In zwanzig Jahren als Journalistin habe ich über vieles geschrieben, was Menschen nervös macht: Sexarbeit, experimentelle Psychotherapien, die Zukunft von im Labor gezüchtetem Fleisch. Aber nichts scheint bei den Menschen mehr Unbehagen auszulösen als Small Talk. Ich habe erlebt, wie gestandene Chef:innen beim Gedanken an Small Talk auf Konferenzen erschaudern. Ich stand an der Seite von Akademiker:innen, die stundenlang entspannt über mittelalterliche Handschriften referieren können, aber ins Stottern geraten, wenn jemand in der Bäckerschlange plaudern will.
Als ich einmal in der Büroküche anmerkte, wie gerne ich eine bessere Frage als „Wie gehts?“ für einen Gesprächsbeginn finden würde, bekamen meine Kolleg:innen leuchtende Augen und riefen begeistert: „Ja bitte! Finde sie!“
Um herauszufinden, ob dieses Unbehagen ein breiteres Phänomen ist, fragte ich die KR-Leser:innen, wie unangenehm ihnen Small Talk ist. Fast 700 Menschen haben geantwortet. Auf einer Skala von „Völlig in Ordnung“ bis „Möchte schreiend wegrennen“ gaben rund 65 Prozent an, dass sie ihn ziemlich oder sogar sehr unangenehm finden.
Ich fand endlose Anleitungen und Ratgeber für gelungenen Small Talk. Aber kein Artikel konnte mir erklären, warum genau Small Talk so unangenehm ist. Und was man dagegen tun kann.
Dabei ist Small Talk weder Zeitverschwendung noch etwas, das extrovertierte Menschen automatisch besser können. Er ist eine kulturelle Praxis, die Deutsche systematisch missverstehen. Nach meiner Recherche wurde mir klar: Wir sollten viel mehr übers Wetter reden.
Wer Erfolg haben will, soll Small Talk beherrschen wie eine Fremdsprache
Auch ich gehöre zu den Menschen mit einer ausgeprägten Small-Talk-Abneigung. Auf Zugfahrten errichte ich um mich eine Atmosphäre der Abweisung – Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung, Laptop und ein grüblerischer Gesichtsausdruck, der sagt: „Bitte nicht stören, löse gerade wichtige Probleme der Menschheit.“ Das alles, um nicht neben einer gesprächigen Person zu landen, die eventuell 4 Stunden und 18 Minuten lang Dinge sagen wird wie: „Früher waren die Züge noch pünktlicher“, oder: „Die jungen Leute können ja heute nicht mal mehr ohne Handy über die Straße gehen.“
Es ist anstrengend, ständig auf der Flucht vor belanglosen Gesprächen zu sein. Andererseits bin ich nicht die Einzige. Nur vier Prozent der Teilnehmenden meiner Umfrage gaben an, dass sie sehr gut im Small Talk sind. Das ist zwar nicht repräsentativ, aber uff, es ist aussagekräftig.
Schuld daran ist sicher auch, dass Small Talk seit Jahrzehnten mit Bedeutung überladen wird. Mindestens seit Dale Carnegie, der Urvater des strategischen Networking, den 1936 erschienen Klassiker „Wie man Freunde gewinnt“ (Originaltitel: How To Win Friends and Influence People) schrieb. Darin beschreibt Carnegie die Kunst der beiläufigen Konversation als soziale Strategie. Menschen, meint Carnegie, würden am liebsten über sich selbst reden. Deswegen sollte man freundlich lächeln und ihnen Fragen stellen. Dann würden sie einen mögen.
Was Carnegie noch als Kunst der subtilen Einflussnahme verkaufte, wurde ab den späten 1980er Jahren und der zunehmenden Globalisierung zum expliziten Business Skill. Ich weiß nicht, was man vorher gemacht hat, wenn man Kolleg:innen getroffen hat. Wahrscheinlich Zigaretten geraucht und Dinge entschieden. Tatsache ist: Wer heute Erfolg haben will, muss Small Talk beherrschen wie eine Fremdsprache.
Das überlädt Small Talk mit Performance-Druck. Gleichzeitig besteht bei Gesprächen mit Fremden immer eine gewisse Wahrscheinlichkeit für peinliche Momente. Eine unangenehme Mischung. Und dann aber bitte entspannt plaudern! Klar, dass das oft schiefgeht.
