Illustration: Ein Mann steht vorm Spiegel und bestreicht sein Gesicht mit Rasierschaum. Sein Spiegelbild hat zwar auch Rasierschaum im Gesicht, aber schaut nur besorgt zurück statt dieselbe Handbewegung zu machen wie der Protagonist.

© Christoph Rauscher

Sinn und Konsum

Warum viele Produkte anderswo besser sind als in Deutschland

Wir leben im reichsten Land Europas. Aber trotzdem bekommen wir nicht die besten Waren.

Profilbild von Gabriel Yoran

In Italien verkaufen sie einen Rasierschaum, der die Haut derart betäubt, dass man sich schon vor der Rasur ganz anders fühlt (gut). In den USA gibt es ein rosa Magenmittel, das gegen alles hilft und praktisch keine Nebenwirkungen hat. In Frankreich ist noch in jedem Fabrikverkauf an der letzten Ausfallstraße des Industriegebiets einer unbedeutenden Provinzstadt das Croissant ein Erweckungserlebnis. In Belgien gibt es zum Kaffee eine Praline und in der Schweiz fahren die Züge so, wie es im Fahrplan steht. Amerikanische Arztpraxen schicken das Rezept seit Jahren elektronisch in die Apotheke und die Diagnose lässt sich daheim noch in Ruhe auf der verschlüsselten Praxiswebsite nachlesen. In den Niederlanden gestalten Menschen Fahrradwege, die nicht hauptberuflich Auto fahren, in Spanien kostet eine Schachtel mit 30 Tabletten Ibuprofen 400 keine zwei Euro und in Schweden sind über 75 Prozent der Breitbandanschlüsse Glasfaser (in Deutschland elf Prozent).

Es wäre zwar langweilig, aber natürlich könnten wir darüber streiten, ob all diese Dinge wirklich besser sind als in Deutschland, dem Land mit dem höchsten Gesamtvermögen in Europa (so der Global Wealth Report 2022 der Credit-Suisse-Bank, heute UBS). Man könnte sich zur Abwechslung auch darüber freuen, was hierzulande besser ist als anderswo. Aber wer sich, wie ich in der „Verkrempelung der Welt“, fragt, warum die Dinge nicht besser sind, als sie sein könnten, der steht manchmal staunend im Ausland und stellt fest: Es geht doch! Vor allem aber: Es geht auch anders!

Philosophie und Soziologie kennen einen Begriff dafür, dass es keinen zwingenden Grund dafür gibt, dass die Dinge so sind, wie sie sind und dass sie auch ganz anders sein könnten. In Dänemark zum Beispiel sind manche Dinge anders. Wer einmal darauf geachtet hat, kann es nicht ungesehen machen: In Dänemark öffnen die Fenster nach außen. In einer alltäglichen Sache, die jeden betrifft, machen unsere unmittelbaren Nachbarn eine Sache ganz anders – und es klappt! Es hat sogar etliche Vorteile. So drückt der Wind nach außen öffnende Fenster in die Zargen und dichtet sie dadurch automatisch besser ab. Man kann diese Fenster öffnen, ohne etwaige Blumentöpfe wegräumen zu müssen, und auf der inneren Fensterbank hat man durch die Konstruktion auch viel mehr Platz. Dänische Fenster haben zudem schmalere Rahmen und lassen dadurch mehr Licht herein.

In einer globalisierten Welt setzt sich ein augenscheinlich überlegenes Produkt nicht mal im direkten Nachbarland durch? Überraschender noch, es ist oft nicht mal bekannt. Wie kann das sein?

Warum kaufen Menschen Dinge? Weil sie sie im Handel gesehen haben

Der Hauptgrund, warum ein Produkt in einem Markt überhaupt bekannt ist, ist der Vertrieb, also der Unternehmensbereich, der dafür sorgt, dass Produkte da verfügbar sind, wo die Kundschaft sie erwartet. Das klingt trivial, aber der Vertrieb ist das Nadelöhr, durch das praktisch alle Produkte des täglichen Lebens durch müssen.

In einem früheren Leben war ich mal Mitgründer einer Softwarefirma für Endkunden, das heißt, unsere Produkte gab es, gepresst auf CD-ROMs, bei Mediamarkt, Saturn, Kaufhof und Karstadt. Heute wirkt das drollig, aber in den späten Neunziger- und Nullerjahren hat man so Software gekauft. Die CDs steckten in bunten Kartons: Das war das Produkt. Über die Jahre lernten wir beim Verkauf unserer Kartons eine ernüchternde Lektion: Der Hauptgrund, den Softwarekunden (über 90 Prozent waren Männer) angaben, warum sie ein bestimmtes Produkt gekauft hatten, war: Ich habe es im Handel gesehen. Die eine Sache, die damals ein erfolgreiches von einem erfolglosen Produkt unterschied, war seine schlichte Verfügbarkeit im Handel. Idealerweise sollte das Produkt in rauen Mengen in den Geschäften stehen, denn, und das war die andere Handelsweisheit, die ich gelernt habe: Warendruck schafft Abverkauf.

Es klingt so simpel, dass es fast nicht stimmen kann, aber es erklärt zu einem großen Teil, warum die Warenwelt so ist, wie sie ist: Vertriebspower schlägt fast alles, inklusive Produktqualität und Auswahl.

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Die Diskussion um die Präsentation seiner Waren im Handel führt der Hersteller natürlich nicht mit der Kundschaft, sondern mit der Instanz dazwischen: den Einkäuferinnen und Einkäufern. Diese Leute müssen überzeugt werden, das neue Produkt auf die begrenzte Einzelhandelsfläche zu lassen. Und diese Leute betrachten ihre Regale wie Immobilien, die möglichst hohe Renditen abwerfen müssen. Dabei kann der Hersteller nachhelfen. Er kann sogenannte Werbekostenzuschüsse zahlen, um eine besonders gute Präsentation im Geschäft zu erhalten, zum Beispiel einen Stapel Produkte mitten im Gang. Er kann Gutscheine in die Kartons stecken, mit denen die Kundschaft einen Teil des Preises zurückbekommt – wohlweislich vom Hersteller direkt, damit der Umsatz des Handelspartners nicht leidet.

Der Hersteller kann natürlich noch viel subtiler seine Produkte für den Handel attraktiver machen. Als unsere kleine Softwarefirma herausfand, dass die Kundschaft schwerere Produkte als wertvoller empfindet, haben wir dem Fünfzig-Euro-Produkt einen zweihundertseitigen Notizblock beigepackt, der dem Dreißig-Euro-Paket fehlte. Zwanzig Euro mehr für ein offensichtlich besseres Produkt. Wer würde da nein sagen? All dies hatte mit der Qualität unserer Software nichts zu tun, aber trug zu unserem Eindruck im Handel bei. Und darauf kam es an. Wir heuerten ein Außendienstteam an, das jeden einzelnen Saturn und Mediamarkt Deutschlands besucht hat, um den dortigen Verkäufern zu erklären, warum sie unsere Produkte empfehlen sollten. Da das Verkaufspersonal ständig gewechselt hat, mussten wir die gleichen Märkte wieder und wieder besuchen. (Falls sich jemand fragt, was die Leute mit ihren Diesel-Passats machen, die hunderttausend Kilometer im Jahr wegbrettern.) Bei jeder Gelegenheit haben wir dann auch immer die Regale in den Geschäften aufgeräumt, denn auch das haben wir Hersteller für die Händler gemacht. Und natürlich haben wir dem Handel Zahlungsziele von mehreren Monaten und ein hundertprozentiges Rückgaberecht bei Nichtverkauf eingeräumt. Mit anderen Worten: Es gibt Branchen, in denen der Handel entscheidet und die Hersteller springen. Und jetzt stellen wir uns die Gesamtheit des Handels vor, aber mit der tausendfachen Macht und praktisch ohne Konkurrenz – und dann ist man noch nicht mal in der Nähe von dem, was Google (Shopping) ist.

Jede Suche bei Google ist eine blitzschnelle Auktion

Heute entscheidet Google, was Leute sehen, die Software kaufen wollen. Oder Fenster. Und aus den Werbekostenzuschüssen, die im stationären Handel manchmal gezahlt wurden, besteht quasi das gesamte Business von Google. Denn je mehr ein Hersteller bezahlt, desto präsenter sind seine Produkte, wenn man sie googelt. Bei Amazon ist es nicht viel anders. Der Onlinehändler ist eigentlich eine gigantische Warensuchmaschine über das Angebot von Abertausenden Händlern, die nicht Amazon sind und ordentlich dafür bezahlen, dass ihre Waschmaschine, ihr Nasenspray, ihr Funktionsshirt ganz oben steht. Bei jeder Suche, sei es bei Google oder bei Amazon, läuft eine blitzschnelle Auktion ab, die die Suchergebnisse meistbietend verkauft. Denn die alte Regel stimmt auch im E-Commerce: Warendruck schafft Abverkauf.

