Ich erinnere mich genau an die Zeit, als ich begann, Essen als Problem zu sehen, eines, das kontrolliert und durchdacht werden musste. Bei mir geschah das, als ich etwa zwölf Jahre alt war und die Mutter einer Freundin anfing, mich kritisch zu mustern. Bis dahin hatte sie ihre Tochter und mich hin und wieder verglichen und gesagt, ihre Tochter sei zu dick, mich dagegen nannte sie „sportlich“. Ich fand das gemein der Tochter gegenüber, fühlte mich aber auch gut angesichts meiner angeblichen Sportlichkeit (ich machte keinen Sport). Doch plötzlich änderte die Mutter ihr Urteil. Sie meinte, nun sei ich „pummelig“. Mit dieser Meinung stand sie nicht allein da. Ein paar Tage später guckte ich mit meinem Bruder hungrig in den Gefrierschrank unserer Eltern. Ich schlug vor, eine Packung Dampfnudeln aufzutauen. Er zog skeptisch die Augenbraue hoch und sagte: „Du bist ja selbst schon eine Dampfnudel.“ Sogar meine Mutter schlug vorsichtig vor, ich solle vielleicht eine Diät machen. Bis dahin war ich eine begeisterte und sorglose Esserin. Das änderte sich jetzt schlagartig.
Erst vor kurzem – Jahrzehnte später – wurde mir klar, wie sehr mein Verhältnis zum Essen seit diesem Dampfnudel-Moment durcheinandergeraten ist. Es würde nie klinisch auffallen: Ich esse gerne, aber ich bin auch gut darin, Maß zu halten. Mein Body-Mass-Index liegt stabil im Normbereich. Doch auch wenn es von außen so aussah, als hätte ich ein normales Essverhalten, ist etwas in mir aus dem Gleichgewicht. Ich achte genau darauf, was ich wann esse, wie viel und wie oft. Diese Strenge führt dazu, dass ich, sobald ich emotional instabil bin, umso mehr nach Essen greife. Es ist zu einer Art Trostpflaster geworden, einem Mittel, um Unsicherheit und Stress zu bewältigen. Erst als ich „The Hunger Habit“ von Judson Brewer las, wurde mir das bewusst. Und auch, wie sehr ich beim Essen den Kontakt dazu verloren habe, was mein Körper wirklich braucht.
„Wir leben wie von unserem Körper getrennt und behandeln ihn, als wäre er ein fleischummantelter Roboter, mit dem einzigen Zweck, unser Gehirn herumzutragen. Dadurch bleiben wir in alten Gewohnheiten stecken und, was noch wichtiger ist, es fällt uns schwer, auf unseren Körper zu hören und aus dem zu lernen, was er uns zu sagen versucht“, schreibt Brewer. Er verspricht, dass wir das ändern können, wenn wir verstehen, wie unser Gehirn Gewohnheiten bildet. Und dann mit einer Mischung aus Neurowissenschaft und buddhistischen Konzepten unser körpereigenes Belohnungsystem hacken.
Jeden Morgen sieben Mandeln abwiegen
Brewer ist Psychiater und Neurowissenschaftler und untersucht seit Jahren die Mechanismen, die hinter Sucht und Gewohnheiten stehen. Er arbeitet unter anderem mit Raucher:innen, Angstpatient:innen und Menschen, die unter Binge Eating leiden, also Essanfällen. In „The Hunger Habit“ geht es darum, warum Menschen essen, wenn sie gar keinen Hunger haben. Und warum so viele daran scheitern, ihre Essgewohnheiten zu ändern. „Es ist nicht Ihre Schuld. Versagt hat das System, das sich auf Willenskraft und Selbstkontrolle konzentriert, anstatt die wahre Wurzel des Problems anzugehen“, meint Brewer. Er glaubt, dass wir gegen, nicht mit unserem Gehirn arbeiten, wenn wir versuchen, mit Willenskraft, starke Angewohnheiten und Süchte zu überwinden.
