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Seit ein paar Monaten gehe ich wieder ins Fitnessstudio und ich stelle fest, dass mir langsam ein paar Muskeln wachsen (außer mir sieht sie wahrscheinlich leider niemand). Bekomme ich diese Muskeln, weil ich an Gewichte glaube? An einen Muskelgott, dem es gefällt, wenn wir den Crosstrainer benutzen?
Es gibt einen Grund dafür, dass ich diese absurde Frage stelle. Jedes Jahr begegnet mir nämlich das gleiche Dilemma. Wenn man mich fragt, wo ich im Urlaub war, sage ich: „In einem Retreat.“ Anschließend meine ich, mich erklären zu müssen.
Ich möchte keine Esomatte sein
Die Retreats, in denen ich jedes Jahr einen Teil meines Urlaubs verbringe, sind ein zeitlich begrenzter Rückzug aus dem Alltag. Sie haben meistens einen spirituellen Kontext und es wird sehr viel meditiert. Gleichzeitig bin ich vor Jahren aus der Kirche ausgetreten und das Wort „Gott“ erzeugt bei mir starkes Unbehagen. Ich möchte auch ungern in einen Topf geworfen werden mit dem, was meine Schwester und ich „Esomatten“ nennen: Menschen also, die sich selbst als „spirituell“ bezeichnen, darunter aber vor allem Esoterik verstehen, die wissenschaftsfeindlich sind, Verschwörungserzählungen glauben und bei jeder Gelegenheit über die „Schulmedizin“ schimpfen (die hässlichen Hintergründe dieses Begriffs beschreibt meine Kollegin Silke Jäger hier. ) Es gibt auch harmlose Esomatten: Einer der freundlichsten Menschen, die mir je begegnet sind, war eine Frau, die fest davon überzeugt war, ein wiedergeborenes Einhorn zu sein.
„Für Religionen ist Spiritualität eine Bedrohung“
Was das alles mit Fitnessstudios zu tun hat? So wie ich nicht an einen Muskelgott glauben muss, wenn ich Gewichte hebe, brauchen auch Spiritualität und spirituelle Übungen keinen Glauben an höhere Wesen oder religiöse Dogmen. Der Philosoph Thomas Metzinger oder die Ärztin und bekannte Homöopathie-Kritikerin Natalie Grams etwa sehen Spiritualität ganz anders: als eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Bewusstsein, das durch Meditation und kontemplative Praktiken verstanden und verändert werden kann. Als eine Möglichkeit, sich besser zu verstehen, ein Gefühl von Verbundenheit zu erleben und aus dem ständigen Alarmzustand auszusteigen, den viele im Alltag erleben. Diese Art von Spiritualität geht problemlos mit Säkularismus und sogar Atheismus zusammen, wie der US-Neurowissenschaftler Sam Harris oder der Historiker Yuval Harari zeigen. Harari sieht Spiritualität sogar als Gefahr für die Religion, weil sie alles hinterfragt.
Das ist auch relevant, weil mehr und mehr Menschen sich in Deutschland von den großen Kirchen abwenden (wenn sie überhaupt je etwas mit ihnen anfangen konnten). Gleichzeitig nutzen Millionen User Achtsamkeits-Apps wie Headspace und Calm, die Meditation und Achtsamkeit fördern wollen und nehmen regelmäßig an Yoga-Kursen teil. Meine Kollegin Rebecca Kelber schreibt sogar: Heute würde Jesus Yoga machen.
Ich will mit alldem übrigens nicht sagen, dass Meditieren wie Fitnessstudio fürs Gehirn ist. So kann man es natürlich auch nutzen, und es kann sogar eine sehr gute Idee sein, wenn man zum Beispiel Konzentrationsfähigkeit und innere Ruhe aufbauen will. Aber Meditation als Selbstoptimierungstool zu sehen, ist wie Sex, der nur für Fortpflanzung da ist. Zweckmäßig und sinnvoll, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, aber ohne jede emotionale Komponente.
Und das war meine letzte merkwürdige Analogie in diesem Newsletter, versprochen.
Jetzt möchte ich von dir gerne wissen: Was verbindest du mit dem Begriff „Spiritualität“? Hast du gute oder schlechte Erfahrungen damit gemacht? Kennst du besonders interessante Quellen oder Expert:innen, die sich auf eine wissenschaftliche Weise mit Spiritualität auseinandergesetzt haben? Schreibe mir an theresa@krautreporter.de.
Schlussredaktion: Susan Mücke