Vor einiger Zeit aß ich einmal ein verdammt schlechtes Brötchen. Ich war hungrig und in Eile, als ich es beim Einkaufen aus dem Regal nahm. Es war blass und in Plastik eingeschweißt, hatte die Konsistenz eines Tafelschwamms und schmeckte schal. Ein Blick auf die Verpackung brachte Klärung: Das Brötchen konnte nichts dafür. Es war glutenfrei und aus Reismehl.
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Dieser Text erschien das erste Mal vor einigen Jahren, ist aber immer noch wichtig und aktuell. Deswegen haben wir ihn grundlegend aktualisiert.
Mittlerweile hat sich viel getan, längst kann man glutenfreie Backwaren kaufen, die tatsächlich wie Brot schmecken. Das ist eine gute Nachricht für Menschen, die an Zöliakie leiden, einer chronischen entzündlichen Darmkrankheit. Zöliakiekranke vertragen Gluten nicht, ein Klebereiweiß, das ein natürlicher Teil von Getreide ist. Es macht etwa 13 Prozent von dessen Trockensubstanz aus, ein Brotteig enthält knapp ein Drittel. Laut Deutscher Zöliakie-Gesellschaft (DZG) haben etwa ein Prozent der Menschen in Deutschland eine diagnostizierte Glutenunverträglichkeit. Wahrscheinlich ist die Dunkelziffer höher, weil nicht alle die gleichen Beschwerden haben oder damit beim Arzt waren. Die weitaus meisten haben mit Gluten aber kein Problem. Dennoch reißen immer mehr Menschen zum Frühstück eine Tüte Ersatzbrot auf, das oft viel teurer ist das herkömmliche vom Bäcker, oder bestellen im Café vorsichtshalber den glutenfreien Kuchen. Ist das gesund?
Gluten soll krank, dick und unglücklich machen
Seit zehntausend Jahren, seit den Anfängen der Landwirtschaft also, säen, ernten, verarbeiten und essen Menschen Getreide und damit auch das darin enthaltene Klebereiweiß. Glutengegner argumentieren, dass dies menschheitsgeschichtlich gesehen eine relativ kurze Zeitspanne sei, dass unsere Verdauung sich also noch nicht an diese neumodischen Körner gewöhnt habe. Wenn sie recht hätten, müssten unsere Vorfahren in den vergangenen zehntausend Jahren sich deswegen krank, depressiv, geistig vernebelt und aufgebläht durchs Leben geschleppt haben. Tatsächlich dürften damals wie heute nur wenige Menschen wirklich kein Gluten vertragen haben.
Trotzdem steigt der Absatz von glutenfreien Produkten seit Jahren. Bei einer Erhebung gaben gut zwei Millionen der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahren an, in den letzten zwei Wochen glutenfreie Produkte gekauft zu haben. Das entspricht ungefähr drei Prozent der Bevölkerung. Diese Fakten lassen nur einen Schluss zu: Glutenfreie Produkte werden auch von Menschen gewünscht und gekauft, die davon keinen gesundheitlichen Vorteil haben.
Merkwürdig, denn vor zehn Jahren wusste noch kaum jemand, was Gluten ist. Dann kamen Bücher wie „Weizenwampe“ und „Dumm wie Brot“ und änderten alles: Sie behaupteten, Gluten würde krank, dick und unglücklich machen. Lebensmittelkonzerne sahen darin Potenzial und fingen an, Produkte gezielt mit dem Label „glutenfrei” zu bewerben – als wäre es besonders gesund, auf Weizenkleber zu verzichten. Beim Verkauf hilft, dass Gluten in Deutschland seit Ende 2014 auf Zutatenlisten fett gedruckt werden muss, weil es ein Allergen ist. Deshalb sticht es jetzt mehr ins Auge, es wirkt potenziell problematisch. Internetportale wie das bei Verbraucherschützern sehr unbeliebte „Zentrum der Gesundheit“ behaupten, Gluten würde „die Sinne vernebeln“, Migräne, Depressionen, Blähungen, Schlafstörungen und überhaupt fast alles verursachen, was das Leben müde und schwer sein lässt. Neben den entsprechenden Artikeln sind praktischerweise gleich glutenfreie Produkte verlinkt. Das Südtiroler Unternehmen Dr. Schär, dessen glutenfreie Spekulatius und Pizzaböden überall in Deutschland in den Dm-Drogerien liegen, hatte vor 20 Jahren noch einen Umsatz von 20 Millionen Euro, 2021 waren es schon 440 Millionen. Etwa ein Drittel der Kunden kaufen die Produkte ohne medizinische Indikation, sagte Philipp Schoeller, der Geschäftsführer des Unternehmens, dem Handelsblatt.