„Unser schwächlicher präfrontaler Kortex, der Sitz der Selbstkontrolle, ist unserem starken Überlebenshirn nicht gewachsen. Das wissen alle, die schon einmal versucht haben, sich dazu zu zwingen, eine emotionale Essgewohnheit nach der Formel von Kalorienzufuhr und Kalorienverbrauch aufzugeben.“ Was Brewer als „Überlebenshirn“ bezeichnet, sind Gehirnregionen, die für grundlegende, instinktive Verhaltensweisen und körperliche Prozesse verantwortlich sind, die das Überleben sichern. Unter Stress sind wir schlechter darin, unsere Impulse und instinktives Verhalten zu kontrollieren – wie, nur einmal als zufälliges Beispiel, den Drang, eine Halbliterpackung Karamell-Brownie-Eiscreme in der Mikrowelle anzuschmelzen und aufzuessen, während man an seiner Abschlussarbeit für die Uni arbeitet. Was ich definitiv noch nie gemacht habe.
Im Medizinstudium hatte Brewer es anders gelernt. Nämlich, dass gutes Essverhalten einfach ist. Wenn Patient:innen sich schlecht ernährten, musste man ihnen einfach erklären, dass sie nicht mehr Kalorien essen durften, als sie verbrauchten und ihnen vorschlagen, öfter Salat statt Kuchen zu essen und regelmäßig Sport zu treiben.
Allerdings stellte er fest, dass dieser Ratschlag seinen Patientinnen und Patienten kaum half. Woche für Woche kamen sie mit genauen Aufzeichnungen darüber, was sie gegessen und wie viel Sport sie getrieben hatten, in seine Praxis, und waren unglücklich wie eh und je. „Sie zählen täglich um genau 11 Uhr sieben Mandeln ab, wiegen ihren Grünkohlsalat, vermeiden peinlich genau Zucker … bis sie dann um 19 Uhr eine Tüte Kartoffelchips aufreißen und die ganze Packung verschlingen.“ So unterschiedlich die Patient:innen im Einzelnen waren, eines hatten sie alle gemeinsam: Sie waren unzufrieden mit sich. Sie begriffen ihre Probleme mit dem Essen als persönliches Versagen.
Hat man das Genussplateau erreicht, schmeckt sogar Eis nicht mehr | ian dooley/Unsplash
Ein Gehirn, das vom Körper völlig abgekoppelt ist
„Wenn jemand Ängste hat, erlebt er sie als etwas, das ihm widerfährt. Aber beim Essen ist das anders. Essen erleben wir als etwas, das wir tun, und ungesunde Ernährungsgewohnheiten als etwas, das wir uns selbst eingebrockt haben. Wir fühlen uns schlecht, wenn wir Angst haben, aber wir verurteilen uns dafür, wenn wir ein schwieriges Verhältnis zum Essen haben“, schreibt Brewer.
Er selbst hat nie mit seinem Gewicht gekämpft und musste sich keine Dickenwitze anhören. Er aß einfach, wenn er Hunger hatte und hörte auf, wenn er satt war. Mein eigener Partner ist so ein Mensch, deswegen weiß ich, dass es diese unbekümmert Essenden wirklich gibt. Als dieser vor ein paar Monaten zum ersten Mal in seinem Leben versehentlich ein paar Kilo zunahm, musste er nur aufhören, täglich Schokocroissants zu frühstücken und über jede Mahlzeit einen extra Schluck Olivenöl zu geben, schon war das Bauchfett wieder weg. Ja, mich macht das wütend.
