeder den Anspruch haben darf, einen Job zu finden, den er tatsächlich ausüben will.

Anna Mayr, die als Kind zweier Langzeitarbeitsloser aufwuchs, schreibt in ihrem Buch „Die Elenden“: „Wir dienten als abschreckendes Beispiel. Indem wir verloren hatten, konnten sich andere als Gewinner fühlen. Unser Leid ließ andere Leben leichter erscheinen.“

Dieser Satz beschreibt schonungslos, wie Armut und Arbeitslosigkeit in unserer Gesellschaft oft nicht als individuelles, sondern als abschreckendes Beispiel behandelt werden. Ich merke an manchen Kommentaren, wie tief das Narrativ verankert ist: Wer arbeitslos ist, ist „gescheitert“. Das erzeugt einen enormen Druck – auf Betroffene und jene, die krampfhaft versuchen, da niemals hineinzugeraten. Was mich an dem Satz besonders berührt, ist die Erkenntnis, dass das Leid Einzelner zur Beruhigung der Mehrheit beiträgt. Das hat etwas Unmenschliches. Arbeitslosigkeit sollte nicht stigmatisieren, sondern Anlass für Gespräche über Chancen, Systemfehler und soziale Gerechtigkeit sein.

Mit deinen Videos auf Social Media willst du Arbeitslosigkeit aus der Schamecke holen und aufklären. Gab es einen Moment, in dem du gespürt hast, dass deine Geschichte eine größere gesellschaftliche Relevanz hat?

Durch die negativen Kommentare merke ich, wie verankert der Leistungsgedanke ist und wie sehr der Wert eines Menschen von seiner Arbeit abhängt. Teilweise werde ich beschimpft oder Leute kommentieren ganz stumpfsinnig: „Geh arbeiten.“ Ich hatte überlegt, mich als Mensch mit viel Freizeit zu bezeichnen. Da würden Leute sagen: „Oh cool, du hast viel Freizeit, was machst du denn? Spazieren gehen? Super! Das würde ich auch gerne!“ Zu sagen, ich bin arbeitslos, hat einen ganz anderen Geschmack. Auf der anderen Seite erzählen mir auch viele ihre Geschichten über Kündigungen oder schreiben, dass mein Content sie inspiriert. Dass sie meinen Humor mögen, dass es gut tut, jemanden so locker über Arbeitslosigkeit reden zu hören. Weil man sich eben sehr alleine fühlt, wenn man keinen Job hat und niemand darüber redet. Auf Linkedin liest man immer nur, wie toll alle sind und wer befördert wurde. Da wird nicht über „Scheitern“ – die Anführungszeichen sind mir wichtig – gesprochen.

Warum wird Arbeitslosigkeit oft mit Scheitern und Identitätsverlust gleichgesetzt?

Weil sich viele über ihre Arbeit identifizieren. Du bist dein Beruf, das denken viele. Und wenn du nicht arbeiten gehst, bist du ein Loser.

Während die Kündigung viele vermutlich erstmal verunsichert, scheinst du es geschafft zu haben, Kraft aus dieser schwierigen Situation zu ziehen. Wie ist dir das gelungen?

Vielleicht war ich schon ein bisschen abgebrüht. Ich kannte die Situation. Das war meine zweite, sehr ernüchternde Erfahrung mit einem Arbeitgeber in Folge. Darum dachte ich: Das kann doch nur ein Zeichen sein! Ich war nie glücklich damit, acht Stunden am Laptop zu sitzen. Aus Bequemlichkeit und Angst heraus, habe ich aber nie etwas geändert. Statt mir den nächsten 9-to-5-Job zu suchen, sah ich das jetzt als Chance. Vielleicht habe ich mir meine Situation auch schön geredet, ich nannte es „sommerliche Naivität“. Diese Naivität hält bis heute an. Vielleicht falle ich hin, aber wenigstens habe ich es mit Social Media versucht. Deswegen kann ich mit der Kündigung positiv umgehen.

Du hast schon einen Tag nach deiner Kündigung dein erstes Video hochgeladen. Wie kamst du überhaupt auf die Idee?

Bevor ich zu dem Unternehmen kam, das mich kündigte, hatte ich für ein Startup nebenbei Marketing gemacht und wusste dadurch, dass mir das Reden vor der Kamera Spaß macht. Ich wollte eigentlich über Sport, Ernährung und vor allem Zyklusthemen sprechen, darüber aufklären und ein Tabu brechen. Dann habe ich sporadisch über meine Arbeitslosigkeit gesprochen und da merkte ich, dass dieser Content viel besser ankommt. Über Ernährung und Sport sprechen so viele. Über Arbeitslosigkeit kaum jemand.

Wie fanden es deine Familie und Freunde, dass du so offen damit umgehst?

Meine Mama war anfangs gar nicht begeistert. Sie fragte: „Machst das, statt dir einen neuen Job zu suchen?“ Inzwischen sieht sie, wie viel Spaß ich dabei habe und dass ich viele Menschen erreiche. Mein Freund stand voll hinter mir. Er hätte mir aber auch sicher gesagt, dass ich Bewerbungen schreiben soll, wenn meine Inhalte niemanden erreicht hätten.

Musstest du dich überwinden, über deine Arbeitslosigkeit zu sprechen oder ist dir das leicht gefallen?

Als ich für das Startup arbeitete, habe ich schon mal über ein schambehaftetes Thema gesprochen: über die Periode. In den Kommentaren stand: „wie ekelhaft“ oder „über sowas redet man nicht“. So habe ich gelernt, mit negativen Kommentaren umzugehen. Und ich lernte: Themen, die triggern, funktionieren. Es wird immer Leute geben, die das blöd finden und Kommentare hinterlassen, und das ist gut für den Algorithmus. Andere werden sagen: Endlich redet mal jemand drüber.

Teilweise erhältst du sehr verletzende Kommentare. Wie schaffst du es, die emotional von dir fernzuhalten?

Es gibt diesen Spruch: „Don’t get bothered by people you wouldn’t take advice from“ (Anm. d. Red.: Lass dich nicht von Leuten ärgern, von denen du keinen Rat annehmen würdest). Den sage ich mir oft vor. Und: Irgendwo lege ich es ja auch drauf an. Ich rede darüber, dass ich jogge statt jobbe. Zeige, wie ich zum Friseur gehe oder mir Frühstück im Café gönne. Meine Inhalte sind provokant und darauf ausgerichtet, Leute zu triggern.

Ist es also so, dass dich negative Kommentare nicht treffen, weil du in gewisser Weise weißt, was die Leute schreiben werden und du dich darauf einstellen kannst?

Ja, vermutlich. Als ich mein erstes Reel hochgeladen habe und negative Stimmen kamen, hat mich das getroffen. Da wollte ich nicht provozieren, nur lustig sein. Seit ich absichtlich provoziere, überlege ich immer, wie ich noch eine Schippe drauflegen kann. Dadurch, dass ich absichtlich provokant bin, lege ich es auch darauf an, dass diese Kommentare kommen.

https://www.tiktok.com/@heynadus/video/7405524824014998816

Inzwischen hast du dich mit Social Media selbstständig gemacht. Wie fühlt es sich an, diesen Neuanfang zu wagen?

Noch fühlt es sich gar nicht anders an. Ich bin immer noch arbeitslos gemeldet und habe dadurch den großen Vorteil, dass, wenn ich in einem Monat keine Einnahmen durch Social Media erziele, ich mein ALG erhalte. Das ist natürlich eine tolle Absicherung, durch die sich mein Leben als Selbständige weniger stressig anfühlt. Gegen Ende des Jahres wird sich das ändern, wenn ich kein Arbeitslosengeld mehr bekomme. Dann werde ich alle Höhen und Tiefen erleben, mich über Anfragen freuen und wenn mal zwei Wochen keine kommen, werde ich denke: Mist, bin ich vielleicht doch nicht so interessant für Kooperationspartner.

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Du scheinst so, als könnte dir das alles aber nichts anhaben – weder die Kündigung, noch fiese Kommentare. Wie kommt es, dass du so resilient bist?

Ich wünschte, ich könnte das erklären. Meine Mutter würde vermutlich sagen, dass ich ein Pippi-Langstrumpf-Mindset habe, dass ich durch die Gegend hopse und denke, das wird schon alles gut. Vielleicht kommt es daher, weil mich mein Job nie erfüllt hat. Ich habs gehasst, ins Büro zu fahren und dort acht Stunden zu sitzen. Bei dem Gedanken, Bewerbungen zu schreiben, hat sich mir der Magen umgedreht. Ich war so unglücklich. Das wollte ich nicht mehr. Also habe ich einen Schlussstrich gezogen. Ich kann nicht erklären, woher es kommt, aber ich habe Vertrauen.


Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert

Warum sollte man als Arbeitslose keinen schönen Tag haben?

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