Illustration: Ani Semchi vor einer hügeligen Landschaft. Sie trägt die traditionelle Kleidung buddhistischer Nonnen und Mönche: Ein Rotes Tuch und einen orangenen Schal.

© Mia Oberländer

Sinn und Konsum

Interview: „Glück braucht keine äußeren Umstände“

Im Buddhismus hat Ani Semchi Gelassenheit gefunden. Doch wie geht Leichtigkeit, ohne sich von der Welt abzuwenden?

Profilbild von Astrid Probst
Reporterin

Die Haare kurz geschoren und in der orangefarbenen Robe erkenne ich die Nonne am Bahnhof von weitem. Ani Semchi hat einen zweiten Schirm mitgebracht und stellt mir so viele Fragen, dass ich verwirrt bin. Eigentlich will ich doch ihr Fragen stellen, der Frau, die jetzt so zackig durch das baden-württembergische Kirchheim unter Teck spaziert und eine Gelassenheit versprüht, um die sie sicher viele beneiden.

Der Weg führt vorbei an Wohnhäusern, schließlich Industriegebäuden und dann sind wir da. Beim „Samye Dzong Kirchheim e.V.“. Dem tibbetisch-buddhistischen Meditationszentrum für Weltfrieden und Gesundheit – so steht es an der Hauswand. Hier wohnt und praktiziert Ani Semchi. Als Angelika Schnabel ist sie in Notzingen bei Stuttgart aufgewachsen, fand durch eine Indienreise zum Buddhismus, wurde vor rund 20 Jahren zur Nonne und zu Ani Semchi – das bedeutet: glücklicher Geist.

Mit der 67-Jährigen will ich über das reden, wonach sich heutzutage so viele sehnen: Leichtigkeit und Gelassenheit. Und darüber, warum sie denkt, dass Verzicht das Leben besser macht.


Ani Semchi, du verzichtest auf vieles von dem, was die heutige Gesellschaft als wichtig erachtet. Wie schafft man das?

Ich wollte noch nie viel besitzen, weil ich das als Ballast empfunden habe.

Anderen fällt das jedoch schwer. Warum sollte ich überhaupt auf Besitz oder Familie verzichten?

Niemand muss das tun. Aber Besitz hält unglaublich geschäftig und kann alle Emotionen, die mein Leben schwieriger machen, verstärken. Eifersucht, Stolz, Abneigung etwa. Damit kämpfen wir alle. Doch je mehr ich besitze, desto stärker wird die Angst in mir, etwas zu verlieren. Zugleich wachsen meine Bedürfnisse nach Besitz. Und was damit verbunden ist, Gedanken, Sehnsüchte, Emotionen nehmen immer mehr Raum ein. Wenn ich zum Beispiel immer die gleiche Kleidung trage, habe ich viel mehr Freiraum. Der wäre sonst damit belegt, mir zu überlegen, was ich kaufen kann und wie ich meinen Kleiderschrank fülle. Oder was soll ich anziehen? Genauso ist es mit der Frisur. Keine Haare zu haben, spart irre viel Aufmerksamkeit und Mühe.

Du bist jetzt seit rund 20 Jahren Nonne. Seither trägst du Glatze. Fiel es dir schwer, dich von deinen Haaren zu verabschieden?

Überhaupt nicht. Das ist eine riesige Erleichterung. Alle acht, neun Tage rasiere ich meinen Kopf, damit die Haare so kurz bleiben.

Bist du völlig frei davon, anderen Menschen gefallen zu wollen?

Ich kann nicht sagen, dass ich ganz uneitel bin oder es wunderbar finde, alt zu sein. Doch es ist gleichzeitig total entspannend. Es gibt mir unheimlich viel Freiheit. Wenn ich etwa durch die Stadt laufe, weiß ich, ich werde nicht angemacht. Ich bin kein Objekt für Attraktivität. Und das ist sehr entspannend.

Während wir an dem großen Holztisch hinter der Küche sitzen, prasselt Regen auf das Flachdach des Meditationszentrums. Früher war in dem Gebäude im Hinterhof zwischen Wohngebiet und Industriegebäuden eine Teppichfabrik. Heute zieren Stoffbahnen die Wände. Dafür hat Ani Semchi verschiedene Textilien, aus vielen Farben und Mustern, so zusammengenäht, dass buddhistische Motive entstehen.