Brewer war davon ausgegangen, dass Hunger ein grundlegender Überlebensmechanismus war und deswegen vollkommen eindeutig. Dass jeder Mensch sofort merkte, wenn er Hunger hatte. Der Psychiater war deshalb ziemlich verwirrt, als er mit einer Gruppe Patientinnen arbeitete, die unter Essanfällen litten. „Woher wissen Sie, wenn Sie Hunger haben?“, fragte er. Das brachte ihm verdutztes Schweigen ein. Die Frauen wussten es nicht. Dagegen wussten sie sehr viel über die Gefühle, die ihre Essanfälle auslösen konnten: Wut, Müdigkeit, Langeweile, Trauer, Nervosität etwa. „All dies hat etwas gemeinsam – es löst ein Verlangen aus. Und dieses Verlangen drängt sie zum Essen. Ohne Wenn und Aber. Diese Gelüste hatten nichts mit dem zu tun, was ihr Magen ihnen sagte. Es ist, als ob die Nervendrähte, die ihr Gehirn mit ihrem Magen verbanden, mit ihrer emotionalen Verdrahtung gekreuzt worden wären. Und schlimmer noch, anscheinend liefen sie die meiste Zeit mit einem Gehirn herum, das vom Körper vollkommen abgekoppelt war“, schreibt Brewer.
Tatsächlich kann Hunger von anderen Formen von Verlangen überdeckt oder mit ihnen vermischt sein. „Bei Menschen, die echten körperlichen Hunger über lange Zeit durch Diäten und Einschränkungen ignoriert haben, kann diese Entkopplung zwischen Gehirn und Körper besonders gravierend werden“, so Brewer. Diäten könnten also langfristig dafür sorgen, dass wir noch schlechter darin werden, zu spüren, wann wir hungrig sind und wann nicht.
Wenn es einfach wäre, sein Essverhalten zu ändern, hätten längst alle Menschen auf der Welt ihr Idealgewicht, sie wären gesund und sportlich. Das trifft aber offensichtlich nicht zu. Laut der repräsentativen TK-Studie (PDF) „Iss was, Deutschland“ bezeichnete sich knapp jede:r dritte Befragte als übergewichtig. Die tatsächlichen Zahlen liegen wahrscheinlich höher. Laut Statistischem Bundesamt hatten 2021 rund 40 Prozent der Frauen in Deutschland und rund 60 Prozent der Männer Übergewicht oder waren adipös.
Was die Zahlen nicht abbilden, sind Menschen wie ich, die scheinbar ein gesundes Gewicht und Essverhalten haben, aber zu viel darüber nachdenken, ob sie zu viel oder zu wenig essen. Und die oft nicht mehr genau wissen, ob sie wirklich Hunger haben – oder einfach nervös sind.
Ich habe in der KR-Community nachgefragt, um ein Stimmungsbild unserer Leser:innen zu bekommen. Rund 500 Menschen haben an der Umfrage teilgenommen. Etwa die Hälfte der Teilnehmenden gab an, ständig über ihr Essen nachzudenken: darüber, ob sie zu viel oder zu wenig essen, ob sie sich gesund ernähren und wie viele Kalorien ihr Essen enthält. Die Mehrheit der Befragten gibt an, gelegentlich ohne Hunger zu essen, während ein Fünftel dies regelmäßig tut.
Wann isst du, wenn du keinen Hunger hast? Das sagen die KR-Leser:innen | eigene Umfrage
Karotten sind nicht immer besser als Kuchen
In diesem Moment, in dem die Deadline für diesen Text näher rückt, ruft mich beharrlich die Tafel Ingwerschokolade in meiner Küche. Laut Brewer könnte dahinter eine Gewohnheit stecken, die ich mir irgendwann angeeignet habe: Die Verknüpfung Stress + Essen = Trost. Gewohnheiten sind fest in unseren neuronalen Strukturen verankert, insbesondere im sogenannten Belohnungssystem des Gehirns. Das funktioniert nach einem einfachen Prinzip: Wir neigen dazu, Verhalten, das belohnt wird, zu wiederholen. Jedes Mal, wenn wir etwas Angenehmes essen, merkt sich unser Gehirn diese positive Erfahrung und speichert sie als lohnenswert ab.
Dieser Mechanismus, auch Verstärkungslernen genannt, war einmal evolutionär sinnvoll, als Nahrung knapp und schwer zu finden war. Wenn unsere Vorfahren auf Nahrungssuche waren und eine gute Kalorienquelle fanden, schickte ihr Magen Signale ans Gehirn, die dazu führten, dass dieses Dopamin ausschüttete. Unsere Vorfahren lernten: „Das war gut, lass uns morgen wiederkommen, wenn wir Hunger haben!“
Wissenschaftler:innen bezeichnen dies oft als Appetenzverhalten – abgeleitet vom lateinischen „appetens“, was so viel wie „nach etwas strebend“ oder „begierig“ bedeutet – weil wir lernen, nach dem Angenehmen zu streben.
Eigentlich soll dieses Belohnungssystem also unser Überleben sichern. Im Leben heutiger Menschen kann es aber auch problematische Gewohnheiten und sogar Suchtverhalten fördern. Zum einen, weil hochkalorische Lebensmittel bei uns Glücksgefühle auslösen. Zum anderen, weil wir längst nicht mehr durch Wälder streifen müssen, um sie zu finden. Die nächste mit Zucker und Fett vollgepackte Nahrungsquelle ist die Snackschublade drei Schritte weiter in der Büroküche. Wir sind evolutionär darauf programmiert, sie leer zu futtern.
Hinzu kommt, dass heute ein ganzer Bereich der Lebensmittelmittelindustrie darauf spezialisiert ist, diesen Mechanismus auszunutzen. Sie investiert Milliarden, um Lebensmittel zu entwickeln, die perfekt auf unsere neuronalen Belohnungssysteme abgestimmt sind, sodass wir immer weiter mampfen wollen. Kartoffelchips etwa haben genau die Mischung aus Salz, Fett, Kohlenhydraten und Mundgefühl, bei der wir die Beherrschung verlieren.
Das Gehirn möchte etwas TUN
Gewohnheiten lernen wir nicht nur durch positive, sondern auch durch negative Verstärkung. Dann wiederholen wir ein Verhalten, um unangenehme Gefühle zu vermeiden. Viele Menschen essen aus Stress, Angst oder Langeweile, weil unser Gehirn emotionalen Schmerz genau wie körperlichen Schmerz behandelt.
„Emotionaler Schmerz kann sehr weh tun, ist aber nicht dasselbe wie eine Blutung aus einer großen Arterie: Wir sind nicht in einer unmittelbar lebensbedrohlichen Situation, wie wir es wären, wenn wir vor einem hungrigen Tiger oder einem schnell herannahenden Bus stünden. Unser Gehirn weiß also, dass wir nicht weglaufen müssen, aber es möchte etwas TUN. Wenn wir also in einer negativen Emotion feststecken, sagt unser Gehirn: ‚Ich weiß, wie ich helfen kann, dass dieses schmerzhafte Gefühl verschwindet, damit es dir wieder besser geht‘“, schreibt Brewer.
Eine Tüte Chips aufzureißen, lenkt ab und ist befriedigend. So lernen wir, uns mit Genuss oder Ablenkung zu betäuben. Durch negative Verstärkung kreuzen wir wieder und wieder in unserem Gehirn die Drähte für Nahrung mit den Drähten für Stimmung. Anders gesagt: Je häufiger wir das Essen zur Bewältigung von Emotionen nutzen, desto tiefer verankern wir diese Gewohnheit. Bis wir nicht mehr unterscheiden können, was echter Hunger und was sogenannter hedonistischer Hunger ist – also das Verlangen nach Essen, um unsere Stimmung zu beeinflussen.
Hedonistischer Hunger an sich muss nicht schlimm sein. Wie ich in diesem Text beschrieben habe, ist es okay, ab und zu einfach nur deshalb zu essen, weil es sich gut anfühlt. In gewissen Momenten kann ein Stück Kuchen ein großartiger Stimmungsaufheller sein. Das Problem sind eingefahrene und vor allem unbewusste Gewohnheiten. Wenn ich also ständig emotional esse, ohne es zu merken, und deshalb auch nicht merke, warum es mir eigentlich nicht gut geht.
Man kann sich auch mit Gemüse betäuben
Unter emotionalem Essen stellt man sich nicht gerade Salat vor. Aber auch eine scheinbar total gesunde Snack-Entscheidung kann emotional motiviert sein. Das fällt nur viel weniger auf. Brewer erzählt in seinem Buch von Tracy, einer Studentin, die immer auf etwas Herumkauen musste, wenn sie Statistik lernte. Anders als die Person in unserem zufälligen Beispiel von oben, wählte Tracy aber kein Eis, sondern Karotten. Klingt gesund, oder? Eigentlich aber brauchte Tracy das Gemüse, weil Statistik ihr schwerfällt, und sie beim Lernen Angst hat. „Wie meine Patientinnen, die mit Essanfällen zu kämpfen hatten, aß auch Tracy nicht, wenn sie Hunger hatte. Sie gab einem Gefühl Nahrung“, schreibt Brewer.
Der Experte
Judson Brewer ist Psychiater, Neurowissenschaftler und Experte für Suchtverhalten, Achtsamkeit und die Neurowissenschaften von Gewohnheiten. Er lehrt als Professor an der Brown University und hat mehrere Bücher veröffentlicht, in denen er erforscht, wie Achtsamkeit und Bewusstheit helfen können, Suchtverhalten zu überwinden.
Foto: Dr. Mahri Leonard-Fleckman
Gewohnheiten sind hilfreich, weil sie Energie sparen. Unser Gehirn leitet aus vergangenen Erfahrungen ab, dass ein Verhalten auch in Zukunft ähnliche Ergebnisse bringen wird. Wenn es sich früher bewährt hat, wird es wahrscheinlich auch in der Zukunft funktionieren. Einmal verankert, läuft die Gewohnheit von selbst, ohne dass man über die Einzelheiten nachdenken muss. Das ist praktisch, weil wir nicht jeden Morgen neu lernen müssen, wie man eine Wohnungstür aufschließt. Aber es ist problematisch, wenn wir automatisch Verhaltensweisen abspielen, die nicht hilfreich sind. Zum Beispiel, wenn wir beim Lernen immer auf etwas herumkauen müssen. Natürlich sind Karotten gesünder als Chips. Aber noch besser wäre es darauf zu achten, von welchen Gefühlen man sich abzulenken versucht, wenn man nach Essen greift, aber eigentlich keinen Hunger hat.
Manche essen Chips, wenn sie gestresst sind, andere Karotten | Mae Mu/Unsplash
Ein weiteres Beispiel für nur scheinbar gesundes Essverhalten liefert Brewer mit Jack, einem seiner Patienten. Jack geht mit seiner Frau mexikanisch essen, verhält sich brav und bestellt keinen Burrito mit extra Käse, sondern einen großen Salat. Als er merkt, dass sein Hunger gestillt ist, legt Jack aber nicht die Gabel weg. Er redet sich sogar ein, sein Salat sei ja gesund, deswegen könne er ruhig über den Sättigungspunkt hinaus essen.
Als ich das las, bekam mein Selbstbild als gesunde Esserin allmählich Risse.
Tracy und Jack könnte ich sein. Bei Süßkram oder Fast Food schlage ich eher selten über die Stränge, das habe ich im Griff. Aber wenn ich der Meinung bin, dass etwas gesund ist, bremst mich nichts. Ich esse dann einfach immer weiter, ohne jedes Gefühl dafür, ob ich Hunger habe oder nicht. Man kann sich auch mit Gemüse betäuben.
74 Stück Schokolade als Strafe
„Aus neurowissenschaftlicher Sicht gibt es nur eine einzige Möglichkeit, eine schlechte Angewohnheit zu durchbrechen, nämlich darauf zu achten, wie (be)lohnend – oder nicht (be)lohnend – sie ist“, sagt Brewer. Ein Schlüssel dazu, sein Ernährungsverhalten zu ändern ist deshalb, Essen einen anderen Platz in der Belohnungshierarchie des Gehirns zu geben. Der orbitofrontale Kortex (OFC) ist ein Bereich des präfrontalen Kortex, der für die Bewertung von Belohnungen zuständig ist. Jedes Mal, wenn wir eine neue Verhaltensweise ausprobieren – etwa die Waffeln testen, die ein Laden vor meiner Haustür im Winter anbietet – wertet der OFC diese Erfahrung aus und reiht sie in meine persönliche Belohnungshierarchie ein („Waffeln essen ist besser als Knäckebrot“). Der OFC vergleicht also ständig Handlungen miteinander und entscheidet, welche davon den höchsten Belohnungswert haben. Wenn wir essen und uns gut fühlen, speichert der OFC diese Erfahrung als lohnenswert ab. Im Laufe der Zeit entsteht eine Hierarchie der Belohnungen, in der das Essen als Mittel zur Stressbewältigung einen hohen Platz einnehmen kann – selbst dann, wenn es nur vorübergehend hilft.