Warum Small Talk wehtut
„Ich habe derselben Person an zwei Abenden insgesamt dreimal dieselbe Frage gestellt, um ein Gespräch zu beginnen, welches die Person offensichtlich nicht beginnen wollte“, schreibt Lisa in meiner Umfrage. Und Manuela: „Ich wurde beim Einkaufen auf dem Markt vom Gemüsehändler gefragt, wie es mir geht, und habe eine sehr ausführliche, ehrliche Antwort gegeben. Es ist mir viel zu spät aufgefallen, dass mich ungefähr zehn Personen befremdet anstarren.“
Manuelas Geschichte zeigt, warum Small Talk schwierig sein kann. Man will eigentlich nur Brokkoli kaufen und findet sich plötzlich in einer peinlichen Situation wieder. Das kann wehtun – im wörtlichen Sinne.
Forschende der University of California, Los Angeles, haben in einer berühmten Studie vor zwanzig Jahren herausgefunden, dass unser Gehirn soziale Ausgrenzung ähnlich wie körperlichen Schmerz behandelt. In fMRI-Experimenten, einer Technik, die zeigt, welche Gehirnbereiche gerade aktiv sind, konnten Forschende beobachten, wie sozialer Schmerz im Gehirn verarbeitet wird. Sie fanden heraus: Es werden die Bereiche aktiv, die auch bei echtem körperlichen Schmerz anspringen, etwa wenn wir uns die Finger verbrennen. Spätere Forschungen haben das bestätigt und außerdem gezeigt, dass für die Intensität des Schmerzes eine Rolle spielt, wie stark wir uns emotional betroffen fühlen.
Auch darum fühlt sich Small Talk für manche Menschen so brenzlig an. Es ist, als würde man barfuß über eine Wiese laufen, von der wir wissen, dass an manchen Stellen Dornen liegen. Hinter jeder harmlosen Frage könnte eine peinliche Situation lauern. „Ich versuche, beim Small Talk mein Gehirn auszuschalten, weil mir das so unangenehm ist und ich lieber nicht drüber nachdenken möchte. Dann sage ich manchmal Dinge, die ich gar nicht so meine, weil ich einfach nicht drüber nachgedacht habe“, schreibt Conny in meiner Umfrage.
Es geht nicht um Effizienz, sondern um Verbindung
Besonders ausgeprägt scheint die soziale Schmerzempfindlichkeit in Deutschland zu sein. In der deutschen Konversationskultur sei Small Talk nicht vorgesehen, sagt die Autorin Susanne Kilian, die lange als Übersetzerin für die Vereinten Nationen gearbeitet hat, einmal in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. „Small Talk ist nämlich weder sachlich begründet noch effizient und oft auch nicht ehrlich“, sagt sie dort. „Uns tut dieses Nicht-zum-Punkt-Kommen fast körperlich weh.“
Wer in Deutschland zum Reden ansetzt, soll bitte auch etwas zu sagen haben. Als müssten wir ständig beweisen, dass wir keine Zeit mit Oberflächlichkeiten verschwenden. Es ist, als hätte jemand eine ganze Nation von Menschen gezüchtet, die lieber barfuß über Legosteine laufen würden, als über das Wetter zu reden.
Dass das nicht so sein muss, erlebt, wer in die USA reist. Small Talk ist das Betriebsgeräusch der US-amerikanischen Kultur. Ständig fragen völlig fremde Menschen einen: „How are you?“ – oft ohne auf eine Antwort zu warten. Deutsche mögen das als oberflächlich empfinden, aber der amerikanische Small Talk zeigt, wie charmant beiläufige Gespräche sein können. Mein Kollege Gabriel Yoran hat einmal beschrieben, wie er im Café Ellie’s Bakery in Rhode Island einen Kaffee bestellte. Die Mitarbeiterin fragte: „Whole milk or low fat? Vollmilch oder Halbfett?“ Als sie sein Zögern bemerkte, empfahl sie: „Nehmen Sie Vollmilch. Stellen Sie sich vor, Sie werden gleich vom Bus überfahren und das Letzte, was Sie getrunken haben, war Kaffee mit Halbfettmilch.“
Diese Art von Small Talk ist genau das, was in Deutschland sozialisierte Menschen oft verwirrt: Sie ist weder effizient noch sachlich. Darum geht es aber auch gar nicht. Es geht um Verbindung. Die Cafémitarbeiterin auf Rhode Island schaffte diese Verbindung elegant nebenbei, indem sie ihren Gesprächspartner zum Komplizen einer absurden Idee machte.