Um nun also ein Produkt, sagen wir den wunderbaren, in Italien erhältlichen Rasierschaum Noxzema, in Deutschland anbieten zu können, müsste der Hersteller zahlen. Die Marke ist hundert Jahre alt, war ursprünglich amerikanisch, die Nutzungsrechte gingen dann teilweise an den britischen Unilever-Konzern, wo sie mit einem Haufen anderer Kosmetikmarken (u.a. Q-Tips) zu einem Unternehmensbereich zusammengefasst und dann weiterverkauft wurden. Mittlerweile gehört ein Großteil der ehemaligen Unilever-Kosmetikproduktmarken einer Beteiligungsgesellschaft in Boston. Nicht jedoch die Rechte für den Rasierschaum, die liegen in Italien bei Sodalis/Sodalco. Und dieses Unternehmen dürfte, ich spekuliere jetzt mal, vermutlich kein dringendes Interesse daran haben, einen alten Rasierschaum deutschen Kunden bekannt zu machen, um sich dafür mit Beiersdorf zu kloppen, die in Deutschland mit Nivea men den Rasierschaumhandel dominieren. Mit anderen Worten: Ein interessantes Produktportfolio ist nicht das erste Gebot im Handel, sondern möglichst verlässlicher Umsatz mit dem, was da ist. Diesen Umsatz garantieren Konzerne, die nicht nur die Zuschüsse an den Handel zahlen können, sondern auch TV- und Onlinewerbung schalten, damit die Kundschaft die Marke schon mal gesehen hat, wenn sie vor dem Regal steht. Es ist ja keine neue Erkenntnis der Konsumpsychologie, dass eine Marke, von der man oft und auch erst vor Kurzem wieder gehört hat, einem sympathischer ist als weniger bekannte Marken.

Tschechische Iglo-Fischstäbchen enthalten sieben Prozent weniger Fisch

Die Telekom-Tochter T-Mobile und der US-Finanzdienstleister American Express sind zwei globalisierte Marken, aber wehe, auch der Kunde will sich globalisieren! Als ich mit meinem deutschen T-Mobile-Vertrag in den USA eine Postpaid-SIM-Karte von einem dortigen T-Mobile-Geschäft bekommen wollte, schüttelte man nur den Kopf. Dafür bräuchte ich einen guten Credit Score, also eine gewisse Bonität. Die aber kann man nur bekommen, wenn man Schulden macht und begleicht, über Jahre, zum Beispiel mit einer Kreditkarte. Ich dachte mir, ja gut, ich bin in Deutschland seit Jahren American-Express-Kunde, viel amerikanischer kann eine Kreditkarte ja nicht sein. Stellt sich heraus, dass die Bonität meiner deutschen American-Express-Karte in den USA nichts wert ist. Zwei globale Konzerne, gefangen im nationalen Kleinklein.

Der Mensch von Welt mag einwenden, dass Telekommunikation und Finanzdienstleistungen stark national regulierte Märkte sind und man schlechterdings nicht erwarten könne, dass etc. usw. Aber wie wäre es denn mit Limo? Dass weltweit agierende Konzerne überall die gleichen Produkte verkaufen, würde man erwarten, es ist aber nicht so. Coca-Cola mag zwar in Deutschland „Original Taste“ auf die Flasche schreiben, aber was soll das noch sein? Der Softdrink wird in Deutschland mit Zucker gesüßt, in Ungarn mit Glukose-Fruktose-Sirup und in den USA mit High-Fructose Corn Syrup. In besseren mexikanischen Lokalen in den USA rühmt man sich damit, Coca-Cola aus Mexiko zu importieren, wo sie mit Real Sugar hergestellt wird. Im Land of the Free liegt auf Zucker nämlich ein von der dortigen Zuckerlobby durchgesetzter absurd hoher Einfuhrzoll, der zur Entstehung einer ganzen Maissirupbranche beigetragen hat, die ihr Zuckerersatzprodukt auch deshalb konkurrenzlos günstig anbieten kann, weil die amerikanische Regierung Maisanbau mit über zwei Milliarden Dollar im Jahr subventioniert. Es gibt im Süden des Landes Regionen, in denen die Sonne alles andere verbrennen würde, aber Mais gedeiht selbst noch da, wo eigentlich nur noch Maoam wachsen dürfte.

Die Marke ist also gleich, aber die Zutaten sind von Land zu Land anders. Je nun, könnte hier nun der gesundheitsbewusste Apfelschorle-Apologet sagen: Es ist immer eine sehr süße braune Limo mit Koffein. Man könnte aber auch gleich rufen: Czy to rasizm żywnościowy? Das ist polnisch und heißt: „Ist es Lebensmittelrassismus?“ Die Frage stellte 2017 die polnische Zeitung „Gazeta Prawna“, als die Visegrad-Staaten (Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn) von der EU eine Untersuchung forderten, inwiefern osteuropäische Länder von internationalen Konzernen mit zweitklassigen Schmu-Produkten beliefert würden. Tatsächlich ist Coca-Cola keine Ausnahme bei gleich aussehenden, aber doch irgendwie andersartigen Produkten. Iglo-Fischstäbchen enthielten laut einer Untersuchung der Prager Universität für Chemie und Technik in der Version für die Tschechische Republik sieben Prozent weniger Fisch als das namensgleiche Produkt in Deutschland. Die Visegrad-Staaten vermuteten eine systematische Diskriminierung, die die EU abzustellen hätte. Das gleiche Produkt des gleichen Herstellers dürfe sich in seinen Inhaltsstoffen nicht von Land zu Land unterscheiden.

Die Beschwerdeführer gehen davon aus, dass ein Fischstäbchen ein besseres Fischstäbchen ist, wenn es mehr Fisch und weniger Panade enthält. Das klingt erstmal nachvollziehbar, weil Fisch teurer ist als Semmelbrösel. Aber denkt man den Gedanken zu Ende, hat man gar kein Fischstäbchen mehr, sondern einfach ein Seelachsfilet. Das wäre dann auch kein gutes Fischstäbchen. Worauf ich hinaus will: Wer sich über die Zutaten von Lebensmitteln beschwert, kann auf eine schiefe und sehr rutschige Bahn aus mehrfach gehärteten Fetten geraten, an deren Ende die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission steht und sagt, was Fischstäbchen sind. Ich hätte gern bei deren Sitzung Mäuschen gespielt, in der um die einleitenden Worte von Abschnitt „2.3.1.1 Panierte tiefgefrorene Fischerzeugnisse“ der „Leitsätze und Fisch und Fischerzeugnisse“ gerungen wurde: „Die Verwendung der Angabe ‚Fischstäbchen‘ in der Bezeichnung ist denjenigen Erzeugnissen vorbehalten, die den Anforderungen an Fischstäbchen, paniert entsprechen“ (Hervorhebung durch den Autor). Diese Fischstäbchen, paniert seien demzufolge „längliche Stäbchen, 25-30 Gramm; aus Fischfiletblöcken geschnitten/aus Filet geschnitten“, der Mindestfischanteil müsse 65 Prozent betragen.

Iglo-Fischstäbchen enthalten demzufolge exakt 65 Prozent Fisch. Also die deutschen Stäbchen. Je nach Land brachte Iglo auch minderfischige Stäbchen in Umlauf (bis runter auf 58 Prozent Fischanteil), aber tatsächlich konnte dem Hersteller kein Bias zu Ungunsten Osteuropas nachgewiesen werden.

Wann ist ein Keks ein schlechter Keks?

Ob ein Keks ein schlechterer Keks ist, wenn er weniger Butter, dafür aber mehr Zucker enthält (auch damit soll sich die EU-Kommission befassen), sei mal dahingestellt. Immerhin ist Butter viel teurer als Zucker, weshalb man durchaus ein bisschen skeptisch sein darf, wenn ausgerechnet an der teuersten Zutat gespart wird, das aber mit Kundenwünschen begründet wird. Die Hersteller bestreiten diese unterschiedlichen „Formulierungen“ ihrer Produkte gar nicht, wohl aber, dass damit eine Diskriminierung einhergeht. Vielmehr würde auf lokale Gegebenheiten, Produktionsprozesse – und vor allem die national unterschiedlichen Geschmäcker eingegangen. Nutella enthält laut den Beschwerdeführern in Ungarn neben Magermilchpulver auch Molkepulver – in der deutschen Version fehlt die Molke. Eine Abweichung ist das, aber ist es auch ein Mangel? Ist Molke schlechter als Magermilch? In welcher Hinsicht? Oder liegt hier nur ein Fall von national unterschiedlichen Deklarationspflichten vor?

Diese Fragen sollen vermieden werden, indem Produkte entweder EU-weit wirklich (nahezu) identisch sind oder im Falle lokaler Abweichungen auch anders aussehen. Das kann eine andere grafische Gestaltung sein oder ein Hinweis wie „Spezielles Rezept für Polen“. So oder so, die EU selbst sieht tatsächlich keine West-Ost-Gefälle in der Produktqualität, will aber trotzdem einheitliche Waren. Seit 2022 ist die Vermarktung verschiedener Produkte als identisch, das sogenannte Dual Quality Marketing, in der EU verboten. Und die Hersteller sind sauer, weil sie das alles Geld kosten wird: einerseits, weil die Herstellungsprozesse EU-weit harmonisiert werden müssen – und am Ende Einheitsprodukte herauskommen, die sich womöglich schlechter verkaufen. Oder weil man juristisches Personal damit befassen muss, die Produkte genauso unterschiedlich zu verpacken, dass sie nicht mal als identisch wahrgenommen werden können, ohne dabei neue Marken und Designs erfinden zu müssen. Wenn es am einträglichsten wäre, überall das gleiche Produkt zu verkaufen, hätten die Unternehmen es längst getan.

Was tut die Globalisierung für die Kundschaft?

Produkte, die gleich erscheinen, es aber nicht sind, kommen nicht nur bei Lebensmitteln vor, sondern auch bei Kosmetik und Elektronik. So gibt es das iPhone 15 in vier Varianten. Wer eins gebraucht kauft, sollte genau auf die Modellnummer schauen, denn in unserem Haushalt wurde auch schon mal eins gekauft, das für den chinesischen Markt bestimmt war (es war auffällig billig und wir hatten noch keine Ahnung warum). Die vielen merkwürdigen Meldungen beim Start jeder App hatten uns noch nicht stutzig gemacht, aber als dann die gesamte Funktionalität für Facetime Audio (Anrufe übers Internet) fehlte, musste ich googlen, was da los ist. Die Unterstützung für eSIM-Karten fehlt der chinesischen Version auch. Dafür gibt es Platz für zwei physische SIM-Karten. Vermutlich schaut man in China mitleidig auf den Rest der Welt, der mit einem SIM-Slot auskommen muss.

Aber auch beim iPhone gilt: Der Vertrieb macht das Produkt, und in diesem Fall macht Apple den Vertrieb gleich selbst. In den Apple Stores wird das Produkt nicht nur besonders gediegen präsentiert (im Gegensatz zum marktschreierischen Umfeld eines Elektromarkts), die Kundschaft kann sich mit dem Produkt auch gleich viel besser identifizieren und bei Problemen weiß sie auch, wo sie Hilfe bekommt. Und natürlich ist Apples Marge viel höher, weil der Zwischenhändler wegfällt. Und wie er wegfällt! Der einst größte unabhängige deutsche Apple-Händler Gravis schloss im Juni 2024 alle Filialen – zu unwirtschaftlich. Und nach der Pleite mit dem China-iPhone würde ich nächstes Mal vielleicht auch lieber direkt zur Quelle gehen.

Womit wir bei einem weiteren Grund wären, warum wir die Produkte bekommen, die wir bekommen: lokale Marktmacht. Deutschland hat eine sehr starke Fensterbranche und die hiesigen Marken sind natürlich viel bekannter. Dänische Fenster müssten importiert werden, was selbst innerhalb einer Zollunion teurer ist als bei heimischer Produktion. Dänemark ist auch kein Niedriglohnland, das diese Mehrkosten durch geringere Arbeitskosten ausgleichen könnte. Und wenn man Kundendienst braucht, ist der lokale Fensterhändler oder -hersteller leichter erreichbar als einer im Ausland, der womöglich kein Deutsch spricht. Selbst das bessere Produkt hat bei so ungleichen Bedingungen kaum eine Chance.

Was tut die Globalisierung also für die Kundschaft? Sie selbst ist nicht globalisiert, sondern hat lokale Vorlieben und ein begründetes Interesse daran, lokal zu kaufen. Und was die EU zum Beispiel im Lebensmittelbereich harmonisiert, ist für die Konsumierenden irrelevant, weil sie ja doch keine Auswahl hat: Ich kann schon aus vertrieblichen Gründen in Deutschland nur die Kekse für den deutschen Markt kaufen und in Polen nur die für den polnischen. Den praktischen, direkten Vergleich haben nur die Menschen in den Grenzregionen, die auch mal ins Nachbarland zum Einkaufen fahren. Aber selbst die kaufen im Ausland dann lokale Spezialitäten. Wer in Aachen wohnt, kauft in den Niederlanden die toll-knatschigen Stroopwafels, den flüssigen Pudding Vla, Hagelslag, belgische Biere und sehr gute Erdnussbutter; auf Social Media berichtete eine Kundin, die an der französischen Grenze wohnt, im Nachbarland Spüli mit Rosmarin-Aroma zu kaufen, welches zu ihrer großen Verblüffung in Deutschland hergestellt wird. Und natürlich Käse, Obst und Gemüse – über deutsche Qualität lacht man in Frankreich (oder weint). Gleich mehrmals wurde in meiner kleinen Online-Umfrage Maronenpüree als hierzulande vermisstes Produkt genannt (ich wittere eine Marktlücke). Und aus Polen kann man sich nicht nur billiges Benzin holen, sondern auch Chwikła (geriebene Rote Bete mit Meerrettich).

Nicht die EU, sondern wenige Konzerne entschieden, was wir im Supermarkt vorfinden

Der europäische Binnenmarkt schützt traditionelle europäische, lokal verankerte Lebensmittel wie Parmigiano Reggiano aus Parma, Champagner aus der Champagne und Westfälischen Pumpernickel aus, nun ja, Westfalen. Aber geschützte Herkunftsbezeichnungen sorgen nicht dafür, dass wir diese rund 1.500 geschützten Produkte auch kennenlernen. Sie verhindern nur, dass diese Produkte anderswo produziert werden. Genauer gesagt dürfte ich auch in Berlin-Kreuzberg Brot sechzehn Stunden lang in einem dampfgefüllten Ofen backen, aber ich dürfte es dann nicht Westfälischen Pumpernickel nennen. Andererseits dürfte ich es Gabriels Dauerdampfbrot nennen und hier und in Polen verkaufen, aber nicht, wenn in der polnischen Version doppelt so viel Zucker ist. Dann müsste ich es in Polen zum Beispiel Gabriels Zuckerbrot (schonend dampfgegart in Berlin-Kreuzberg) nennen und alles wäre gut. Er ist ein merkwürdiges Ding, dieser Binnenmarkt, der Handelshemmnisse bekämpft, aber sich gar nicht darum schert, ob wir diese europäische Vielfalt auch wirklich im Supermarkt vorfinden. Nicht die EU, sondern die wenigen Lebensmittelkonzerne, die die Supermärkte dominieren und die wenigen Handelsketten, die die Städte dominieren, entscheiden darüber, welchen Waren wir überhaupt begegnen.

Der philosophische Begriff dafür, dass Dinge auch ganz anders sein könnten, lautet übrigens Kontingenz. Die Richtung, in die sich Fenster öffnen, ist kontingent. Das Supermarkt-Sortiment ist es auch. Die Dinge sind anderswo anders als hier, oft aus Tradition, aus (womöglich guten) Gewohnheiten und kulturspezifischen Prioritäten. In Dänemark isst man gerne üppig belegte Brote mit Gabel und Messer – in Deutschland weniger üppig und dafür mit den Händen. Es hätte auch umgekehrt sein können! In Italien mag man das Frühstück klein und süß, in Deutschland herzhaft und üppig. Diese Differenzen können etwas bedeuten, müssen sie aber nicht. Was diese kulturellen Unterschiede aber in jedem Fall leisten: Sie schaffen Vielfalt. Wir müssten nur mehr davon mitbekommen!