Wenn ich jetzt in die Küche gehen und ein Stück Ingwerschokolade essen würde, wäre das kein Problem. Aber wie wäre es mit 74 Stücken Schokolade? Das ist keine zufällige Zahl. Ein Teilnehmer einer kleinen wissenschaftlichen Studie hat das tatsächlich geschafft. Die Forscherin Dana Small wollte herausfinden, wie sich der Belohnungswert der Schokolade im Laufe des Konsums verändert. Dafür verabreichten sie und ihr Team 15 Studienteilnehmern, die sich selbst als „Chocoholics“ einstuften, zwischen 40 bis 170 Gramm Schokolade in einzelnen Stückchen. Sie mussten sie langsam im Mund schmelzen lassen. Nach jedem Bissen wurden sie gebeten, auf einer Skala von –10 bis +10 zu bewerten, wie gerne sie ein weiteres Stückchen hätten: –10 stand für „scheußlich – wenn ich noch mehr esse, wird mir schlecht“ und +10 für „ich möchte unbedingt noch ein Stück“.
Die Forscher maßen die Gehirnaktivität der Teilnehmer, während sie diese Werte angaben. Das Essen von Schokolade, berichtete Small später, entwickelte sich im Gehirn „von einer sehr belohnenden zu einer sehr bestrafenden Aktivität.“
Der OFC spielt dabei eine zentrale Rolle, da er den abnehmenden Belohnungswert erfasst und signalisiert, dass das Essen nicht mehr so angenehm ist wie zuvor. Den Punkt, an dem wir genug Schokolade gegessen haben, nennt man das Genussplateau. „Das Wollen nimmt stark ab. Das ist das Signal Ihres Gehirns, langsamer zu machen. Ohne bewusste Wahrnehmung essen Sie weiter und kommen immer mehr in Fahrt. Sie bemerken das Geländer vor sich nicht. Sie erkennen nicht die Warnschilder, die Ihnen sagen, dass der Weg hier zu Ende ist. Plötzlich rauschen Sie über die Klippe“, erklärt Brewer.
Das Genussplateau und die eigenen Gewohnheitsschleifen zu erkennen, sind wichtige Schlüssel, um Emotionen und Essverhalten zu entflechten. Nicht, indem man sich Chips oder geschmolzenen Käse verbietet oder morgens um 11 Uhr immer genau sieben Mandeln als Snack abzählt. Sondern indem man beobachtet, wie es sich wirklich anfühlt, über den Hunger oder sogar Genuss hinaus zu essen oder um schlechte Gefühle zu vermeiden. Fühlt sich das wirklich gut an? Das klingt vielleicht banal, aber genau das ist der Punkt, an dem wir die Belohungshierarchie ändern können.
Mit dem Rauchen aufgehört und versehentlich Gewicht verloren
Bei der Arbeit mit Raucher:innen fiel Brewer auf, dass Patient:innen, die erfolgreich mit dem Rauchen aufhörten, dabei manchmal auch Gewicht verloren. Eigentlich legen Ex-Raucher:innen typischerweise eher ein paar Kilo zu. Brewer stellt fest, dass die Methoden, die seinen Patient:innen halfen, Zigaretten aufzugeben, ihnen manchmal auch halfen, ihr Essverhalten zu ändern. Weil sie lernten, auf ihren Körper zu hören.
Die Methode beinhaltete, dass die Raucher:innen erstmal nicht versuchen sollten, mit dem Rauchen aufzuhören. Stattdessen bekamen sie nur die Aufgabe, beim Rauchen mit voller Aufmerksamkeit dabei zu sein. Häufig stellten sie dabei fest, dass Rauchen auf diese Weise deutlich weniger Spaß macht – weil es körperlich unangenehm ist, Rauch einzuatmen, und weil Rauch eigentlich schlecht schmeckt.
Das weiß jede:r, der mit dem Rauchen anfängt. Mit der Zeit aber lernt man, den anderen Gefühlen, die das Rauchen bringt, einen höheren Platz in der Belohnungshierarchie geben: Den Glücksgefühlen, die entstehen, weil Nikotin dafür sorgt, dass Dopamin freigesetzt wird, dem Gefühl von Kontrolle im Chaos, das eine Zigarette bringen kann, dem Gruppengefühl, wenn man mit anderen Raucher:innen zusammensteht. All das empfinden wir als wichtiger als die leiseren Signale des Körpers, wenn er meldet, dass es unangenehm ist, bitter schmeckendes Gift zu inhalieren.
Ebenso fühlt es sich eigentlich schlecht an weiter zu essen, wenn der Körper signalisiert, dass wir längst genug haben. Aber wenn wir gelernt haben, uns mit Essen zu trösten und abzulenken oder einfach das Gefühl lieben, dass die perfekte Kombination von Fett, Salz und Zucker in einem Käsecroissant bringt, stehen diese Gefühle in unserer Belohungshierarchie weiter oben.
Um diese Hierarchie zu durchbrechen, brauchen wir, schlägt Brewer vor, den sogenannten negativen Vorhersagefehler.
„Würg, das fühlt sich echt unangenehm an!“
Das Gehirn trifft ständig Voraussagen. Zum Beispiel sagt es voraus, dass der Konsum von Chips oder Schokolade Trost oder Belohnung bringt. Doch wenn wir durch bewusste Wahrnehmung feststellen, dass diese Erfahrung in Wirklichkeit unangenehme Gefühle oder gar Schuldgefühle hinterlässt, entsteht ein Widerspruch. Unser Gehirn beginnt zu lernen, dass die tatsächliche Belohnung des Verhaltens nicht mit der Erwartung übereinstimmt. Mit der Zeit stellt sich zunehmend Ernüchterung ein. „Genauso wie unser Gehirn aus negativen Vorhersagefehlern lernt (‚Würg, Überessen fühlt sich echt unangenehm an!‘), profitiert es auch von positiven Vorhersagefehlern (‚Wow, ich fühle mich leicht und energiegeladen, nachdem ich mich nicht überessen beziehungsweise etwas Gesundes gegessen habe. Ich bin stolz, dass ich das schaffe. Keine Schuldgefühle!‘)“, so Brewer.
Würg, Überessen fühlt sich echt unangenehm an | Eiliv Aceron/Unplash
Was die moderne Neurowissenschaft über das Durchbrechen von Gewohnheitsschleifen weiß, ist keine neue Idee. Es gibt starke Parallelen zu Konzepten aus dem Buddhismus und der Praxis von Achtsamkeit. „Das Wort ‚Achtsamkeit‘ ist eine moderne Übersetzung des alten Pali-Wortes ‚sati‘, das ‚sich erinnern‘ oder ‚sich entsinnen‘ bedeutet. Aus der Sicht des Gehirns erinnern wir uns im gegenwärtigen Moment an frühere Erfahrungen, um künftiges Verhalten vorherzusagen“, schreibt Brewer. Der Buddha, meint er, habe das Ende des Leidens nicht dadurch erlangt, dass er aufhörte, Spaß zu haben und seinen Gelüsten nachzugeben. „Stattdessen versuchte er es mit einem radikal anderen Ansatz. Er wurde aufmerksam. Er achtete wirklich auf den Prozess, wenn er seinen Gelüsten nachgab und wenn er sich weltliche Vergnügungen versagte. Im Grunde fragte er sich: ‚Was habe ich davon?‘“ Auf diese Weise änderte er seine Belohnungshierarchie.
„Die Lust auf ein Stück Kuchen zu befriedigen, kann sich im Moment richtig gut anfühlen, hat aber keinen hohen Belohnungswert – die Freude am Kuchen ist flüchtig und weckt in Ihnen nur noch mehr Verlangen danach. Es ist, als ob wir einen unstillbaren Juckreiz hätten, bei dem wir uns einfach kratzen müssen. Also kratzen wir. Es fühlt sich gut an, wenn wir uns kratzen, aber ein paar Augenblicke später juckt es noch stärker und immer so weiter, in einem Kreislauf, den die Buddhisten sam. sāra (endloser Kreislauf des Leidens) nennen.“
Was nicht bedeutet, dass man die Welt oder das Leben negativ sieht, oder nie wieder Kuchen genießen kann. Es geht nicht darum, sich selbst zu kontrollieren oder zu unterdrücken, sondern durch genaues Beobachten und Bewerten der eigenen Erfahrungen die Belohnungshierarchie im Gehirn neu zu ordnen.
Eine halbe Stunde meditativ kauen?
Ich gebe zu, ich war bisher ein Achtsamkeitsnob. Eine klassische Übung in einem der wissenschaftlich am besten erforschten Achtsamkeitsprogramme weltweit, MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction), ist die Rosinenübung. Dabei sollen die Teilnehmer:innen eine einzige Rosine mit allen Sinnen sehr, sehr langsam langsam und bewusst erforschen. Es geht darum, die Aufmerksamkeit voll auf den gegenwärtigen Moment zu lenken.
Zwar hatte ich selbst schon eine ziemlich intensive Begegnung mit einer Pflaume, habe es aber nicht für praktikabel gehalten, in meinem normalen Alltag so aufmerksam im Jetzt zu sein. Wer kann schon für jeden Snack eine halbe Stunde meditatives Kauen einplanen?
Glaubt man Brewer, habe ich da etwas missverstanden. Wir können, meint er, schnell und gleichzeitig bewusst essen. „Das dauert nur einen Moment. Wir spüren unserem Verlangen nach und fragen: ‚Warum möchte ich gerade jetzt etwas essen? Habe ich Hunger, oder ist es etwas anderes (Langeweile, Stress, Angst, Einsamkeit und so weiter)?‘“, schreibt Brewer. Und gibt zu, dass er selbst keine Mittagspause einplant und teilweise sogar in Meetings isst. Das kann ich bestätigen. Als ich ihn vor ein paar Jahren einmal zum Thema Angst interviewt habe, kaute er dabei tatsächlich unbekümmert Avocado-Toast.
Ich dachte bisher, ich wäre keine besonders emotionale Esserin. Aber als ich mir etwas aufmerksamer angesehen habe, wann und warum ich Appetit habe und nach Essen greife, musste ich diese Meinung revidieren. Eigentlich will ich ständig aus Gründen essen, die mit Hunger nichts zu tun haben. Ich bin nur sehr gut darin, mich zu bremsen. Anders als früher zähle ich zwar keine Kalorien mehr, aber ich weiß ziemlich genau, wie viele Kalorien meine Mahlzeiten haben. Dieses Wissen ist wie Fahrradfahren, man verliert es nicht mehr. Das Problem ist, dass es mein tatsächliches Hungergefühl überschreiben kann. Wenn ich zum Beispiel der Meinung bin, dass ich den ganzen Teller leer essen kann, weil mein Kalorienkonto das zulässt, dann esse ich ihn auch leer. Selbst wenn ich den ganzen Teller gar nicht will oder brauche. Es ist eine erworbene Taubheit meinem eigenen Körper gegenüber.
Ich weiß nicht, wie stark diese Erkenntnis mein Essverhalten langfristig ändern wird. Aber sicher weiß ich, dass es gut wäre, sich um den Stress in meinem Leben zu kümmern. Ein Gefühl dafür zu bekommen, wie sehr Stress beeinflusst, wann ich Hunger zu haben meine.
Und definitiv würde ich gerne mal wieder eine Dampfnudel essen, und zwar so richtig mit Genuss.
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Lars Lindauer, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert