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Wie geht es dir heute, ein paar Tage nach der Wahl? Mir besser, als ich erwartet hätte. Und das liegt nicht daran, wie die Wahl ausgegangen ist.
In der Woche vor der Bundestagswahl war ich so niedergeschlagen wie lange nicht mehr. Als ich am Wochenende am See spazieren ging, hörte ich, wie die Vorbeigehenden immer wieder „AfD“ sagten, als ich mich zum Kaffee hinsetzte, diskutierte das Paar neben mir über Trump, als ich an der Bank Geld zog, rief eine Frau in ihr Handy: „Das ist so schlimm für die Menschen, die sowieso schon kämpfen müssen.“
Ich dachte an die Gespräche, die ich mit meinen Freundinnen und Freunden in den vergangenen Jahren geführt habe, darüber, dass sich ein Gefühl diffuser Schwere über unsere Leben gelegt hat. Das im Hintergrund immer mitläuft, wie ein Hund, der einem hartnäckig auf der Straße folgt, manchmal weiter weg, manchmal näher dran, aber immer da. Und ich dachte an ein Interview mit dem Trauerexperten David Kessler, das ich zu Beginn der Corona-Pandemie geführt hatte.
Kessler sagte: „Wir verarbeiten gerade alle den gemeinsamen Verlust der Welt, wie wir sie kannten.“
Ich ging gerade am See entlang, als mir dieser Satz einfiel. Auf einmal wurde mir klar, dass das Gefühl, das ich und viele andere seit einigen Jahren spüren, tatsächlich Trauer ist. Ich erkannte es wieder. Dieser verdammte Hund, der mir folgte, war gar kein Fremder, sondern jemand sehr Vertrautes für mich.
Was wir gerade wirklich nicht brauchen, ist noch mehr Einsamkeit
Immer wieder hört man, dass es wichtig sei, Gefühle zu benennen. Ich habe das nie sonderlich ernst genommen. Aber dieser Moment, in dem ich die Trauer erkannte, war fast befreiend. Es war, als würde ich endlich verstehen, was mich so erschöpft. Ich dachte an die Menschen, mit denen ich in den letzten Jahren gesprochen hatte, an die Wut, die Hilflosigkeit, das Gefühl, einer Entwicklung ausgeliefert zu sein, die sich nicht aufhalten lässt.
Vielleicht geht es dir wie mir und beim Lesen solcher Sätze meldet sich sofort ein schlechtes Gewissen. Vielleicht denkst du, es sei anmaßend, von Trauer zu sprechen, wo es uns in Deutschland doch vergleichsweise gut geht.
Gestern schrieb mir meine Freundin Yudit aus Tel Aviv. Sie erzählte, dass sie sich schlecht fühle, weil sie über die politische Lage verzweifelt ist, obwohl sie doch immerhin in relativer Sicherheit lebt. Während nur wenige Kilometer entfernt Babys in Gaza an Unterkühlung sterben und Geiseln in den Tunneln der Hamas festgehalten werden. Yudits Nachricht zeigte mir, wie tief dieser Mechanismus sitzt: das Gefühl, dass das eigene Leid nicht legitim ist, solange es noch größeres Leid gibt.
David Kessler sagte mir damals:
„Wissen Sie, wir sind die erste Generation, die Gefühle unseren Gefühlen gegenüber hat. Das heißt, wir fühlen etwas und dann denken wir, dass wir das nicht fühlen sollten oder dass das ein schlechtes Gefühl ist oder dass wir uns von unserer Traurigkeit nicht runterziehen lassen sollten. So funktioniert das nicht. Wir kommen nicht daran vorbei, Gefühle zu fühlen.“
Ich glaube, er hat recht. Es ist wichtig, trauern zu können, ohne sich dafür zu schämen. Denn Scham isoliert, und was wir gerade wirklich nicht brauchen, ist noch mehr Einsamkeit.
Trauer ist keine Schwäche, sie verbindet
In seinem Buch „Verlust“ schreibt der Soziologe Andreas Reckwitz, dass Menschen in modernen Gesellschaften Verluste nur schwer aushalten können. Fortschritt, Wachstum, Optimierung – all das suggeriert, dass es immer nur nach vorne geht. Doch in Wahrheit verlieren wir ständig etwas: Sicherheiten, Gewohnheiten, Vorstellungen von der Welt, wie sie einmal war oder wie sie hätte sein können.
Vielleicht kommt daher dieses Gefühl der Schwere, das so viele von uns begleitet. Weil wir gelernt haben, Verluste zu verdrängen. Wenn Sicherheiten bröckeln, Arbeitswelten sich wandeln, politische Ordnungen ins Wanken geraten oder vertraute gesellschaftliche Werte infrage gestellt werden, tun wir oft so, als müssten wir tapfer lächeln und nach vorne blicken, als wäre es Schwäche, dem nachzutrauern, was einmal war.
Populist:innen, so Reckwitz, nutzen genau das aus. Sie greifen diese Verlustgefühle auf und präsentieren sich als die Einzigen, die sie ernst nehmen. Sie geben dem diffusen Gefühl der Schwere eine Richtung und einen Schuldigen.
Vielleicht war das die zweite Erkenntnis dieses Tages: Dass wir alle nicht nur eine politische Krise oder einen gesellschaftlichen Umbruch erleben, sondern auch eine Trauer, die wir miteinander teilen und deshalb auch gemeinsam verarbeiten können. Dafür ist es aber erst einmal wichtig, dass wir sie überhaupt erkennen und benennen – bei uns selbst, aber auch bei anderen.
Wie David Kessler sagte: „Wenn wir unsere Gefühle verneinen, arbeiten sie gegen uns.“
Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Susan Mücke