Du hast bei einer Indienreise zum Buddhismus gefunden – jemand hat dir einen Kurs in einem buddhistischen Kloster in Kathmandu empfohlen. Wie war es für dich, dort anzukommen?

Es war mir sofort vertraut. Vorher war ich lange Zeit auf der Suche. Dort fühlte ich: Hier kann ich mich verändern. Hier kann ich lernen. Und das war das Allerwichtigste für mich.

Kannst du genau sagen, wonach du auf der Suche warst?

Das wusste ich nicht. Ich wusste nur: Ich möchte mich verändern, ein besserer Mensch werden und dazu beitragen, dass die Welt eine bessere wird. Ich wollte mehr in der Lage sein, meine Emotionen unter Kontrolle zu haben. Aber dann erlebte ich, wie ich oft gefangen war in Kleinigkeiten. Wie ich mich etwa irritieren ließ, wenn jemand unfreundlich war. Ich wusste: Ich möchte glücklicher sein und ich habe das Potenzial dazu. Und ich wollte es nicht darauf verschwenden, Kinder zu bekommen und zu heiraten. Also das zu tun, was viele in dem Dorf taten, in dem ich aufwuchs.

Ab wann war dir klar, dass du das nicht wolltest?

Sehr früh. Mit zwölf Jahren wusste ich, ich werde nie heiraten und mich abhängig machen. Ich wollte lieber mit vielen Menschen leben.

Gab es einen Auslöser dafür, dass du dein Leben reflektiert hast? Mit zwölf Jahren tut das nicht jede.

Es gab nicht diesen einen Moment. Im Buddhismus würden wir sagen: Es war Karma. Das heißt Handlung oder Wirkung. Etwas hat mich gezogen. Der Gedanke hinter Karma ist simpel: Jede Handlung hat eine Auswirkung. Wir handeln, um etwas zu erreichen. Wenn ich freundlich zu dir bin, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass du freundlich zu mir bist. Im Buddhismus versuchen wir, uns über solche Prinzipien bewusst zu werden, sie für unsere Entwicklung einzusetzen und uns nicht als Opfer von Umständen zu sehen oder uns ihnen zu überlassen.

Karma ist heutzutage ein Modewort…

Findest du?

Viele verwenden es, zum Beispiel so: Wenn etwa jemand stolpert, sagt man, das war Karma. Weil die Person mich vor einer Woche ausgelacht hat dafür, dass ich gestolpert bin.

Das finde ich ganz, ganz übel! Weil das einen ganz schlechten Eindruck über Karma hinterlässt. Das ist viel zu vereinfachend und bewertend. Da wird Karma eingesetzt, um Menschen ein schlechtes Gefühl zu geben, um sich über sie zu erheben. Darum ist es mir wichtig, hier im Zentrum Diskussionen über Begriffe zu führen. Im Alltag reden viele über Mitgefühl. Wenn ich frage, was das genau ist, verschwimmt der Begriff. Mal ist Mitgefühl, freundlich zu sein. Ein anderes Mal ist Mitgefühl, jemanden vor den Kopf zu stoßen, weil man helfen möchte. Jeder hat sein eigenes Verständnis. Darum nehmen wir uns im Zentrum die Zeit, darüber nachzudenken. Wir haben Gedanken und Meinungen aus Gewohnheit, die wir nicht hinterfragen. Hier wird niemand angeregt, Dinge zu hinterfragen.

Ani Semchi steht in einem Gang. Sie trägt die traditionelle Kleidung Buddhistischer Nonnen und Mönche.

© Astrid Probst

Was meinst du mit „hier“?

In der Gesellschaft, in der Schule. Auch im Christentum, da geht es nur um Glauben. Das ist das Gegenteil von dem, was im Buddhismus gelehrt wird.

Der Buddhismus hält es aus, kritisch hinterfragt zu werden?

Natürlich. Das ist, was Buddha gesagt hat: Glaubt nichts, nur weil ich es euch sage, sondern prüft alles. Das sind die drei Schritte, die der buddhistischen Lehre einer Entwicklung zugrunde liegen. Der erste ist das Lernen, die Information bekommen. Dann hinterfragen, reflektieren, prüfen und schließlich das Meditieren. Es ist wichtig, dass Leute Fragen stellen und nicht einfach Dinge unhinterfragt hinnehmen.

Als du gemerkt hast, dass du dir ein anderes Leben wünscht – ohne Kinder und Ehemann – hast du anderen davon erzählt?

Meiner Mutter habe ich es gesagt. Sie und meine Tante haben sich angeguckt und gesagt: Ach, lassen wir sie mal reden. Es war dann gar nicht einfach für meine Eltern, als sie begriffen haben, dass ich es ernst meine.

Inwiefern war es nicht einfach?

Ich komme aus einem kleinen Dorf in Baden-Württemberg. Jeder kennt jeden. Meine Eltern wurden krumm angeguckt, von wegen: Die Tochter lässt die allein. Und was macht die? Zu der Zeit, Ende der 1970er, war Meditation total dubios. Es war fast eine Schande, dass ich mich mit Buddhismus beschäftigte. Mir hat das schon ein schlechtes Gewissen gemacht.

Nach der Zeit in Indien hast du eine Weile mit anderen Buddhisten in Oberfranken gelebt und bist 1986 in das tibetisch-buddhistische Kloster Samye Ling nach Schottland gezogen. Haben deine Eltern deine Entscheidung verstanden?

Sie haben zwar gelitten, aber sie haben mich immer akzeptiert.

Wie konntest du damit umgehen, dass deine Eltern wegen deiner Entscheidung litten?

Ich habe versucht, hilfreich zu sein, in Kontakt zu bleiben. Sobald ich in Samye Ling war, hat sich vieles verbessert. Meine Eltern haben mich dort besucht. Und zum Schluss – da sieht man wieder, dass man nie weiß, wofür etwas gut ist – als beide pflegebedürftig wurden, war es ihre Rettung, dass ich weder Familie, noch eine Arbeit hatte. Ich konnte von heute auf morgen mein Leben in Samye Ling aufgeben, zurück zu ihnen ziehen und mich voll auf ihre Pflege fokussieren. Dadurch konnten sie in ihrem Haus bleiben. Ich habe sie gepflegt und versorgt; meine Mutter fünf Jahre lang und meinen Vater zweieinhalb. Ganz alleine. Viele aus dem Dorf, die zuvor über mich gelästert hatten, fanden das toll.

Du bist einer dieser Menschen, bei denen ich mir denke: Was diese Person erlebt hat, passt doch nicht in nur ein Leben…

Ich habe schon recht viel erlebt.

… du hast nach der Realschule eine Ausbildung bei Daimler gemacht, das Abitur nachgeholt und angefangen, Sozialpädagogik zu studieren. Bist viel gereist und leitest seit einigen Jahren dieses tibetisch-buddhistische Zentrum in Kirchheim unter Teck.

Ich hatte auch beinahe einen Mann, zwei Häuser – eines gemeinsam mit Freunden in Oberfranken und mein Elternhaus. Beide habe ich renoviert, ohne viel Geld dafür zu bekommen. Wenn ich darüber rede, dass man sein Leben anders gestalten und aus gesellschaftlichen Normen ausbrechen kann, weiß ich, wovon ich rede. Weil ich selbst darin steckte.

Würdest du dich als Aussteigerin bezeichnen?

Mein Leben ist schon anders als das der meisten. Aber eine Aussteigerin bin ich nicht. Ich lebe sehr wohl in der Gesellschaft und mir ist es wichtig, ein Bewusstsein zu entwickeln für das, was in der Welt passiert. Und in dieser Welt auch Verantwortung zu übernehmen. Im Buddhismus bemühen wir uns, die Zusammenhänge von allen und allem zu erkennen und zu verstehen. Das Kloster in Schottland gilt für mich da als vorbildlich. Dort habe ich erkannt: Es gibt viele Möglichkeiten zu leben. Man muss nicht so leben, wie es uns hier weisgemacht wird. Mit Familie und Beruf. Man kann absolut zufrieden alleine leben und trotzdem mit anderen. Und vor allem kann man billiger leben. Das ist ein wesentlicher Punkt. Wenn ich meine Bedürfnisse einschränke, wenn ich lerne, mit weniger zufrieden zu sein, brauche ich nicht so viel zu arbeiten.

Buddhismus gilt als liberale Weltreligion, enthält aber auch frauenfeindliche Züge. Für Nonnen gelten mehr Regeln als für Mönche und sie müssen sich ihnen unterordnen.

Nicht im tibetischen Buddhismus, da werden Frauen eher speziell gefördert. Es sind auch Frauen, die überwiegend die Zentren leiten. Auch in Samye Ling wird in keiner Weise ein Unterschied gemacht. Ähnlich war es in Tibet. Klar, die meisten Lehrer sind heute noch Männer. Was daran liegt, dass es früher für sie leichter war, zu reisen. Das ist historisch so entstanden. Aber es gibt unglaublich beeindruckende Nonnen, die Klöster leiten.

Lass uns nochmal über deinen Weg zum Buddhismus sprechen: Heute sagst du, dass dich Karma zum Buddhismus geführt hat. Aber damals hattest du ja diese Erklärung noch nicht.

So erkläre ich mir das heute. Irgendwann habe ich die Ursache dafür geschaffen, dass ich auf diese Weise gelenkt werde. Im Buddhismus gehen wir davon aus, dass es Reinkarnation gibt. Dass wir nicht völlig neu in dieses Leben kommen. Sondern, dass wir Anlagen und Eindrücke mitbringen. Karma bedeutet also auch, dass sich mein Geist aufgrund dessen, wie ich im letzten Leben gelebt und gestorben bin, von bestimmten Umständen angezogen fühlt. Deshalb ist es wichtig, sich zu überlegen: Wie will ich sterben und was will ich mitnehmen in meinem Geist ins nächste Leben?

Was möchtest du mitnehmen?

Herzensgüte und gute Qualitäten. Jeder Mensch möchte glücklich werden. Nur die meisten reflektieren nicht, dass ihre Art, Glück zu suchen, ein direkter Weg ins Unglück ist. So wie uns die Idee von Glück vermittelt wird, finden wir es nur im Äußeren und sind damit abhängig von Umständen. Davon löse ich mich. Im Buddhismus reden wir von Samsara, das heißt: Ich strebe nach dem, was mich glücklich macht. Also vermeide ich das, von dem ich denke, dass es mich unglücklich macht.

Und dann erreichen wir das Glück?

Ne, dann haben wir Probleme. Es besteht immer die Gefahr, dass das, was du anstrebst, nicht eintritt.

Ach so.

Niemand möchte krank werden. Doch irgendwann wird jeder Körper krank. Darum müssen wir reflektieren, was Glück bedeutet. Denn das, was wir oftmals als Glück bezeichnen – das unreflektierte Glück – liegt meist in den Händen anderer oder anderer Umstände, Situationen, Ereignisse. Deshalb ist die einzige Quelle von Glück, die nie vergehen kann, mein eigener Geist. Darum versuche ich, das Glück in mir zu finden. Dieses Glück braucht keine bestimmten äußeren Umstände. Ich kann es in mir tragen, auch wenn mein Partner mich verlässt, auch wenn ich keine Arbeit habe. Auch wenn ich krank bin oder arm und nicht in Urlaub fahren kann.

Manche nennen es „schnelles Glück“, wenn man sich Glück erkauft und sich für harte Arbeit mit Konsum belohnt. Mit teuren Sneakern oder Urlaub. Dadurch geraten viele in einen Kreislauf aus Arbeit und Konsum. Wie erlangt man langfristiges Glück?

Mach irgendwas, bei dem du nur bei dir sein kannst. Das du allein machen kannst, nur für dich. So schafft man es, dahin zu gelangen, dass man für die eigene Zufriedenheit möglichst wenig braucht.

Ich stelle mir vor, dass man sehr im Reinen mit sich ist, wenn man das schafft. Wenn man nichts von außen braucht, um das innere Glück zu erlangen.

Wer mir da ein tolles Beispiel ist, war meine Mutter. Nach einem Schlaganfall war sie rechtsseitig gelähmt. Gemeinsam haben wir geübt, dass sie mit links Mandalas ausmalen kann. Das hat sie schon so glücklich gemacht. Sie liebte es auch, stundenlang im Garten zu sitzen. Mehr brauchte sie nicht. Trotz ihrer Einschränkung strahlte sie diese totale Zufriedenheit aus. Auch durch sie lernte ich: Genügsamkeit, das ist der größte Reichtum.

Und wie kommt man da hin?

Durch Loslassen lernen. Überleg, was du brauchst. Und dann frag dich: Was wäre, wenn auch das nicht da ist?

Nehmen wir eine berufstätige Person, die Familie hat, ein Haus, ein Auto vielleicht und dafür Raten abzahlen muss. Wie soll die mit Loslassen anfangen, wenn es schon ein Problem ist, sich für eine Feierabendverabredung Zeit zu nehmen?

Die sollten sich fragen: Womit verbringe ich meine Zeit? Dafür reichen fünf Minuten. In denen man nur dasitzt und nachdenkt. Was ist mir wichtig im Leben? Auch in Beziehungen. Welche sind bereichernd? Welche ziehen mich runter? Es fängt damit an, das eigene Leben genau zu betrachten und zu hinterfragen, was zufrieden macht.

Was schenkt dir am meisten Zufriedenheit?

Meditieren. Möglichst lange und ohne Ablenkung. Ich war zuletzt eine Woche auf der Alb, ganz alleine. Auf einem Retreat. Da habe ich nicht geredet. Ich fand es genial.

Manche kritisieren diese Art des Rückzugs. Der Vorwurf lautet, dass man sich von der Welt abwenden und Eskapismus betreiben würde. Kannst du das nachvollziehen?

Solche Kritik höre ich vor allem, wenn es um Retreats – also um Auszeiten – geht. In solchen Fällen ist sie aber voll daneben. Wenn sich jemand als Teil der Praxis zurückzieht, ist das in keiner Weise Flucht. Sondern das Gegenteil. Die Leute, die ständig mit dem Internet oder Kino, Urlaub, Essen gehen beschäftigt sind, flüchten wirklich. Wer alleine mit dem Geist ist, nicht abgelenkt wird, der kann nicht flüchten.

Ani Semchi vor einer Buddha-Statue.

Ani Semchi im Schreinraum. Hier wird meditiert. © Astrid Probst

Wie erlangt man mehr Leichtigkeit, ohne vor der Welt zu flüchten?

Indem wir loslassen lernen und uns auf das Positive und Miteinander besinnen. Und auch mal verrückte Dinge tun: Im Winter im See baden gehen, das mache ich immer mit einer Freundin. Manchmal mache ich es mir zur Übung, Leute anzusprechen. Als ich vor Kurzem in Schottland war, hatte ein jüngerer Mann an einer Bushaltestelle Strickzeug dabei. Da habe ich ihn gefragt, was er strickt und er hat es mir gezeigt. Das war total nett. Das Gespräch dauert nur drei Minuten.

Aber du erinnerst dich daran.

Ja, das wirkt nach. Man kann selbst mehr Freude ins Leben bringen. Allein indem man freundlich ist zu Leuten. Auch das bringt eine gewisse Leichtigkeit.

Ani Semchi lacht während des Gesprächs viel, außer, wenn es um Buddhismus und die großen Lebensfragen geht. Immer wieder will sie meine Gedanken zu alledem hören. Wir reden über meine Reise nach Indien (ich war damals 22 Jahre alt und reiste auch alleine), über die Dörfer, aus denen wir stammen und die Erwartungen der Gesellschaft an Frauen, etwas, dass sie Kinder bekommen.

Fast drei Stunden sind vergangen, unsere Kaffeetassen sind leer. Zeit zu meditieren, sagt Ani Semchi. Für mich ist es das erste Mal. Sie geht voran in den Schreinraum, in der Mitte des Gebäudes. Darin thront eine Buddha-Statue, Kissen liegen auf dem Boden, 1.000 kleine Buddhas sind in Vitrinen aufgereiht.

Welche Art von Meditation ist das heute?

Eine Anfängermeditation; dabei sitzt man ungefähr 25 Minuten still da. Manchmal mache ich das mit Anleitung und erzähle, warum es gut ist zu Meditieren oder worauf man achten sollte.

Und was ist die Antwort auf diese Fragen?

Um zufriedener leben zu können und mich besser kennenzulernen. Um auch bewusster in dieser Welt zu sein. Meditieren heißt, bei sich zu sein und mehr wahrzunehmen. Was passiert gerade mit mir. Im Körper, im Geist, in meinen Empfindungen? Wie wirke ich auf andere? Wie wirkt die Umgebung auf mich?

Ist Meditieren ein klassischer Fall von Verschlimmbesserung? Viele erleben es ja so, dass es ihnen erstmal schlechter geht, wenn sie rumgrübeln. Weil man merkt, wo es überall zwickt und womit man unzufrieden ist …

Die Idee von Meditation als Grübeln, das ist voll daneben. Sorry!

Ha, naja, aber das macht man doch automatisch, in so einer Situation.

Ich bin voll bei dir, in so eine Gedankenspirale kann man kommen. Vor kurzem war hier ein buddhistischer Lehrer, den ich unglaublich schätze. Er sagte, wenn wir mit Erwartung meditieren – das tun viele – und denken: Ich meditiere, dann geht es mir besser. Oder: Ich meditiere und fühle mich danach wohl, habe ein bisschen Urlaub von Problemen, sitze da und bin glückselig. Das ist vergiftete Meditation. Wahre Meditation heißt, es zu schaffen, präsent zu sein. Man ist im Moment und nimmt wahr, was im Geist passiert: Welche Gedanken, welche Emotionen oder Geräusche nehme ich wahr? Der wichtigste Punkt ist, nicht danach zu greifen. Wir wollen keine Erklärungen finden oder Einteilen in gut oder schlecht, sondern einfach nur beobachten.

Also sprechen wir über Akzeptanz?

Was immer ich wahrnehme, es darf da sein. In diesen paar Minuten bewerte ich nicht. Das ermöglicht letztendlich zu entspannen. Aber die Leute kommen mit absurden Vorstellungen hierher.

Zum Beispiel, dass man nichts denken soll, während des Meditierens.

Ja. Das ist völliger Unsinn. Du kannst das Denken gar nicht abstellen. Dieser Anspruch macht Stress. Wenn man merkt: Meine Gedanken werden vielleicht noch mehr. Und feststellt: Das ist nichts für mich, weil ich zu unruhig bin. Deshalb ist es wichtig, mit einer Erwartungslosigkeit reinzugehen. Egal, was ich denke und wahrnehme, alles ist okay.

Also kommen die Leute auch mit dem Leistungsgedanken in die Meditation. Weil sie erstens denken, es muss ihnen besser gehen und zweitens, weil sie bewerten, wie es sein darf und nicht.

Das kann man nicht so schnell abstellen. Man muss nur verstehen, dass es ein Prozess ist und dass es Zeit braucht.

Wir setzen uns in den Schreinraum. Im Schneidersitz, so dass die Beine den Boden berühren, die Wirbelsäule gerade ist. Das kenne ich aus dem Yoga. Nur so richtig meditiert habe ich bisher nicht wirklich.

Einatmen, ausatmen. Ich soll jeden Gedanken wahrnehmen und zulassen. Aber nicht bewerten. Einfach präsent sein. Ich atme. Und denke. Und bin ziemlich froh, dass ich denken darf. Auch ich dachte, dass bei Meditation der Kopf leer sein soll und quälte mich immer durch die wenigen Minuten innehalten am Ende meiner Yogaübungen.

Ich darf also denken, starre auf die Mini-Buddha-Statuen, versuche nur zu fühlen und wahrzunehmen und frage mich: Wie verdammt schwer ist eigentlich atmen, wenn man sich darauf konzentriert? Und ist das nun dieses präsent-sein?

„Und jetzt“, sagt Ani Semchi nach 15 Minuten, „besinnen wir uns darauf, wie wir das, was wir gedacht und wahrgenommen haben, nutzen können, um anderen zu helfen.” Das sei schließlich der Sinn des Lebens.

Ich blinzle. Darüber muss ich nachdenken. Ani Semchi sieht mich erwartungsvoll an. War ich präsent? Hat es geklappt? Und woran merkt man das? Vielleicht war ich es. Ich nahm meinen Atem wahr. Meine Ungeduld. Meine Fragen. Meinen Hang dazu, mich zu bewerten – auch meine Performance beim Meditieren. Und konnte damit immerhin schnell aufhören. Ein Fortschritt. Wobei auch das wieder eine Bewertung ist.


Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Bent Freiwald, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert

„Glück braucht keine äußeren Umstände“

0:00 0:00

Einfach unterwegs hören mit der KR-Audio-App