Ein Mann liegt in einer Liege am Strand und schaut auf das Meer. Am Himmel sind Sterne zu erkennen.

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Sinn und Konsum

Ich faste. Warum tue ich mir das an?

Acht Tage ohne Essen und ich bin kein Genussmensch mehr, sondern ein Wesen ohne Triebe. Das fühlt sich merkwürdig gut an.

Profilbild von Roland Rödermund

Bei 1,85 Metern wiege ich zu Beginn meiner Fastenreise 88 Kilogramm. Ich selbst wundere mich, dass es nicht mehr sind. Zwar frühstücke ich unter der Woche nicht, weil ich morgens keinen Hunger habe, und bewege mich einigermaßen viel, nehme aber beim Essen sehr große Mengen und viele Kohlenhydrate zu mir. Und eigentlich immer Nachschlag. Ein Arzt attestierte mir mal eine hohe Knochendichte. Das sei grundsätzlich gut, führe aber dazu, dass mein Gewicht nicht ganz zu meiner Konstitution passe. Es sei zu hoch. Der Body-Mass-Index-Rechner der Deutschen Gesellschaft für Adipositas kennt da keine Grauzonen:

„Ihr BMI ist 25,7. Sie haben Übergewicht“, steht als Ergebnis da.

Ok, weird. Dass der Body-Mass-Index das Körpergewicht zur Körpergröße im Quadrat in Beziehung setzt, gilt zwar schon lange als überholt und umstritten, da das wichtige Faktoren wie Verteilung, Unterscheidung Muskeln/Fett/Knochen, Statur, biologisches Geschlecht außer Acht lässt. Mein schlechtes Gewissen triggerte diese undifferenzierte Behauptung aber voll. Ich halte mich selbst für schlank und mit einem guten Stoffwechsel gesegnet, das mit der Body Positivity klappt aber nur bei anderen Menschen. Mit mir selbst kann ich sehr hart ins Gericht gehen, etwa wenn ich, wie durch die Sizilien-Schlemmerreise neulich, ein paar Kilo zunehme. 

Deshalb faste ich jetzt. Als Maßregelung. Um mein Gewicht zu halten beziehungsweise in den Zustand zurückzukommen, in dem ich mich wohlfühle. Auch wenn ich weiß, dass es ein bisschen unlogisch ist. Denn die Kilos, die ich verlieren werde, werden sich vermutlich bald wieder als fleischige Boomerangs um meine Hüften heften. Fasten ist keine Nulldiät, aber kann es diesmal vielleicht doch der Einstieg in eine dauerhafte Umstellung zu gesünderer, maßvollerer Ernährung sein? Ich bin skeptisch, aber nicht hoffnungslos.

Im Alltag dreht sich ein nicht gerade kleiner Teil meiner Gedanken ums Essen in all seinen Facetten. Es geht um Essen aus Hunger, Appetit und Langeweile, darum, was Restaurantbesuche inzwischen kosten, ob ich mittags schon wieder Pasta essen sollte und den Kaffee am Morgen mit Hafer-, Mandel-, Soja- oder ganz ohne Milch trinke. Oder ob Letzteres nicht eine Keule für den Magen ist und überhaupt: Kaffee!? Auch für mich hat Essen oft mit Belohnung oder auch Bestrafung zu tun, indem ich längere Stunden nichts esse, wenn ich am Vortag „gesündigt“ habe. 

Manchmal stelle ich mir die rauen Mengen aller in meinen Augen ungesunden oder überflüssigen Dinge, die ich im Laufe meines Lebens in mich gestopft habe, auf riesigen Haufen vor: einen für Burger und Pommes, einen für Schokolade, einen für Weingummi, einen für Lakritz, einen für Fleisch, ein riesiges Becken – vielleicht auch schon ein See – für Alkohol. Und mich schauderts. 