Mittlerweile bieten Ikea-Restaurants glutenfreie Varianten an und bei McDonald’s gibt es Hamburger mit glutenfreiem Brot. Das ist großartig für alle, die tatsächlich krank werden, wenn sie Gluten essen. Für alle anderen könnte sogar das Gegenteil stimmen. Wer Gluten ohne Not weglässt, ernährt sich vielleicht unausgewogen und verzichtet auf Lebensmittel mit wichtigen Nährstoffen. Eine aktuelle Auswertung von Studien zeigt sogar, dass eine glutenfreie Ernährung das Risiko für Typ-2-Diabetes erhöhen könnte.
Experten ziehen daraus, zum Teil mit Unterstützung von Herstellern glutenfreier Produkte, ihre eigenen Schlüsse. Weil viel mehr glutenfreie Produkte verkauft werden, es aber nicht viel mehr Zöliakie-Kranke gibt, müsse es also auch andere Krankheitsbilder geben, die mit Gluten zusammenhängen, vermuten sie. Was ein bisschen der Logik entspricht, es müsse mehr Diabetiker geben, wenn mehr Diät-Limo getrunken wird.
Wie die neue Glutenkrankheit heißen soll, ist noch nicht beschlossen. Es kursieren verschiedene Bezeichnungen, unter anderem „Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität“. Sie sei auf dem besten Weg, „ein äußerst populäres Krankheitsbild zu werden“, schreibt die Ernährungstherapeutin Dr. Imke Reese. Im Gegensatz zu einer echten Glutenunverträglichkeit kann man diese aber noch nicht per Test nachweisen. „Die einzigen Diagnosekriterien basieren auf der Beobachtung – oftmals allerdings nur Eigenbeobachtung der Betroffenenen –, dass unter glutenhaltiger Ernährung Beschwerden auftreten, die sich unter glutenfreier Kost bessern, obwohl eine Weizenallergie und Zöliakie definitiv ausgeschlossen sind“, kritisiert Reese. „Doch gerade dieser definitive Ausschluss hat in kaum einer Untersuchung tatsächlich stattgefunden.“
Jedem, dem es trotzdem mit einer glutenfreien Diät besser geht, wird diese Kritik egal sein. Und tatsächlich lässt sich die Tatsache, dass viele Menschen sich besser fühlen, wenn sie kein normales Brot essen, nicht wegargumentieren, egal wie unwissenschaftlich dieses Gefühl sein mag. Was viele nicht wissen, ist allerdings, dass weniger Beschwerden durch eine glutenfreie Diät kein Beweis dafür sind, dass Gluten die Wurzel des Übels ist. So haben Studien gezeigt, dass auch andere Getreidebestandteile der Grund dafür sein könnten, dass es manchen Menschen schlecht geht, wenn sie Brot oder Nudeln essen. FODMAPs etwa, kurzkettige Kohlenhydrate und Zuckeralkohole, sind ebenfalls in Weizen und anderen Getreiden enthalten und scheinen die gleichen unspezifischen Bauch-Kopf-Verdauungsprobleme zu provozieren, für die man oft Gluten verantwortlich macht.
Und dann kommt es auch noch darauf an, welche Getreidesorte man isst. Getreidegegner und „Weizenwampe“-Fans behaupten gerne, dass moderne Getreidezüchtungen das eigentliche Übel seien: Diese „hochgezüchteten“ Sorten seien daran schuld, dass Brot uns krank und gehirnlahm mache. Tatsächlich werden sowohl alte als auch neue Sorten unterschiedlich vertragen.
Wie viel Kleber Getreide enthält, hängt von den Anbaubedingungen ab, zum Beispiel der Düngermenge und dem Wetter, und von der Art: In Weizen, Dinkel, Roggen, Kamut, Emmer und Einkorn steckt viel, in Hafer und Gerste wenig. Glutenfrei sind Getreide wie Teff (Zwerghirse, wird in Äthiopien viel verwendet), Hirse, Mais und Reis, auch die Pseudogetreide Quinoa, Amaranth und Buchweizen.
Das klingt verwirrend und ist es auch: Jeder Arzt, der ehrlich ist, wird zugeben, dass eigentlich niemand so recht weiß, wie die Verdauung funktioniert. Bis man das herausgefunden hat – und das kann noch lange dauern – könnte man zumindest in Bezug auf Brot eine viel interessantere und praktischere Frage stellen als die, ob Brot per se böse ist: Nämlich die, ob eine ganze Menge Bäuche sich vielleicht wohler fühlen würden, wenn wir einfach besseres Brot verlangen und essen würden.
Denn was heutzutage, in Zeiten boomender Backshops, passieren kann, ist das folgende Szenario: Ein hungriger Mensch geht in eine Selbstbedienungsbäckerei und kauft sich ein Brötchen. Nachdem er es gegessen hat, geht es ihm nicht gut. Er folgert daraus, oder vielleicht erklärt es ihm ein wohlmeinender Mensch, der diese Information gerade in einem entsprechenden Internetportal gelesen hat, dass er kein Gluten verträgt. Fortan lässt der Mensch die Finger von normalen Backwaren. Was er wahrscheinlich nicht weiß, ist, dass das, was unter der Bezeichnung „Brot“ verkauft wird, oft nur noch sehr wenig mit dem zu tun hat, was man sich darunter vorstellt.
Brot ist eigentlich ein sehr einfaches Lebensmittel. Um es herzustellen, braucht man Wasser, Salz, Mehl und Sauerteig (oder Hefe). Außerdem Expertenwissen und Zeit. Keine dieser Zutaten sind knapp, außer die letzten beiden. Aber genau sie machen den entscheidenden Unterschied. Ein Teig, den ein traditioneller Bäcker mit Sauerteig macht, braucht lange, bis er zum Brot wird – stunden-, manchmal tagelang. Der Bäcker muss wissen, was er tut, sonst schmeckt der Laib am Ende nicht.
Ein Brot hingegen, das in einem Backshop-Regal liegt, ist im Laden meist nur aufgewärmt worden. Von Backen kann keine Rede sein, das hat es schon woanders hinter sich gebracht, in einer Großbäckerei, die vielleicht in Polen steht. Es steckt voller Zusatzstoffe, die dafür sorgen, dass das fertige Produkt so aussieht wie ein Brot, das Zeit hatte. 200 Zusatz- und Hilfsstoffe sind im Backgewerbe erlaubt, und sie stecken nicht nur in Backshop-Brötchen, sondern auch in den Teigen vieler „echter“ Bäcker, die sich die Arbeit damit leichter machen. Eigentlich dürfte man so entstandende Produkte nicht „Brot“ nennen, so wie man ein Produkt aus Soja, Emulgator und Farbstoff auch nicht „Käse“ nennen darf, sondern als „Analogkäse“ bezeichnen muss, oder ein Getränk aus Zucker, Wasser und Aromen nicht „Saft“.
Für Menschen mit Glutensorgen (die also keine diagnostizierte Unverträglichkeit haben) ist dieser Punkt deshalb relevant, weil es gut sein kann, dass sie die traditionellen, lang gegangenen Brote viel besser vertragen würden als das Analogbrot. Es ist eine altbekannte Tatsache, dass Brote mit langer Teigführung besser verdaulich sind, nicht zuletzt deswegen, weil bei diesem Prozess ein Großteil des Glutens abgebaut wird. Es könnte also sein, dass sie nicht von Gluten an sich Bauchweh bekommen, sondern von zu viel Gluten. Auch eine Übersichtsarbeit, in der die Autor:innen die Ergebnisse von 30 Jahren Sauerteigforschung zusammengetragen haben, zeigt: Sauerteigprodukte sind besser verdaulich.
Wir könnten weniger glutenfreie Brötchen essen, die steril abgepackt werden wie OP-Besteck und für Kunden gemacht worden sind, die unter einer Krankheit leiden. Wir könnten es einfach mal mit normalem Brot probieren. Und bei der Gelegenheit die wenigen Bäcker unterstützen, die sich überhaupt noch die Mühe machen, so etwas zu backen.
Bildredaktion: Philipp Sipos; Schlussredaktion: Susan Mücke; Audioversion: Iris Hochberger