Warum Deep Talk nicht besser ist als Small Talk
Seit meiner Kindheit plagt mich eine fast philosophische Sehnsucht nach der „echten“ Begegnung. Ich rede einerseits gerne mit Menschen, werde andererseits aber sehr nervös, wenn ich das Gefühl habe, dass dabei nichts Interessantes passiert. Dann springt vor meinem inneren Auge eine Uhr an, auf der meine Lebenszeit vorbeitickt. Ich könnte in dieser Zeit Sport machen, diesen Podcast über Autismus hören, von dem alle reden oder endlich diesen Notvorrat an Lebensmitteln anlegen, den das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe empfiehlt! Small Talk hielt ich für Zeitverschwendung. Ich wollte am liebsten ausschließlich Deep Talk. Lange dachte ich, das liege an meiner Authentizität. In Wirklichkeit bin ich vielleicht einfach: typisch deutsch.
Das legt auch eine weitere Studie nahe, bei der sich deutsche und japanische Gesprächspartner:innen zu einem virtuellen Small Talk trafen. Allerdings nicht von Angesicht zu Angesicht, sondern über eine Computersimulation. Insgesamt 30 Personen führten dort Zweiergespräche, bei denen die Forschenden genau beobachten konnten, welche Themen angesprochen wurden und in welcher Reihenfolge.
Die Forschenden ordneten die Themen dabei nach drei Ebenen:
- die unmittelbare Situation der Teilnehmenden, etwa das Setting des Gesprächs oder die Aufgabe
- äußere Kontexte, beispielsweise Uni, Medien, Popkultur
- Persönliches, wie Hobbys, Herkunft, Gesundheit
Das Ergebnis: Deutsche wechseln besonders schnell zu Ebene drei, also zu persönlichen Themen. Japaner:innen bleiben bewusst bei neutralen Themen wie Nachrichten, Wetter oder Popkultur. Nicht aus Desinteresse, sondern aus Höflichkeit. Was in Deutschland als authentisch gilt, wird andernorts oft als unangemessen empfunden.
„In anderen Kulturen dient Small Talk dazu, dass zwei Menschen auf eine gemeinsame Kommunikationsebene finden. Ein Gespräch auf der Sachebene ist nicht möglich, wenn nicht die Beziehungsebene vorher gepflegt wurde“, so Susanne Kilian. Man könnte auch sagen: Die Deutschen lassen das Vorspiel weg. Sie wollen schnell zur Sache kommen.
Wer aber zu schnell zu persönlich wird oder bei leichtem Geplauder innerlich abschaltet, überspringt die soziale Andockphase, die es braucht, um mit Menschen warmzuwerden. Natürlich könnte ich den DHL-Boten an der Haustür das nächste Mal direkt fragen, ob er an Gott glaubt. Oder ihm von meiner Trypophobie erzählen, das ist die Angst vor regelmäßig angeordneten Löchern. Wahrscheinlich wäre das Ergebnis aber kein tiefes Gespräch, sondern ich müsste meine Pakete zukünftig in der Filiale abholen.
Small Talk ist für unser Gehirn, was das Schwanzwedeln für Hunde ist
Mein Mann, der nicht in Deutschland aufgewachsen ist, kennt keine Small-Talk-Probleme. Dafür kennt er jeden in unserem Viertel. Der Hausmeister klopft ihm im Vorbeigehen auf die Schulter, die Trainer im Fitnessstudio begrüßen ihn beim Vornamen, mit seinem Friseur chattet er über Whatsapp. Als ich ihn neulich fragte, ob er gerne Small Talk macht, guckte er verwirrt. „Das ist doch kein Small Talk“, meinte er, „ich bin einfach freundlich.“
Neidisch starrte ich ihn an und wusste, dieser Mann hatte instinktiv begriffen, was ich erst durch Recherche verstand: Small Talk ist für unser Gehirn, was ein freundliches Schwanzwedeln für Hunde ist: eine einfache Geste sozialer Verbindung. Viele Menschen haben einfach vergessen, wie man wedelt.
Sagen wir, du stehst in der Bäckerschlange. Vorne kauft jemand Nussecken und Streuseltaler für eine gesamte Schulklasse. Die Frau hinter dir schaut aus dem Fenster, seufzt und sagt: „Schon wieder Regen.“ Du sagst: „Und ich habe mal wieder keinen Schirm dabei.“ Es beginnt ein kurzes Gespräch.
Ohne dass du es merkst, passiert bei diesem scheinbar belanglosen Austausch gleichzeitig etwas ziemlich Interessantes in deinem Gehirn. Neurowissenschaftler:innen von der Princeton University konnten zeigen, dass sich die Gehirnaktivitäten von Menschen im Gespräch synchronisieren – ein Phänomen, das man „Brain-to-Brain Coupling“ nennt. Das bedeutet: Wenn wir uns unterhalten, stimmen sich unsere neuronalen Rhythmen aufeinander ein. Wir sind wortwörtlich auf einer Wellenlänge.
Wenn wir zum Beispiel jemandem zuhören, schwingen bestimmte Bereiche unseres Gehirns im Takt der gesprochenen Sprache mit. Besonders empfindlich ist unser Hörzentrum für einen Rhythmus zwischen 3 und 8 Hertz, also genau dem Tempo, in dem Menschen normalerweise Silben aussprechen.
Das ist, als wäre unser Gehirn von Natur aus auf den Gesprächsrhythmus programmiert.
Dieses Mitschwingen passiert nicht immer, aber es kann selbst bei einem kleinen Small Talk einsetzen. Vorausgesetzt, es gibt ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit und gegenseitigem Verständnis. In solchen Momenten erleben unsere Gehirne soziale Verbindung, bevor wir sie kognitiv begreifen.
Wir sollten auf keinen Fall weniger übers Wetter reden
Ausgerechnet das vermeintlich banalste Small-Talk-Thema eignet sich besonders gut für Gespräche mit Fremden. Für unsere Vorfahren war das Wetter überlebenswichtig. Unser Gehirn ist daher darauf programmiert, Wetterveränderungen wahrzunehmen und darüber zu kommunizieren. Das Wetter beeinflusst auch unsere Stimmung. Wenn du in der dritten Novemberwoche morgens ins deprimierende Grau schaust, ist das eine Erfahrung, die du mit Millionen Fremden an diesem Tag teilst. So viel gemeinsames Erleben kriegt nicht einmal Fußball zustande. Wenn also zwei fremde Menschen über das Wetter reden, synchronisieren sich ihre Nervensysteme über einen geteilten, evolutionär relevanten Referenzpunkt. Das ist nicht banal, das ist brilliant.
Beim Small Talk geht es also überhaupt nicht um Inhalte. Er funktioniert eher wie eine soziale Choreografie. Die Cafémitarbeiterin auf Rhode Island schwingt ihr Konservations-Tanzbein vielleicht besonders elegant, aber das muss gar nicht sein. Hauptsache, Tanzen!
Die meisten Menschen scheitern nicht an der ganzen Tanzeinlage, sondern verfehlen nur einen oder zwei Töne. Der missglückte Übergang vom Handschlag zur Umarmung. Der vergessene Name genau in dem Moment, in dem man jemanden vorstellen möchte. Oder wie Leser Karl-Ludwig in meiner Umfrage erzählt: „Ich habe jemanden geduzt, ohne vorher gefragt zu haben.“ Es sind diese feinen Abweichungen von sozialen Erwartungen, die uns aus dem Takt bringen und die vielen das Gefühl geben, sie seien nicht „gut“ im Small Talk.
Das erklärt auch, warum die typischen Small-Talk-Ratgeber so oft ins Leere laufen. „Stellen Sie offene Fragen!“ „Seien Sie authentisch interessiert!“ „Erzählen Sie eine spannende Anekdote!“ Als wäre jedes Gespräch ein Bewerbungsinterview. Diese Tipps machen Small Talk zur Performance und damit genau zu dem, was unser Nervensystem überfordert.
Laut dem Sozialwissenschaftler Ty Tashiro, Autor des Buchs „Awkward“, sind die entspanntesten Gesprächspartner häufig diejenigen, die sich selbst erlauben, auch mal merkwürdig rüberzukommen. Die verstehen, dass ein holpriger Gesprächseinstieg kein Weltuntergang ist. Die wissen, dass ihr Gehirn nicht für Vorträge vor wichtigen Kund:innen optimiert ist, sondern für soziale Verbindung.
Seit ich das weiß, habe ich deutlich mehr Spaß am Small Talk. Neulich etwa habe ich mich zum ersten Mal länger mit dem Nachbarn aus dem dritten Stock unterhalten, als wir uns im Treppenhaus begegneten. Gleich anschließend habe ich meinem Mann stolz davon erzählt. Er nickte beifällig. Dann musterte er mein Gesicht und sagte: „Du hast da einen Salatrest zwischen den Zähnen.“
Verdammt, das hatte der Nachbar sicher auch gesehen. Kurz spürte ich einen unangenehmen Stich im Magen. „Naja“, sagte ich mir dann, „Hauptsache, Tanzen.“
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger