Fotomontage: Theresa Bäuerlein hat eine VR-Brille auf, über sie wird eine Szene auf der Autobahn projiziert.

Symbolbild: Theresa Bäuerlein/KR, Apriori1/Getty Images, Gabriella Clare Marino/Unsplash

Sinn und Konsum

Wie ich mein Gehirn austrickste, um weniger Angst zu haben

Seit Jahren lähmt mich meine Fahrangst. In einer Fachklinik probierte ich eine neue Therapie – mit VR-Brille. Erst wurde mir furchtbar übel. Dann lernte ich etwas Wichtiges.

Profilbild von Theresa Bäuerlein
Reporterin für Sinn und Konsum

Als mein Herz schneller zu klopfen beginnt und meine Brust sich anfühlt, als hätte jemand einen LKW-Reifen darauf abgelegt, wird mir klar, dass diese Sache schwieriger werden wird, als ich mir das vorgestellt habe. Sabrina Perick hatte mich ja gewarnt. „Das wird anstrengend heute“, hat die Psychologin gesagt, als sie mir Zettel über den Tisch schob. Darauf die Überschrift „AB 96/Vorbereitung/Nachbereitung einer Angst-Exposition.“

Es ist mein zweiter Tag in der Johannesbad Fachklinik Hochsauerland. Ich bin hier, weil ich Angst vor dem Autofahren habe. Und weil diese Klinik einen Therapieansatz anbietet, der in Deutschland noch sehr neu und ungewöhnlich ist: mit Virtual-Reality-Brillen gegen die Angst. Die Idee finde ich einerseits großartig, andererseits befürchte ich technische Spielerei, die am Ende doch nichts bringt. Ich muss gar nicht wirklich fahren, um meine Fahrangst zu verlieren? Brille auf und Ängste aus? Ich will unbedingt herausfinden, ob es klappt.

Die Arbeit mit VR-Brillen basiert auf der Idee der Expositionstherapie, bei der Menschen sich schrittweise Situationen aussetzen, die bei ihnen Ängste oder Traumata auslösen. Allmählich sollen sie so ihre Reaktionen auf diese Auslöser kontrollieren und überwinden lernen. Im echten Leben ist eine solche Therapie sehr zeit- und kostenaufwändig, weil Therapeut:innen ihre Patient:innen begleiten müssen, während diese etwa über hohe Brücken gehen, um ihre Höhenangst zu überwinden. Oder sich wieder und wieder mit ihnen ins Auto setzen, um auf die Autobahn zu fahren, weil sie Fahrangst haben. So wie ich.

Es kann jederzeit knallen! Je-der-zeit!

Diese Angst plagt mich bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten, seit ich als Beifahrerin eine Reihe von Autounfällen hatte. Es zerbrachen immer nur Blech und Glas, nie verletzten sich Menschen. Trotzdem habe ich seitdem die Überzeugung: Es kann jederzeit knallen! Je-der-zeit! Wenn ich mich ans Steuer setze, fährt mein Gehirn sofort seine Kapazitäten herunter. Ich bekomme einen Tunnelblick und vergesse, welches nochmal das Gaspedal ist.

Vor der Klinik habe ich bereits einen sehr ernsten und anstrengenden Versuch unternommen, meine Angst zu überwinden: eine DIY-Variante einer Expositionstherapie. Dafür habe ich mich bei einer Fahrschule angemeldet, um endlich den Führerschein zu machen. Ganz nach dem Prinzip: Einfach machen, dann wird es schon! Die Fahrprüfung habe ich nach einem Jahr Quälerei geschafft. Bei einer meiner ersten Autofahrten nach der Fahrprüfung stand ich auf dem zugeparkten Parkplatz eines Discounters, würgte den Motor zweimal ab und bekam Herzrasen. Seither bin ich nicht mehr gefahren.

Auf der Suche danach, wer oder was gegen diese Angst helfen kann, fand ich Programme mit spezialisierten Coaches und Fahrlehrer:innen, die Hunderte oder sogar Tausende von Euro kosteten. Oder klassische Therapien, für die man einen Therapieplatz braucht. Dann stieß ich auf das Angebot der Johannesbad-Klinik. Es klang fast zu gut, um wahr zu sein.

Ironischerweise wäre die Klinik deutlich besser per Auto zu erreichen, als mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Ein paar Mal am Tag wird sie von einem Mini-Bus angefahren, der in Schmallenberg startet und nirgends angeschrieben steht. Den letzten Bus um 17.22 Uhr verpasse ich nur deswegen nicht, weil ein Patient der Klinik, ein Herr in den 60ern mit blaurot gemustertem Hemd und Schiebermütze, mich mit meinem Rollkoffer herumirren sieht und rettet.

Das große, weiße Gebäude der Klinik ist in einen Berg hineingebaut. Es handelt sich um eine Reha-Klinik mit 232 Therapieplätzen, die Behandlungen werden von der Rentenversicherung oder der Krankenkasse bezahlt. Bis zu zehn Euro pro Kalendertag müssen die Patient:innen zuzahlen, je nach Kostenträger.

Drinnen gibt es viele lange, kühle Flure und große Fenster mit Blick ins Grüne und über das Tal. Der Einrichtungsstil erinnert an eine Jugendherberge, mit holzverkleideten Garderoben auf den Zimmern und einer Kantine, in der KiBa aus einem metallenen Saftspender fließt und große bunte Deko-Schmetterlinge an den Fenstern hängen.

Ich komme als Journalistin, nicht als Patientin, deswegen werde ich die VR-Therapie nur zwei Tage ausprobieren. Die Brille kann ich jederzeit abnehmen. Wie soll eine virtuelle Situation bei mir echte Angst auslösen?

„Wichtig ist, sich nicht zu sagen: Das ist ja nur eine Brille“

Am Vormittag des ersten Tages steht auf meinem Plan: „11.00 – 12.00 Uhr: In virtuo Konfrontation“. So nennen Therapeut:innen es, wenn Patient:innen sich einer Angst virtuell aussetzen, im Gegensatz zu in vivo, der realen Welt. Ich steige die Treppe hinunter, ins dritte Untergeschoss, in Zimmer 379 ist das Büro von Sabrina Perick. Sie ist Anfang dreißig und leitet stellvertretend die klinisch-psychologische Abteilung der Klinik. Ich stehe auf dem Flur herum und betrachte die abstrakte Kunst an der Wand, breite Streifen in rot und blau, während Perick drinnen mit einer Patientin spricht. Dann öffnet sie mir die Tür. Sie lächelt und macht eine einladende Geste nach innen. Ihr cremefarbener Pullover passt zur Einrichtung des Büros. Der Schreibtisch, die Wände, der Fußboden, fast alles hier ist in hellen Farben gehalten. Heute Morgen hat Perick mir hier schon kurz gezeigt, wie die VR-Brille funktioniert. Jetzt werde ich sehen, wie eine ihrer Patient:innen reagiert, wenn sie mithilfe der Brille ihre Angst konfrontiert.

Perick sitzt an einem kleinen Tisch, die Beine übereinandergeschlagen, und blickt konzentriert auf Natalie Kruse, die ihr gegenüber gerade die VR-Brille aufsetzt. Ich schätze Kruse auf um die 50 Jahre alt, ihre Augen hat sie mit dunkelgrauem Lidschatten geschminkt. Sie sitzt sehr gerade. In Wirklichkeit heißt Kruse anders, möchte aber nicht, dass ihr echter Name veröffentlicht wird. Ihr ist wichtig, dass sie selbst entscheiden kann, wer davon erfährt, dass sie unter einer Angststörung leidet. Die VR-Brille, die wie eine riesige Taucherbrille aussieht, hat sie auf dem Weg zu diesem Termin in ihrer Handtasche versteckt. Damit selbst die anderen Patient:innen nicht fragen, was sie damit macht, sagt sie. Kruse ist so nervös, dass sie heute noch nichts gegessen hat außer zwei Fruchtgummischnullern.

An einem Tisch sitzen sich eine Klinikangestellte und eine Patientin gegenüber. Die Patientin trägt eine VR-Brille.

Man ahnt es nicht, aber Frau Kruse (links) fährt gerade auf der Autobahn. Die Psychologin Sabrina Perick begleitet sie dabei. Foto: Theresa Bäuerlein/Krautreporter

Perick streicht sich die dunkelblonden, langen Haare zur Seite und beugt sich leicht vor. „Wichtig ist jetzt, sich nicht zu sagen, das ist ja nur eine Brille. Ich kann sie abziehen, ich kann sie ja weglegen, hier bin ich ja im Grunde sicher. Die Brille funktioniert am besten, wenn Sie versuchen, sich in das Video hineinzuversetzen“, erklärt die Psychologin. Und zerstört damit eine Illusion, an die ich mich geklammert hatte. Das war der Gedanke, der mir Sicherheit gegeben hat: Das ist alles nicht echt.

Wie ich leidet Kruse unter Fahrangst. Anders als ich ist sie 25 Jahre lang problemlos Auto gefahren. Dann, auf der Autobahn, es war Stau und die Luft voll Dieselgestank, Kruse stand unter Stress, bekam sie auf einmal eine Panikattacke. Seitdem hört die Angst im Auto nicht mehr auf. Heute stellt sie sich dieser Angst zum ersten Mal mithilfe der VR-Brille. Die Hände hat sie locker in den Schoß gelegt. Ich kann nicht sehen, was sie sieht, aber sie kommentiert laufend mit.

In der virtuellen Welt fährt Kruse auf einem Parkplatz herum.

„Wo ist die Anspannung bei Ihnen jetzt, auf einer Skala von 1 bis 10?“, fragt Perick.

„Im Brustkorb“, sagt Kruse. „Bei sechs.“ Sie lehnt sich zurück. „Jetzt wiederholt sich das Video“, erklärt sie. Maximal fünf Minuten Video kann die Brille abspielen, danach stoppt das Programm oder geht von vorne los. Es läuft ab wie ein kurzer Film, beeinflussen geht nicht, nur ansehen. Mit dem Unterschied, dass der Film die Perspektive der Person einnimmt, die die Brille trägt. Wendet diese den Kopf, verändert sich der Blickwinkel wie im echten Leben.

„Okay. Beenden Sie das Video einmal“, sagt Perick.

Ziel dieser Sitzung ist, dass Kruse eine angstauslösende Situation erlebt und solange darin bleibt, bis die Angst abfällt. Dabei helfen werden ihr Strategien, die sie vorher geübt hat: Kruse kann die Lippenbremse anwenden, eine Technik, bei der sie durch die leicht gespitzten Lippen ausatmet. Das verlangsamt den Atemstrom, erhöht den Luftdruck in den Atemwegen und sorgt für Entspannung. Sie kann progressive Muskelentspannung anwenden, also die Muskeln in den Armen gezielt anspannen und wieder lockerlassen. Sie kann an einen Satz denken, den sie sich mit Perick gemeinsam zurechtgelegt hat: „Die Angst kommt und geht, die Unruhe kommt und geht.“

Was sie nicht tun soll: Musik hören und mitsingen, Bonbons lutschen, Wasser trinken. Das alles sind Vermeidungsstrategien, die Kruse sich angewöhnt hat.

Man kann sich Angst nicht abgewöhnen – was hilft, ist etwas anderes

Viele Angstpatient:innen legen sich Vermeidungsstrategien zu. Wer zum Beispiel unter einer Agoraphobie leidet, also Angst hat vor öffentlichen Orten, Menschenmengen oder einengenden Situationen, geht vielleicht nur noch mit Mütze, Sonnenbrille und dicker Jacke einkaufen, weil die Verkleidung sich wie ein Schutz vor der Außenwelt anfühlt. Das kann kurzfristig helfen, ist aber langfristig eher schlecht, weil die Betroffenen der Verkleidung zuschreiben, dass sie nur deshalb einkaufen können.

Früher, hat Perick mir erklärt, ging man davon aus, dass Konfrontationstherapien wirken, weil die Betroffenen sich allmählich an die angstauslösenden Situationen gewöhnen. Mittlerweile glaubt man, dass die eigene Kompetenzerfahrung entscheidend ist. Zu erleben also: Ich habe etwas geschafft.

Im Zimmer hört man nur ein leises Rauschen, das aus der Brille strömt. Kruse hört es viel lauter. Sie fährt auf der Autobahn. Die Brille, die sie trägt, ist die Pico G3. Sie verfügt über ein 4K-Display und bilaterale Stimulation, der Sound läuft also von einem Ohr zum anderen und wirkt damit realistischer.

„Es ist Stau“, berichtet Kruse. „Rechts neben mir fährt ein LKW vorbei, links ist ein PKW. Ich hoffe, dass ich nicht gleich auf beiden Seiten LKW habe …“ Bis eben hatte sie die Füße locker auf den Boden gestellt, jetzt spannt Kruse sie an, als müsste sie bremsen. „Am liebsten würde ich auf den Standstreifen fahren“, murmelt sie.

„Wie ist die Anspannung jetzt?“, fragt Perick. „Acht“, sagt Kruse. Bis eben noch hat sie erzählt, was sie sieht, jetzt verstummt sie, scheint in sich selbst zu verschwinden. Perick beugt sich vor. „Denken Sie an ihre hilfreichen Strategien“, sagt sie eindringlich.

„Die Angst kommt und sie geht wieder“, sagt Kruse. Sie atmet durch die Nase ein, durch den Mund aus.

„Wie ist die Anspannung?“, will Perick wissen.

„8,5“, sagt Kruse noch leiser als davor. „Ich fahre unter einer Brücke durch. Ich habe nicht gesehen, ob da jemand auf der Brücke steht. Der LKW hat es verdeckt.“

Nach 40 Minuten sagt Perick, dass es für heute reicht.

Kruse nimmt die Brille ab, schließt kurz die Augen. „Puh“, sagt sie. Dann eine Weile nichts. Sie greift nach dem Taschentuchspender. Ich glaube, sie weint.

Der Arzt sagt: VR-Therapie kann keine Menschen ersetzen

„Das Gehirn kann nicht unterscheiden, ob wir etwas in einer virtuellen Welt machen oder in der realen Welt. Das Gehirn reagiert immer gleich“, sagt Jens Schneider, Chefarzt der Klinik, mir am zweiten Tag. Er hat weißes Haar und trägt von Kopf bis Fuß dunkelblaues Denim. Wir sitzen mit Sabrina Perick in seinem Büro. Dem Schreibtisch des Doktors sieht man an, dass er schon 27 Jahre in dieser Klinik arbeitet: Stapel von Papieren und Büchern liegen darauf wie Sedimente in einem Gestein.

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„Der Grund, warum die VR-Therapie so gut funktioniert, ist: Man kann ein und dieselbe Situation so oft wie nötig wiederholen, und das trainiert das Angstzentrum im Gehirn. Irgendwann sagt das Gehirn: ‚Okay, die Befürchtung, dass, sagen wir, die Brücke gleich abreißt oder ich 50 Meter in die Tiefe stürze – das passiert einfach nicht.‘ Die Angstreaktion, die ja ursprünglich eine Signalangst ist, die uns vor echten Gefahren warnen soll, wird sozusagen desensibilisiert.“

Zwei Angestellte der Klinik stehen nebeneinander und blicken in die Kamera. Die Frau auf der linken Seite hat blonde Haare und trägt einen weißen Pullover mit Firmenlogo drauf, der Mann auf der rechten seite trägt eine Jeansjacke und hat graue Haare.

Sind begeistert von VR-Therapie: Psychologin Sabrina Perick und Chefarzt Jens Schneider. Foto: Theresa Bäuerlein/Krautreporter

„Könnte das auch ins Gegenteil umschlagen? Dass man sich mit so einer VR-Brille die Angst zu sehr abgewöhnt, und auf der Autobahn denkt „Ich kann hier fahren, wie ich will?“, frage ich.

„Nein“, antwortet Schneider. „Die Signalangst, die uns davor schützt, uns in gefährliche, potenziell lebensbedrohliche Situationen zu begeben, bleibt eigentlich immer erhalten.“

Kann die VR-Therapie Therapeut:innen irgendwann ganz ersetzen? Immerhin wirbt Psylaris, der niederländische Anbieter, mit dem die Johannesbad-Klinik zusammenarbeitet, so für das Angebot: „Da unser Produkt vom Kunden selbständig angewendet werden kann, sparen Sie viel Zeit, die Sie normalerweise für eine persönliche Behandlung aufwenden würden.“

Schneider wirft Perick einen Blick zu und seufzt kurz. „Dem Vorwurf, dass wir ja nur Personal einsparen wollen, begegnen wir immer wieder“, sagt er. Die Exposition mit der VR-Brille müsse immer von Therapeut:innen begleitet werden. Selbst wenn Patient:innen allein damit übten, müsse das immer in eine kognitive Vor- und Nachbereitung eingebettet werden.

Noch gibt es keine Langzeitstudien, die zeigen, wie nachhaltig dieser Effekt ist. Was auch daran liegt, dass die Technik relativ jung ist. Mehrere qualitativ gute Meta-Analysen zeigen aber, dass die VR-Therapie mindestens so gut wirken kann wie die klassische Exposition in der realen Welt. Die wissenschaftlichen Belege sind besonders überzeugend bei spezifischen Phobien – also bei starken, unbegründeten Ängsten vor bestimmten Dingen (wie Spinnen oder Spritzen) oder bestimmten Situationen (wie engen Räumen oder großer Höhe).

Kann ich mein Gehirn wirklich austricksen?

Ich fühle mich zumindest technisch gut vorbereitet, als ich am späten Vormittag des zweiten Tages ins Untergeschoss steige, um endlich selbst meine Fahrangst zu konfrontieren. Gestern Abend habe ich allein in meinem Zimmer ausprobiert, was die Brille alles kann: Ich ließ mir eine riesige Würgeschlange zeigen (süß!), lag in einem virtuellen Bett, während vor meiner Tür jemand herumschlich (gruselig), stand im Park neben einer Gruppe Jugendlicher, die laut Musik hören (ließ mich kalt). Die Situationen, die mich wirklich triggern, also die Autofahrprogramme, durfte ich nicht öffnen.

Nun sitze ich auf dem Stuhl, auf dem gestern Kruse über die Autobahn gedüst ist. „Wie ist die Anspannung bei Ihnen gerade?“, fragt Perick. „Sechs“, sage ich. Mein Herz klopft schnell und ich habe feuchte Hände. Tatsächlich fühle ich mich, als würde ich gleich in ein Auto steigen. Kurz sprechen wir über den Zettel, den ich als Vorbereitung auf die Sitzung ausgefüllt habe. „Was sind meine Erwartungen und Befürchtungen?“, lautet eine Frage. „Was kann im schlimmsten Fall passieren?“ Als Antwort habe ich eingetragen: „Ich kriege Angst und kann mich nicht mehr konzentrieren. Ich bleibe stehen und blockiere alles. Ich baue einen Unfall.“

Die Autorin sitzt am Tisch und trägt eine VR-Bille. Sie ist weiß und bedeckt den größten Teil ihres Gesichts.

Hier sitze ich und bemühe mich krampfhaft, entspannt zu bleiben. Foto: Theresa Bäuerlein/Krautreporter.

„Was könnte ein hilfreicher Satz für sie sein, wenn die Angst kommt?“, fragt Perick.

„Mir wird nichts passieren?“, schlage ich vor.

„Ich hoffe, ich mache die Angst damit nicht schlimmer, aber beim Autofahren kann ja tatsächlich etwas passieren. Wie wäre es mit: Ich fahre gut genug und vorsichtig?“, sagt sie.

„Okay“, sage ich. Die Worte fühlen sich irgendwie richtig an. Vorsichtig bin ich auf jeden Fall. Bei ‚gut genug‘ habe ich noch meine Zweifel.

Ich schalte die Brille ein. Sofort passiert etwas, das ich aus der Fahrschule kenne: Ich habe einen Blackout. Auf einmal weiß ich nicht mehr, wie die Brille funktioniert. Perick leitet mich durch. In der rechten Hand halte ich einen Controller, klicke erst auf „360° Video“, dann auf „Verkehr“. Ich wähle „Parkplatz an der Autobahn“. Schon sitze ich im Auto. Die Hände auf dem Lenkrad sind nicht meine, sondern recht fleischige Männerhände. Es stört mich, dass sich das nicht anders einstellen lässt. Meine eigenen Hände lege ich auf den Beinen ab.

Im Video fahre ich aus einer Parklücke, biege dann auf eine Straße ein. Es fühlt sich nicht wirklich an, als würde ich Autofahren, weil ich keine Pedale treten und überhaupt das Video nicht beeinflussen kann. Doch was ich sehe, ist realistisch genug, um mich nervös zu machen.

Rechts sind Fußgänger. Mein Atem stockt. Was machen die? Rennen die gleich auf die Straße? Ich spüre, wie ich die Luft anhalte. Dann kommt eine Verkehrsinsel, eine Auffahrt auf die Autobahn. Es geht mir alles viel zu schnell, ich möchte langsamer fahren, aber das kann ich nicht steuern.

„Durch die Nase einatmen“, höre ich Pericks Stimme. „Durch den Mund ausatmen.“

Nach fünf Minuten ist das Video vorbei. Angefühlt hat es sich wie dreißig Sekunden. Ich starte das gleiche Video noch einmal. Wieder die Fußgänger, die Verkehrsinsel. Diesmal bin ich schon weniger aufgeregt. Ich biege auf die Autobahn ein und – dann wird mir plötzlich sehr, sehr schwindelig. Abrupt ziehe ich die Brille vom Kopf. Frau Perick öffnet das Fenster. Ich atme tief durch und fluche innerlich. Ich werde schnell reisekrank und Perick hatte mir erklärt, dass manchen Menschen in der virtuellen Realität schwindelig wird.

Der Fachbegriff dafür lautet Cybersickness, laut der Universität Witten/Herdecke erleben 30 bis 80 Prozent der Anwender:innen ein gewisses Maß davon. Sie entsteht durch einen Konflikt der Sinne: Die Augen sehen Bewegung in der virtuellen Welt, aber der Gleichgewichtssinn im Innenohr fühlt keine echte Bewegung. Ich bin enttäuscht. Ob Medikamente helfen? Ich möchte noch einmal fahren! Perick ist skeptisch. Medikamente gegen Reisekrankheit helfen zwar gegen die Übelkeit, wirken aber dämpfend auf das Nervensystem. „Es könnte sein, dass das ihre Angstreaktion einschränkt“, sagt sie.

Also mache ich eine Pause.

In der Schlange vor der Essensausgabe begegne ich Kruse. Heute hat sie weiße Lidschattenpunkte in den Augeninnenwinkeln. Heute Morgen, erzählt sie und wirkt gut gelaunt, war sie in der VR-Gruppentherapie und ist wieder Autobahn gefahren. „Ich muss das konfrontieren“, sagt sie. Sie erzählt, dass ihr einmal jemand von einer Autobahnbrücke einen Stein auf die Windschutzscheibe geworfen hat. „Das hat ganz schlimm geknallt!“ Seitdem schaut sie beim Fahren ganz genau auf die Brücken.

Jetzt nicht in den Papierkorb übergeben

Ich fahre wieder, schon seit zehn Minuten. Die fleischigen Männerhände liegen auf dem Lenkrad, ich habe mit dem Segen von Doktor Schneider eine Tablette „Vomex“ geschluckt. Elegant schere ich auf die Autobahn ein und brause gleich auf die Überholspur. Ich spüre Stolz auf meine Fahrkünste. Was total widersinnig ist, weil ich ja nach wie vor nicht im Auto sitze, sondern auf einem Stuhl in einem Büro und weil ich überhaupt nicht beeinflussen kann, wie das Auto fährt. Offenbar ist das meinem Gehirn aber egal. Tollkühn wähle ich als nächstes Video „Von der Autobahn abkommen“.

Die Sicht eines Autofahrers. Er befindet sich auf einer Schnell- oder Landstraße. Hände halten ein Lenkrad fest.

Das sehe ich, als ich mit der VR-Brille über die Autobahn fahre. Diese Hände sind nicht meine eigenen, das irritiert mich ziemlich. Foto: Psylaris

„Ich fahre gut genug und vorsichtig“, sage ich mir innerlich vor, als das Bild zu ruckeln beginnt, weil das Auto über den Standstreifen rumpelt, dann wieder auf die Autobahn zieht. Es ruckelt wieder. Ich spüre die Enge in der Brust und atme. Die Idee bei der Konfrontationstherapie, habe ich gelernt, ist nicht, keine Angst zu haben. Sondern mit der Angst umzugehen. Auf diese Weise soll sie mit der Zeit schwächer werden. Das Gehirn lernt: Hier muss nicht so stark gewarnt werden.

Gerade fahre ich über einen schneebedeckten Parkplatz, diesmal tragen die Hände auf dem Lenkrad Handschuhe, als mir plötzlich wieder schlecht wird. Ich nehme die Brille ab, Frau Perick zieht vorsichtshalber den Taschentuchspender und ihren Mülleimer heran. „Sie wären nicht die erste“, sagt sie. Ganz sicher möchte ich mich jetzt nicht in ihrem Büro übergeben. Der Übelkeit wegen, aber auch, um mir meinen Frust nicht anmerken zu lassen, schließe ich die Augen. Ich fühle mich von meinem Gehirn verraten. Ich wollte lernen, die Angst herunterzuregeln, stattdessen habe ich nun ein neues Problem. Cybersickness.

„Immerhin, sie sind 30 Minuten Auto gefahren“, sagt Perick. Ich stutze und schaue auf die Uhr. Sie hat recht! Ich denke kurz nach. „Mir ist zwar ziemlich schlecht, aber ich glaube, das Fahren hat mir gutgetan“, sage ich und bin dabei etwas verlegen, denn mit meinen tatsächlichen Fahrfähigkeiten hatte die letzte halbe Stunde ja gar nichts zu tun.

„Was daran war gut für sie?“, fragt Perick.

„Ich habe einfach das Gefühl, dass ich gefahren bin“, sage ich.

„Genau das ist es, was wir hier erzielen wollen“, sagt Perick. „Dass sie eine korrigierende Erfahrung machen. Was sie gerade erleben, ist Selbstwirksamkeit.“

Ich bin immer noch skeptisch. Kann es so einfach sein? Ist mein Gehirn wirklich so leicht zu übertölpeln?

Zwei Tage später sitze ich tatsächlich in einem Auto, in vivo sozusagen. Ich drehe den Zündschlüssel und löse die Handbremse. „Ich fahre gut genug und vorsichtig“, sage ich leise. Und spüre so etwas wie eine plötzliche, kurze Freude. Es soll ja Menschen geben, denen Autofahren Spaß macht. Wer weiß, vielleicht könnte ich eines Tages so jemand sein?


Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger

Wie ich mein Gehirn austrickste, um weniger Angst zu haben

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