Das Fasten ist meine Methode, mich dem für einen kurzen Zeitraum zu entziehen. Ich faste allein zuhause und wie immer insgesamt zehn Tage. Erst wird es zwei Tage Gemüsesuppe geben, dann geht es für acht Tage ins sogenannte Heilfasten, was ich bisher nicht so extrem gemacht habe, da es sonst auch Säfte gab oder mal Rohkost: diesmal ausschließlich Wasser, Tee, etwas Brühe und ab und zu morgens einen Teelöffel Honig, wenn ich mich schlapp fühle. 

Nichts zu essen ist für sehr viele Menschen kein freiwilliger Akt, sondern geschieht aus purer Not oder aufgrund einer psychischen Krankheit. Bei mir geht es um freiwilligen, vorübergehenden – nicht wenige würden sagen: extremen – Nahrungsverzicht. Es ist meine persönliche Entscheidung. 

Ich befand mich irgendwo zwischen Irritation und Irrigator

Freiwillige Selbstgeißelung – wir gehen rein: An den ersten beiden, den Entlastungstagen, löffle ich also meine minutiös geschnippelte Gemüsesuppe, sie ist salz- und absolut freudlos. Mein Körper dankt mir den Zucker- und Fettentzug gleich zu Anfang mit hämmernden Kopfschmerzen und Schüttelfrost. Schwarzen Kaffee erlaube ich mir noch, weil mich migräneartige Zustände schon einmal komplett lahmlegten, schleiche ihn aber nach und nach aus, indem ich koffeinfreies Pulver untermische. 

Für die nächsten Tage bin ich sozial und körperlich eingeschränkt. „Nee, ich faste doch dann gerade“, wird die Standard-Whatsapp-Antwort, mit der ich Restaurantdates mit Freund:innen absage oder in Teetrinken mit Spazieren umwandeln möchte. Es ist mir auch unangenehm, weil es so spaßbremsig und lustfeindlich klingt. 

Warum tue ich mir das an? Was bringt mich und Millionen andere Menschen regelmäßig dazu, sich das natürlichste Verhalten der Welt zu versagen? Mit dem Atmen würde ich ja auch nie freiwillig aufhören. Ein paar Antworten werde ich in den verbleibenden acht Tagen finden. Eine lautet: Schlacken gibt es nicht, wir Menschen sind keine Hochöfen. Trotzdem ist Fasten gesund. Ich werde mich außerdem in Käpt’n Valium verwandeln, meine innere Gebetsschwester entdecken und mich vorübergehend von einem Mann, der an keiner Bäckerei vorbeigehen kann, ohne sich jedes Croissant nackt vorzustellen, in ein triebloses Wesen transformieren. Ich werde mich selbst damit überraschen, dass sich das ziemlich gut anfühlt. 

An Tag 1 des kompletten Fastens stelle ich also das Suppeschlürfen und jegliches Essen erstmal ein – und liege schon tags darauf eingerollt mit Wärmflasche und glasigem Blick auf dem Sofa, kulinarisches Kopfkino in Dauerschleife abspulend. Mein Körper wehrt sich noch nach Leibeskräften gegen den Nahrungsentzug. Der Tiefpunkt: Als ich mich das erste von sechs Malen in den nächsten Tagen auf den kalten Badezimmerfliesen befinde, nackt und im herabschauenden Hund, den Irrigator (medizinisch für Einlauf-Eimer) mit Schlauch und Darmrohr im Anschlag. Als dann das wohltemperierte Wasser mit kontrolliertem Druck Doggy-Style in mich einfließt, frage ich mich unter Kopfüber-Schwindel: „Und das soll jetzt mein Urlaub sein?“

Wer ist eigentlich dieser Hangry?

Obwohl Heilfasten oft als ein Einstieg in eine ganzheitliche und dauerhafte Ernährungsumstellung empfohlen wird, etwa von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e.V. weiß ich: Das ist bei mir so eine Sache. Auch, wenn ich ein paar Tage, manchmal sogar Wochen, nach einer Fastenphase deutlich weniger Appetit auf Alkohol, Pommes oder Süßes habe und vor allem Milchprodukte oder Backwaren ungläubig bis abschätzig betrachte („DAS kann man essen?“), pendelt sich meine Ernährung sicher bald wie von selbst bei einem hedonistischen „Everything Everywhere All at Once“ ein. 

Davon rät Daniela Koppold natürlich ab. Sie berät als klinische Ärztin für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin Patient:innen zu allen medizinischen Aspekten des Fastens und forscht unter anderem am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie an der Charité-Universitätsmedizin. Aber, erfreulicherweise: „Auch kurze Fasteneinheiten haben positive Effekte auf Gesundheit und Erneuerungsprozesse im Körper. Die sind dann zwar dementsprechend kleiner und weniger nachhaltig, lassen sich aber nachweisen“, so Koppold.  

Zwar falle es etwa Leuten mit etwas mehr auf den Rippen leichter als sehr schlanken, aber laut Koppold kann jeder gesunde Mensch grundsätzlich fasten, auch wenn manche länger brauchen, um sich darauf einzustellen. Und: „So richtig hangry sind beim Fasten übrigens die wenigsten. Das Phänomen tritt eher dann auf, wenn im Alltag spontan eine Mahlzeit auf sich warten lässt oder ausfällt“, erklärt sie. „Wenn man aber darauf vorbereitet ist, wie im Fasten, kommt das meistens gar nicht erst auf.“ Ihre Empfehlung, wenn man nicht zur Ruhe kommt: eine Wärmflasche.

Wir sind ja kein Hochofen

Die ist auch für mich die nächsten Tage der absolute Fastensymptome-Flex. Und schon bald nach den anfänglichen Strapazen, heute ist der dritte Nullfasten-Tag, bin ich im Groove. „Nach etwa zwei bis drei Tagen lässt der Stress für den Körper nach“, erklärt Daniela Koppold. „Ihr Körper stellt sich von Glukose- auf Fettverbrauch um, genannt Ketose. Die Fettreserven wurden angezapft, woraus Ketonkörper entstehen, die als neue Energiespender dienen.“

Der populäre Glaube, dass der Körper beim Fasten sogenannte „Schlacken“ oder Giftstoffe (die ich mir als üble teerartige Ablagerungen im Darm festsitzend vorgestellt habe) ist übrigens ein Irrtum. „Ich wehre mich sehr gegen diesen Begriff, der impliziert, dass wir innerlich verdreckt sind. Wir sind ja kein Hochofen“, sagt Koppold. Tatsächlich leeren sich die Glycogenspeicher, Harnsäure wird gesenkt, und veraltetete Zellbestandteile wie Proteinablagerungen werden verstoffwechselt. „Wenn man will, kann man da im übertragenen Sinne von ‚Schlacken‘ sprechen, aber ich finde den Begriff eher unglücklich.“

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Aber: Was ist mit meinen hart erarbeiteten und langsam auch mit Mitte 40 schwindenden Muskeln? Werden die jetzt in Nullkommanichts abgebaut? Betreibe ich durch vermeintliche Gesundheitsoptimierung nicht an anderer Stelle vielleicht sogar Raubbau? Diese Sorge ist unbegründet, wenn man sich während des Fastens zu einem leichten Bewegungsprogramm aus Spaziergängen und etwas Yoga oder Gymnastik überwindet. Eher werden alte und kranke Zellen und Fettgewebe, die mein Körper sowieso nicht mehr braucht, abgebaut (das wies diese internationale Studie der Université de Strasbourg, der Charité-Universitätsmedizin sowie einigen anderen Universitäten nach). 

Ich bin mein eigener Recyclinghof

Mein Organismus schaltet so langsam auf Autophagie um. Aus dem Altgriechischen kommend bedeutet das „sich selbst verzehrend“. Das klingt erst mal dramatisch und ein bisschen nach Körperfresser-Horror. Dabei kann man es sich mehr als Müllabfuhr in meinem System vorstellen: Alles Überflüssige, alte Zellen, fehlgefaltete Proteine oder beschädigte Zellorganellen, werden verwertet oder abtransportiert. Dieses Recyclingprogramm schafft nicht nur Platz für Neues, sondern hat sogar lebensverlängernde Effekte. 

Während mein Körper aufräumt, wird im Kopf der BDNF (Brain-derived neurotrophic Factor) getriggert. Dieser Wachstumsfaktor repariert alte Synapsen, bildet neue und räumt unnötige Verbindungen auf. Ich spüre es: Ordnung, Klarheit, Frische. Übrig bleibt eine etwas verjüngte Version meiner selbst.

Zusätzlich sorgt der Körper für Serotoninausschüttung. „Das ist evolutionsbedingt“, erklärt Koppold. „Früher mussten wir bei Laune bleiben, wenn Nahrung mal wieder knapp war. Das half sicherlich dabei, neue Nahrungsquellen ausfindig zu machen.“ Dazu kommt die psychologische Komponente: Dieses Gefühl von „Ich schaffe das!“ hebt die Stimmung zusätzlich.

Ist Fasten nicht auch ein bisschen Hungerstreik?

Eigentlich kann man ja gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte. Zum Zeitpunkt meines Fastens, es ist Anfang November, prasseln schlechte Nachrichten wie eine kalte Dauerdusche hernieder: Trumps Wiederwahl, der Klimawandel, die AfD, FDP-Lindner und der Bruch der Ampel-Koalition. Im Normalfall verfalle ich daraufhin in Doomscrolling-Schockstarre. Und konsumiere alles, was Comic Relief bietet: Hundevideos, Dr. Pimple Popper, @natureismetal und Mitschnitte der Eras-Tour. Nun aber melde ich mich vorübergehend bei Insta und der digitalen Betäubungsschleife ab. Neben dem Nahrungsentzug verordne ich mir Social-Media-Detox und schaue und lese auch, zumindest ein paar Tage, keine Nachrichten, was mir beides ungleich schwerer fällt als der Verzicht auf Essen. Es fühlt sich aber auch ein kleines bisschen an wie eine persönliche Mini-Revolte.

Fasten hatte übrigens schon immer neben der religiösen eine politische Dimension. Im Mittelalter verweigerten sich die Heiligen, allen voran Katharina von Siena, durch Askese dem patriarchalischen System, das sie zur Ehe zwang. Der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas, den Christine Ott in ihrem Buch „Identität geht durch den Magen – Mythen der Esskultur“ zitiert, beschreibt es im Kapitel „Eating Trouble – Gender Trouble“ so: Die Frauen entzogen sich der ihnen zugedachten Rolle, indem sie dem „Objekt des Streites“, ihrem Körper, den Brautwert nahmen. Ihr Fasten wurde zur Waffe, zur Verweigerung, zur Befreiung.

Aber jetzt mal unter uns Gebetsschwestern: Reihe ich mich nicht eh in eine lange Tradition ein? Schließlich ist Fasten so viel mehr als nur eine körperliche Praxis. In vielen Kulturen und Religionen war es schon immer ein Weg zur Selbstdisziplin und spirituellen Reinigung. Ein Ritual, das nicht nur den Körper, sondern auch das soziale Miteinander stärken sollte. 

Der Feind, dem ich mich hier gerade verweigere, ist kein konkreter und doch allgegenwärtig, er ist das endlose und gnadenlose Grundrauschen der Gegenwart. Mein Fasten macht mich nicht zum Märtyrer oder zur Klosterschülerin, aber in dieser kurzen Phase, in der mein Körper sich auf den inneren Rückbau konzentriert, folgt auch mein Kopf: Digitaler Schutt und auch die mentale Überforderung dadurch werden weniger. Stattdessen entsteht eine Art leiser, freier Raum. Ein Raum, in dem Klarheit möglich ist. Und das ist im Klitzekleinen auch eine Form von Befreiung. 

Wenn man Transzendenz als eine Überschreitung oder als erweiterten Bewusstseinszustand versteht, dann kann extreme körperliche Askese natürlich auch etwas kreieren, das mit Transzendenz vergleichbar ist, wie es sich auch bei Extremsport, beim Rave, beim Sex oder durch Substanzen erleben lässt. Religiös oder ersatzreligiös ist mein Fasten aber ganz sicher nicht. Und auf Trance oder Transzendenz warte ich übrigens noch.

Alles wird leiser

Vielleicht nicht nach Transzendenz, aber nach weniger Grundrauschen sehnen sich viele. Laut der Forsa-Fasten-Umfrage von 2024 würde jede:r vierte Befragte während der Fastenzeit auf Internet, Smartphone oder ähnliches verzichten – im Jahr zuvor war es noch jede:r fünfte. Die Studie zielt jedoch nicht auf individuellen und kompletten Verzicht ab, sondern darauf, bestimmte Genussmittel zu reduzieren. Gründe sind weniger Stress, mehr Zeit für sich und andere.

Tag 4 ohne feste Nahrung. Gönne mir einen wirklich großen Teelöffel Honig. Der war bereits kristallisiert, es ist sehr viel in meinem Mund, eine kaum zu bewältigende Masse, das reinste Zuckergebirge im Mund … Aber LEUTE! Der Geschmack!! Zumindest bis gerade eben fand ich den Vergleich von Essen mit Sex immer etwas hinkend.

Ansonsten fordern mein Körper und Geist nun ausgedehnte Ruhephasen ein. (Was ja auch kein Wunder ist: Sie haben einiges zu verarbeiten.) Als hochtouriger und auch äußerst sozialer Mensch würde ich auch in stressigen Phasen immer abends den Bar- oder Kinobesuch mit Freunden oder die Joggingrunde einer ausgedehnten Sofa/Tee/Lese-Session auf dem Sofa vorziehen. 

Nun fährt mein Puls runter, ich schlafe ausnahmsweise tagsüber für eine Stunde und nach ein paar Tagen atme ich spürbar tiefer, ruhiger und in größeren Abständen. Sehr entspannend: Auch für Fomo, sonst ein Gefühl, dem ich viel Raum gebe, habe ich gerade echt keine Energie. Abends um 21.30 Uhr gleite ich sanft in den Tiefschlaf und als ich eine Sprachnotiz abhöre, klingt es, als spräche nicht ich da zu mir selbst, sondern Käpt’n Valium: Meine Stimme ist tiefer, ich rede langsamer und irgendwie weicher als sonst. 

Mein Puls geht in den nächsten Tagen höchstens hoch, als ich im Café mit ultrageschärften Sinnen und der Sehnsucht nach Kalorien das für mich hochdosierte Aroma von frisch gebackenem Banana Bread einsauge. Ansonsten dümple ich bis auf gelegentliche, aber schnell vorübergehende Kopfschmerzen oder Schüttelfrostattacken in einem meditativen bis duseligen Zustand durch die ersten Fastentage. Ich will nicht viel, nur baden und rumliegen, ansonsten werde ich zu einem trieblosen Wesen, was sich, leider, sehr gut anfühlt, auch wenn es so lust- und genussfeindlich klingt. Im Kopf schließen sich die Tabs nach und nach, die Gedanken werden gleichförmiger – auch, wenn ich das anfangs als „dümmlich“ oder „langsam“ bewerte und über meine „Fasten-Demenz“ scherze, gefällt mir der Zustand dieser absoluten Tiefenentspannung. 

Leider auch geil: Ich freue mich ziemlich, ich schäme mich fast, das zuzugeben, wenn ich oben ohne vorm Spiegel stehe, über die nun deutlicher sichtbaren Muskeln, den flachen Bauch, die jetzt schon ein bisschen schmaleren Wangen. Wie gesagt, Body Positivity klappt gegenüber anderen gut, mir selbst gegenüber werde ich zu oft zu einer judgy Heidi Klum. 

Ich spüre gähnende, großartige Leere  

Aus meiner heutigen Sicht gab es in meiner Kindheit erfrischend simple und nicht viele Regeln der Nahrungsaufnahme: Kuchen nur am Wochenende, nach dem großen Spaziergang. Niemals Nutella, dafür Honig. Komme, was wolle: Gefrühstückt wird immer. Mittags wird warm gegessen. Das war meist der frisch zubereitete klassische Dreiklang Fleisch/Kartoffeln/Gemüse, Fischstäbchen und Spinat (freitags) oder auch mal Miracoli und schneller Kopfsalat mit einem heute grotesk klingenden Dressing aus unter anderem Dosenmilch und Zucker, das ich manchmal noch vermisse. 

Und heute, ein paar Jahrzehnte später? Foodfluencer:innen ultra blähen mir aufwendige vegane Rezepte um die Ohren (die ich zigfach speichere) oder ihre Überzeugung, dass Quinoa sowas wie Ambrosia und sämtliche Milchprodukte des Teufels sind. Ich will nicht sagen, dass sie nicht Recht haben. Ich weiß auch, dass man sich mit dem Wort „Soulfood“ selbst belügt, dass ich oft nur aus Langeweile esse oder weil etwas einfach geil schmeckt, während es künstliche Stoffe enthält, mit denen man genauso gut eine Kommode abbeizen könnte. Ich habe aber den Überblick verloren und auch null Lust darauf, mir stundenlang den Kopf zu zerbrechen, was ich wann, warum oder warum nicht essen darf, soll, muss, könnte.

Heute, am Tag 5, spüre ich eine  immense Klarheit: Essen nimmt sonst einfach verdammt viel Platz weg. Ob damit nun der Energieaufwand des Körpers zur Verdauung oder einfach das ständige Nachdenken darüber gemeint ist. „Wer mit permanenter Fülle konfrontiert wird, sehnt sich nach Leere“, schreibt der Philosoph Thomas Macho in einem Essay zur „Aktualität des Verzichts“, was ich wiederum bei Daniel Schreibers Gedanken übers Fasten aus philosophischer Sicht gefunden habe. 

Keinen Hunger zu haben und damit keine kreisenden Gedanken um Mahlzeiten, das gelingt mir persönlich übrigens nur, wenn ich oben erwähnte Einläufe zur Darmentleerung mache. Es heißt, dass Stuhlrückstände Hunger, Schwächeanfälle und Kopfschmerzen verursachen. Richtig nachgewiesen ist das nicht. Aber es klingt plausibel, dass der Verdauungstrakt am besten ganz große Ferien macht, wenn ich mich der allgemeinen Leere und Konzentration hingeben möchte. Nicht jede:r steht darauf, ich kann nur sagen: Nach ein paar Tagen flutscht es besser und es gibt auch keinen Schwindel mehr beim herabschauenden Einlauf-Hund. 

Zügel in der Hand, Leben im Griff?

Wie viele Menschen habe ich dunkle Triebe und großes Verlangen – nach Zucker ohne Ende, nach Einverleibung und oraler Befriedigung. Aber: Ich gebe ihnen in diesen Tagen nicht nach, lege sie ab und eine Souveränität an den Tag, die mir sonst nicht eigen ist. Das macht mich stolz.

Ich frage mich aber auch, ob das nicht ein ziemlich zweischneidiges Schwert ist: Wenn sich Kontrolle dermaßen gut anfühlt, bin ich dann nicht gefährlich nah an der Essstörung? Flacht mit dem Bauch auch mein Urteilsvermögen gegenüber mir selbst ab? „Beim Fasten wird die Kontrolle auf den Körper deutlich erhöht“, erklärt mir Dr. Koppold. „Viele Menschen erleben das als eine positive Erfahrung, die ihnen Sicherheit gibt. Aber es gibt auch Menschen, für die ein Zuviel an Kontrolle nicht zu empfehlen ist, etwa bei Anorexie, aber auch bei anderen Essstörungen wie Orthorexie, bei der es zu einer übertriebenen Beschäftigung mit gesunder Ernährung und zwanghaftem Vermeiden von als ‚ungesund‘ eingestuften Lebensmitteln kommt.“ Sie rät mir, mich selbst zu beobachten und innerhalb dieser Kontrolle nicht die Balance aus dem Blick zu halten. 

Das ist die Magie der Euphorie

Tag 6. Kurz vor Ende kommt erst der eigentliche Höhepunkt. Die Kopfschmerzen haben sich verdünnisiert. Mattigkeit und Schwere der letzten Tage sind endgültig passé. Hunger? Sicher ein Konzept aus einem anderen Leben. Und Appetit? Den kennen wir hier nicht. Ich fühle mich, als müsste ich nie wieder essen. Als wäre Essen Verschwendung von Lebenszeit und Energie. Mir geht es auf ganzer Linie großartig. 

Ob ich vielleicht gleich einen ganzen Fasten-Roman …? 

Euphorie, Klarheit und Energie beflügeln mich, wie ich es selten erlebe. Schon gar nicht nüchtern. Nur beim strengen Heilfasten erlebe ich diese Hochphasen, meist wie jetzt an Tag 6 oder 7. Trinke ich zusätzlich Saft oder gönne mir Rohkost: kein High, weniger Highlights. 

Das ist schon seit ein paar Tagen so: Ich schlafe jede Nacht vor 22 Uhr und bis spätestens 5.30 Uhr, stehe dann putzmunter auf, mache mir klaglos Tee und dann ein paar Yogaübungen, schreibe dann wie im kurzen Rausch Träume, Kurzgeschichten und/oder Gedanken auf und bin um 6.30 Uhr ready für den Tag, inzwischen arbeite ich auch wieder. Wie von selbst bin ich diesem albernen 5-Uhr-Club beigetreten. Ist das schon eine neue Seinsstufe? Ich würde etwas überdreht sagen: Aber hallo! Tschüssi, schnöde Welt, ich heb ab … 

Wie jeder gute Rausch wird auch dieser hier viel zu schnell vorbeigehen. Es stellt sich kurz vor Ende so was wie heitere Fasten-Normalität ein, bei der ich zwar äußerst fröhlich und energiegeladen bin, mich aber nicht mehr ganz so raketenstark, produktiv und über die Maße geflasht fühle. 

Und dann? Teilt mir mein Körper noch mal deutlich mit, dass er langsam doch wieder Lust auf Energiezufuhr und Essen hätte: Ich werde ungehalten, kann mich schwer konzentrieren und habe wieder Kopfweh. Okay, ich kann mich eben nicht dauerhaft von Luft und (Selbst)Liebe ernähren, werde kein Fastenwunder und befühle noch mal etwas sentimental meine Körpermitte vorm Spiegel. Tag 8, abends. Ich wiege mich noch einmal (4,7 Kilo weniger) und ich esse dann einen Apfel, der zum Fastenbrechen empfohlen wird. Er schmeckt zwar nicht so fantastisch, wie erwartet, kommt eher etwas kalt und weird im Mund an, aber das Wohlgefühl, es geschafft zu haben, sich bald wieder Dinge zu erlauben, ist auch äußerst schön. Es folgen zwei Tage mit der Gemüsesuppe, die mir nun aber echt köstlich vorkommt. 

Epilog

Ich habe im Rückblick meine Ernährung nicht revolutioniert und wäre es nur ums Abnehmen gegangen, hätte ich deutlich effektivere Methoden wählen können. Dafür habe ich intensiver als sonst herausgefunden, dass ich durch das Fasten ein derart tiefes Gefühl von Ruhe und Rückzug erleben kann, wie selten. Zudem kann ich mich nicht erinnern, jemals für meine Verhältnisse so wenig Süßigkeiten wie in den letzten Wochen nach dem Fasten inhaliert zu haben. Vielleicht meldete sich mein innerer Katholik, der schneller „Sünde!“ zischte, als ich einen Keks oder Riegel zum Mund geführt hatte, oder einfach mein Körper, der spürte, wie gut ihm der Verzicht zuvor getan hatte.

Keine andere „Taktik des Selbst“ so Daniel Schreiber, macht das ständige Hin und Her zwischen Selbstaufgabe und Selbstermächtigung, Mangel und Fülle, Verzicht und Übermaß so spürbar wie das Fasten. Und keine andere lässt uns so deutlich erleben, was es bedeutet, „leer“ oder „voll“ zu sein. 

Fühle ich. Und freue mich auf den Frühling. Spätestens dann heißt es wieder: Fasten your Hosengürtel – wir gehen rein. 


Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Ich faste. Warum tue ich mir das an?

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