Mit einem abstrakt freien Warenfluss ist das Ziel des EU-Binnenmarkts nicht erreicht. Er müsste vielmehr das konkrete Produkterleben der europäischen Warenvielfalt befördern. Daher folgender Vorschlag, zumindest für Supermärkte: Es könnte für jede Produktkategorie mindestens eine Alternative aus einem anderen EU-Land geben. (Ich sehe schon deutsche Großbäckereien zittern, wenn die Kund:innen merken, wie fantastisch französische Walnussbaguettes sind, selbst wenn sie schockgefroren angeliefert werden.) Wenn den Handelsketten das zu teuer ist, könnte die EU den lustigen Produktringtausch subventionieren. Denn so lange die Kundschaft nicht weiß, was ihr entgeht, schrappen viele unserer Produkte des täglichen Lebens am unteren Ende des Akzeptanzkorridors entlang. Umgekehrt würden wir natürlich auch hiesige Produkte, die es sich zu kennen lohnt, nach Finnland und Malta bringen, zum Beispiel Grießbrei, Aachener Pflümli und Ahle Wurst aus Nordhessen, wo parallel zur Salami eine eigene Wurst von mindestens gleicher Qualität erfunden wurde. (Leider setze ich mich mit diesem Vorschlag auch der Kritik überbordender europäischer Regulierungswut aus, aber es ist ja für einen guten Zweck.)

Die Qualität, die gerade noch erlaubt ist

Der blinde Fleck des Binnenmarkts ist, dass er keine echte europäische Vergleichbarkeit von Produkten herstellt, denn am Vergleich mangelt es den Verbrauchenden. Sie wissen nicht, ob der polnische Keks vielleicht besser schmeckt als der deutsche, sie haben noch nie von dänischen Fenstern gehört und von dem italienischen Rasierschaum können sie nicht mal träumen, weil sie ihn nicht kennen.

Schwerwiegender als die mangelnde Diversität der Produkte ist nur noch das: Die weit verbreiteten, leicht erhältlichen Produkte haben oft nur die Qualität, die gerade noch erlaubt ist. Die Iglo-Fischstäbchen erhalten nicht ein Prozent mehr Fisch als die vorgeschriebenen 65 Prozent. Und das ist schon die führende Marke im Supermarkt. Warendruck schafft Abverkauf.

Meine unangenehme Vermutung ist die: Unternehmen machen Produkte gerade so gut, wie es die Akzeptanzkultur in der jeweiligen Produktkategorie im jeweiligen Absatzmarkt erfordert. Wer einmal in einem französischen Supermarkt war, wundert sich, zu welchen Leistungen die deutsche Großfleischerei Herta imstande ist, wenn die Kundschaft (und der Gesetzgeber) sie verlangt, von denen wir aber hierzulande nichts erfahren: Quiche Lorraine ohne Palmöl, Chorizo, die ohne das womöglich krebserregende Nitritpökelsalz haltbar gemacht wird, Käseschinkentoast mit Comté! In vielen Branchen liefern Unternehmen nur das, was gerade noch akzeptiert wird. Die Untergrenzen des Sortiments markieren Sicherheitsnormen, Lebensmittelrecht, die Verbraucherschutzgesetzgebung. Aber Tradition und Kundenerwartung spielen eben auch eine Rolle. Wenn es besser werden soll, als es sein muss, muss die Kundschaft aber vergleichen können mit dem, was anderswo möglich ist. Sonst bleibt alles, wie es ist.

Vom Versprechen eines europäischen Binnenmarkts mit vergleichbaren Preisen, mit gleichen Regeln für alle und einem freien Fluss der Waren und Dienstleistungen profitieren wir Konsumierenden im Alltag viel weniger als die Konzerne. Im deutschen Supermarkt findet sich ein ganz anderes Sortiment als im französischen, aber dafür in allen deutschen Supermärkten ein ähnliches. Eine Globalisierung von Qualität oder Sortiment findet nicht statt, nicht mal eine Europäisierung. Jeder Markt bekommt das, was er – gerade noch – akzeptiert.


Korrekturen: Der Noxzema-Rasierschaum ist ursprünglich ein US-amerikanisches, kein italienisches Produkt. Wir haben ergänzt, dass die Nutzungsrechte an der Marke Noxzema und den verbundenen Produkten je nach Produktkategorie und Land mittlerweile bei unterschiedlichen Unternehmen liegen. Die Credit Suisse wurde von der UBS übernommen, nicht umgekehrt. Die Beiersdorf-Pflegereihe für Männer heißt ‘Nivea Men’, nicht ‘Nivea for Men’. Wir haben eine OECD-Studie zum Glasfaser-Ausbau verlinkt.

Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Warum viele Produkte anderswo besser sind als in Deutschland

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