Ich habe mal in einem Büro gearbeitet, in dessen Kaffeeküche ein Vollautomat stand, eine Kaffeemühle und -maschine in einem. Wenn ich eine unangenehme Aufgabe mit offenem Ausgang in allzu ferner Zukunft vor mir herschob und eine überschaubarere Aufgabe brauchte, gab mir der Automat eine.
Ja, ich wollte Kaffee von der Maschine, aber sie wollte immer viel mehr von mir. Das Display verlangte den Austausch des Wasserkanisters, mehr Bohnen oder die Entleerung der Tresterschublade, und wenn man all diesen Wünschen nachgekommen war, stand noch ein Reinigungsprogramm an, das den Automaten durchspült. Es lief dann unter hässlichem Gebrumm eine blassbraune Brühe in die Tasse, die man umgehend wegkippte. Ich empfand eine seltsame Genugtuung, durch einen schlichten Knopfdruck und etwas Abwarten verhindert zu haben, dass diese Rückstandsplörre meinen Kaffee verunreinigt. Hätte ich den Unterschied geschmeckt? Vermutlich nicht, aber das Bedienen der Maschine bevor sie mich bedient, das Abarbeiten einfacher Handgriffe, die mit dem befriedigenden Klacken des fugenbündig einrastenden Wasserkanisters sofortige Besserung verspricht, das ist Wellness für Geistesarbeitende, es ist das erlaubte Tetris-Spiel auf Arbeit, für das man obendrein noch Dank erhält.
Das ist jetzt zwölf Jahre her. Im Kaffeebusiness ist seitdem einiges passiert und Vollautomaten wie den Siemens EQ900 kann man jetzt bequem vom Sofa aus einstellen. Ich denke mir das nicht aus: Die Firma Bosch Siemens Hausgeräte schreibt auf ihrer Heimautomatisierungs-Website „Home Connect“, man könne ihre „smarten Kaffeevollautomaten bequem aus jedem Raum mit der Home Connect App steuern. Einfach das Lieblingsgetränk auswählen und via App zubereiten lassen.“
Schatz, stellst du bitte eine Tasse in das Gerät, damit ich bequem vom Sofa aus …
Ich habe so viele Fragen. Wie kommt so ein Produkt in die Welt? In welcher Tradition steht es? Gehts noch?
Tatsächlich erzählen Dinge wie der EQ900 eine Menge. Sie tun nicht nur etwas, sie bedeuten etwas. Und sie haben etwas mit der fixen Designidee des 20. Jahrhunderts zu tun: Form follows Function, dem Funktionalismus.
Ein Vollautomat, der gerne eine Siebträgermaschine wäre (Foto: Siemens)
2.000 Euro ausgeben, um Barista zu spielen
Die äußere Gestaltung des EQ900 wirkt kühl, in schwarz und silber, die Grundform ist ein Würfel. Wäre an der Front nicht eine Stellfläche für die Kaffeetassen, die Funktion wäre dem Gerät kaum anzusehen. Die Technik bleibt hinter der Oberfläche komplett verborgen. Darin und natürlich in der Formensprache, der Material- und Farbwahl ähnelt das Gerät einem Smartphone. Auch wegen des großen Touchscreens im Breitbildformat, der die Gehäusefront dominiert. Darauf: eine hochauflösende, fotorealistische Darstellung von Kaffeetassen und -gläsern, gefüllt mit Espresso, Café Crème, Cappuccino und so weiter. Sie stehen vor einem flächig-blauen Hintergrund auf einer scheinbar endlosen, simulierten Marmoroberfläche. Über dieses Interface wählt man durch Wischbewegung mit dem Finger das gewünschte Getränk.
Der EQ900 scheint gebaut zu sein für Leute, die um die zweitausend Euro ausgeben können, um die Arbeit dann doch wieder selbst zu machen. Er verfügt nämlich über einen „baristaMode“. Aktiviert man ihn, zeigt das Display Schieberegler, über die man die Menge des Kaffeemehls, den Mahlgrad, die Brühtemperatur und die Kontaktzeit des Wassers mit dem Kaffeemehl wieder von Hand bestimmen kann. Alternativ lassen sich all diese Einstellungen auch übers Smartphone vornehmen (bequem vom Sofa aus).
Ein Barista ist im ursprünglichen italienischen Wortsinn ein Barkeeper. In der englischen und dann auch der deutschen, engeren Bedeutung ist es jemand, der Getränke auf Basis von Espresso zubereitet und zwar üblicherweise in einer Siebträgermaschine (und mithilfe einer separaten Mühle), bei der die Person all die oben genannten Parameter von Hand bestimmt. Seit 1975 gibt es Siebträgermaschinen auch in Klein für daheim (zuerst von der Firma Gaggia). Ein Schweizer Ingenieur entwickelte dann in den 1980er Jahren den ersten Vollautomaten und wurde Mitgründer des Vollautomatenherstellers Saeco. Mit dem EQ900 schließt sich hier also ein Kreis, wenn auch auf paradoxe Art.
Der Nutzer, den sich Siemens hier vorstellt, und ich gendere mal nicht, wäre offenbar einerseits gerne Barista, er will am Kaffee herumtüfteln und Tasse um Tasse verkosten, bis er die beste Einstellung für die jeweilige Bohne gefunden hat. Andererseits will er es lieber nicht, denn sonst hätte er ja eine Siebträgermaschine gekauft und keinen Vollautomaten, der mit großem technischen Aufwand nur so tut, als wäre er eine Siebträgermaschine.
Der „baristaMode“ des Siemens-Kaffeevollautomaten in Aktion. Rechts im Bild die zugehörige Smartphone-App. (Screenshot: Coffeeness.de)
In seinem 2001 erschienenen Roman „Der letzte Schrei“ (engl. „The Savage Girl“) erfand Alex Shakar den Begriff der „Paradessenz“ für die paradoxe Essenz jedes erfolgreichen Produkts. Solche Produkte versprechen, Gegenteiliges zu vereinen und liefern so scheinbar allen alles: Die gut geplante Abenteuerreise, das entspannende Duschgel für die schnelle Dusche zwischendurch. Der Roman war eine Satire, aber hier ist er: der Vollautomat für Leute, die lieber alles selbst einstellen.
Ist das noch Konsum oder schon Satire?
In meiner Serie „Die Verkrempelung der Welt“ versuche ich herauszufinden, warum so viele Produkte des täglichen Lebens nicht so gut sind, wie sie sein könnten. Das wirft natürlich die Frage auf, was ein gutes Produkt überhaupt ausmacht. Diese Frage wird seit Beginn der industriellen Massenproduktion leidenschaftlich diskutiert. Ich möchte sie noch einmal stellen, am Beispiel eines Produkts, das für sich in Anspruch nimmt, das beste seiner Kategorie zu sein. Dass der EQ900 ordentlichen Kaffee macht – geschenkt. Das können andere auch. Nein, dieses Produkt ist in seiner überschießenden Schein-Innovation ein eindrucksvolles Artefakt zeitgenössischer Konsumkultur.
Es kann doch nicht sein, dass eine Kaffeemaschine womöglich gar nicht hauptsächlich gekauft wird, weil ihr Espresso etwas taugt. Es kann doch nicht sein, dass teure Konsumartikel führender Hersteller eigentlich nur noch satirisch zu verstehen sind. Es kann doch nicht sein, dass –oh no.
Auf eine Art beginnt die Geschichte des EQ900 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aus dieser Zeit stammen die traditionellen Ideale der guten industriellen Produktgestaltung. Sie haben mit dem Aufkommen neuer Technologien zu tun, sehr viel mit Architektur – und mit einem Feuer, das 1871 einen Großteil von Chicago zerstört hatte. Als es an den Wiederaufbau ging, war das ein industrie- und baugeschichtlich historischer Moment, denn die Erfindung der Stahlskelettbauweise und des absturzsicheren Aufzugs erlaubten plötzlich den Bau sehr viel höherer Häuser. Es musste aber eine Ästhetik her. Wie sollten solche schmalen, sehr hohen Gebäude aussehen?
Es entstand der Stil der Chicagoer Schule: Ein Hochhaus ist ihr zufolge im Prinzip eine griechische Säule: unten und oben reich verziert, dazwischen eine vertikale Strukturierung. Man bediente sich also neuester Technologien, zitierte aber gestalterische Ideale der Antike. Einer der wichtigsten Architekten dieser Denkschule und Stilrichtung war Louis H. Sullivan. Er popularisierte die Idee Form follows Function. Tatsächlich ist der Gedanke älter und dem französischen Architekten Henri Labrouste zu verdanken, der auch mit Stahl baute und dabei, im Gegensatz zum Zeitgeist, diese Technik nicht hinter Steinfassaden versteckte, sondern stolz zeigte. Seine Gebäude zeigten, wie sie funktionieren. Sie taten nicht so, als wären sie aus Stein, nur weil das Auge das gewohnt war.
Die Designerin, Design- und Kulturwissenschaftlerin Claudia Mareis schreibt in ihrem Standardwerk „Theorien des Designs zur Einführung“, dass sich gewisse Ideen dieser Zeit „zu Gemeinplätzen verfestigt“ haben, darunter das Ideal von Form follows Function, also dass sich die Gestaltung eines Dings seiner Funktion unterzuordnen habe. Gutes Design wäre demnach an guter Funktionalität zu erkennen. Aber auch andersherum würde sich die Funktionalität nicht verstecken, sondern wäre ein erkennbarer Bestandteil der Gestaltung.
Es gibt Waren, die der funktionalistischen Schule verpflichtet sind, auch heute noch und auch bei den Kaffeemaschinen. Der Moccamaster der niederländischen Firma Technivorm ist so eine Maschine. Man sieht ihr an, was sie tut. Ob man diesem Ideal nun anhängt oder nicht – es kommt etwas anderes dabei heraus, wenn man es beherzigt. Und ganz vielleicht sieht der Moccamaster deshalb auch seit Jahrzehnten fast gleich aus. Weil man über Geschmack so viel besser streiten kann als über Funktion.
Der Funktionalismus zeigt, wie eine Sache funktioniert (Foto: Technivorm)
Ein Tonfall, der einem die Fresse polieren will
Ein extremer Vertreter der funktionalistischen Schule war Adolf Loos, dessen wirkmächtigen Aufsatz „Ornament und Verbrechen“ von 1908 noch heute jede:r Designstudierende kennt. Darin fordert der österreichische Architekt und Publizist den Verzicht auf Ornament und Verzierung, die er für eine Verschwendung von Ressourcen und untrügliches Zeichen schlechten Geschmacks hielt. Tätowierungen, die Verzierung der Haut, gestand er „den papuas“ zu, aber nicht dem „modernen menschen“: „Der moderne mensch, der sich tätowiert, ist ein verbrecher oder ein degenerierter.“ So einfach kann es sein. Und ja, Loos verfasste seine Texte in Kleinschreibung – Substantive in der Tradition Martin Luthers groß zu schreiben, auch das muss der moderne Mensch ablehnen.
Loos’ Aufsätze sind ein wilder Mix aus kühnen ästhetischen Forderungen, wirrem Biologismus und selbstverständlichem Kolonialismus. All das vorgetragen in einem autoritär-apodiktischen Tonfall, der nicht überzeugen, sondern einem die Fresse polieren will. Und tatsächlich kam es immer wieder zu Handgreiflichkeiten nach Loos’ Auftritten, wenn beispielsweise besorgte Wiener Bürger eine Verschandelung des Stadtbilds durch Gebäude ohne schmückende Fassadengestaltung befürchteten. Das änderte nichts daran, dass Adolf Loos bis heute als einer der wichtigsten Influencer des sachlichen Baustils gilt, der das 20. Jahrhundert dominiert hat, bis hin zu den Wolkenkratzern des „International Style“.
Das Radisson Collection Hotel in Kopenhagen im „International Style“: Arne Jacobsen, 1956-1960 (seier+seier, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons)
Die klassischen Gestaltungsprinzipien der Moderne verlangen auch das, was Labrouste schon mit seinen sichtbaren Stahlträgern propagierte: „Materialehrlichkeit“. „Was nicht aus Holz ist, soll auch nicht in Holzformen auftreten wollen“, schrieb etwa 1912 Gustav E. Pazaurek, der in seinem Stuttgarter Kitschmuseum abschreckende Beispiele für das ausstellte, was er für Kitsch hielt. Ein Ding, das so tut, als wäre es ein anderes, vermeintlich höherwertiges, entspricht immer noch einer gängigen (wenn auch nicht erschöpfenden) Definition von Kitsch. Die „Materialehrlichkeit“ führt auch zur architektonischen Stilrichtung des Brutalismus: Man erkennt ihn daran, dass das Baumaterial, der Beton, unverkleidet in all seiner Rohheit (französisch brut: roh) sichtbar ist. Im Gegensatz zu diesem Ideal stünde zum Beispiel ein mit Holzfolie beklebtes Fernsehgerät in einem Kunststoffgehäuse. Das würde man auch heute noch als kitschig empfinden.
„Alles ist von schnöder Kunst verderbt“
Um sich zu vergegenwärtigen, wie radikal die Idee des Funktionalismus war, muss man sich nur frühe Massenprodukte ansehen. Sie simulieren einen quasi-höfischen Stil. Vom Sofa zum Kerzenständer zum Teelöffel, alles sollte aussehen, wie sich das Kleinbürgertum adliges Gepränge vorstellt. Der österreichische Dichter Richard von Schaukal beklagte 1910 in seinen „[z]eitgemäßen Laienpredigten zum Thema Kultur“, dass die Industrie jeden noch so trivialen Gegenstand mit falschem Prunk verziert: „Der Gasarm im Vorzimmer, das Waschbecken, der Ofen, die Briefwa[a]ge, der Markenbefeuchter, das Notenpult, der Lampenzylinderdeckel: alles ist von schnöder Kunst verderbt.“ Und niemand fände etwas dabei, wenn die Industrie „unentwegt den Unrat [schafft], darin die bürgerliche Welt behaglich sinnlos weiterwatet.“
Damit legte von Schaukal zumindest etwas mehr Witz an den Tag als sein Zeitgenosse Pauzarek, der sich tatsächlich an so etwas wie einer Ontologie des schlechten Geschmacks versucht hat, einer Ordnung fragwürdiger Dinge. Sein 1912 erschienener Band „Guter und schlechter Geschmack im Kunsthandwerk“ mutet auf den ersten Blick drollig an, mit seinen genussvoll-herablassenden Kategorien, den gleichermaßen selbstbewussten wie hilflosen Versuchen, all die Varianten angeblich fragwürdiger Gestaltung zu kategorisieren: „Hurrakitsch“, der auf „patriotische Gefühle spekuliert“, „Materialprotzerei“ und „Dekorübergriffe“, „Schmuck an falscher Stelle und in falscher Richtung“. Pauzareks Kriterien sind natürlich willkürlich, oft kolonialistisch eingefärbt – und teils absurd ahistorisch.
Für Pauzarek „erwächst für die kulturell Höherstehenden die edle moralische Verpflichtung, nicht mit verschränkten Armen teilnahmslos zuzusehen, wie das Unkraut des Ungeschmacks, das sich ohne unser Zutun in entsetzlicher Fruchtbarkeit vermehrt, alle schönen Keime erdrückt, ihnen Platz, Luft und Licht raubt. Leben ist Kampf; auch auf ästhetischem Gebiete müssen wir kämpfen; schon der bloße Stillstand bedeutet den beginnenden Verfall unserer Kultur“. „Vergewaltigung des Materials“ ist eine seiner Kategorien des schlechten Geschmacks und überhaupt: Die ständige darwinistische Untergangsmetaphorik ist Viertel vor Nazi.
Französischer Marken- und Briefanfeuchter, Anfang des 19. Jahrhunderts (Foto: AntiquityShopFrance bei Etsy)
Es ist mindestens ernüchternd, welche Rohheit und sprachliche Brutalität wichtige Vertreter der prägenden Architektur- und Designschule des 20. Jahrhunderts an den Tag gelegt haben. Die klassische Moderne erscheint tatsächlich in weiten Teilen wie eine Fortführung autoritären Gehabes, nur mit geraderen Linien. Kaum eine Definition, die nicht ins Urteilen und Aburteilen abrutscht. Ein ständiges Rangordnen und Verdammen und nicht zuletzt die Rede vom „Hochstehenden“ und „Niedrigstehenden“. Selbst die revolutionärsten ästhetischen Überzeugungen, etwa der bewusste Verzicht auf Stuck und Fassadenschmuck in einer Zeit, in der das der dominante Stil war, werden in einem autoritären, herablassenden Duktus vorgetragen. Es klingt alles sehr nach Kaiserzeit, aber wehe, es wird auch nur noch ein Fertigstuckteil verbaut!
Der Funktionalismus begreift sich wie jede propere Ideologie als selbstverständlich und offensichtlich, also „unideologisch“, schließlich sei man ja im Dienste der Wahrheit und Ehrlichkeit und der schieren Funktion unterwegs, was könnte dagegen einzuwenden sein? Für Claudia Mareis geht es dem Funktionalismus aber tatsächlich um konkrete Werte, um Ideen des „Verzichts, der Askese, der Sachlichkeit und der Reduktion auf das ‚Wesentliche‘.“ Mareis verweist auf Adorno, der in der Ornamentkritik puritanische Ideale der bürgerlichen Arbeitsmoral sah, die Verschwendung verachtete. Verzicht ist nicht Nichts.
Man ahnt, dass solche Prinzipien, ernsthaft angewandt, auf Konfrontationskurs mit unserem Wirtschaftssystem sind. Denn es geht ja nicht nur um ästhetischen Verzicht, das Weglassen von Schnörkeln. Wie geht eine wachstumsfixierte Wirtschaft mit Reduktion zusammen? Wie verkauft man immer mehr weniger? Bereits 1968 beschrieb der französische Universalgelehrte Abraham Moles (Promotionen in Physik und Philosophie) in einem Seminar an der stilprägenden Hochschule für Gestaltung Ulm genau dieses Problem und befürchtet als Folge „eingebaute Veralterung“ (das Konzept, das wir heute als „geplante Obsoleszenz“ kennen) und nochmals verstärkte Werbung („Konsumterror“). Moles behielt recht, aber wie sehr er recht behalten würde, konnte er nicht ahnen. Ebenfalls 1968 entlarvte der französische Philosoph Jean Baudrillard in seinem Erstlingswerk „Das System der Dinge“ den Funktionalismus als leere Pose: „Alle Gegenstände sind bestrebt, funktionell zu sein, wie alle Regime sich als demokratisch ausgeben.“
Deine Sneakers sollen zeigen, wer du bist – und deine Kaffeemaschine auch
Der EQ900 schreibt diese Tradition der Funktionalitätsperformance fort und schrammt dabei nur knapp an der Persiflage vorbei. Ein heutiger Pazaurek könnte das Gerät leicht Bauhaus-Kitsch nennen. (Kitsch kommt laut Moles vom jiddischen verkitschen: jemandem etwas andrehen, was er nicht braucht.) Die „sachliche Form“, die zeigen soll, was ein Ding tut, ist zu einem semantisch leeren Würfel degeneriert. Die Form hat mit der Sache (nämlich einer Maschine, die Kaffee kocht) nichts mehr zu tun. Weil aber ein Würfel mit einem Display drauf nur ein tief- und breitgezogenes Smartphone ist, muss das Display möglichst naturalistisch zeigen, wozu die Maschine imstande ist. Es muss das tun, was keine Siebträger- oder Filterkaffeemaschine je tun musste: die Abbildung eines Espresso in der Tasse zeigen.
Tatsächlich hat sich der Designdiskurs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts komplett verschoben und das, was mit Funktionalität gemeint ist, wird mittlerweile gleichzeitig genauer und viel weiter gefasst. Erheblichen Anteil daran hatte der französische Sozialphilosoph und Soziologe Pierre Bourdieu. Seine erstaunliche Erkenntnis: Das, was eine Person schön oder hässlich, vulgär oder fein findet, verrät ihre soziale Position und Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe.
Bourdieu kränkte ganze gesellschaftliche Leitmilieus, in dem er in seiner Ende der 1970er Jahre erschienenen Studie „Die feinen Unterschiede“ zeigte, dass „guter Geschmack“ nicht angeboren, sondern „Ausdruck sozialer Differenzierung“ ist. Indem ich bestimmte Filme ansehe, bestimmte Musik höre, aber auch bestimmte Waren gut finde und kaufe, offenbare ich meine gesellschaftliche Stellung. Es geht natürlich um Geld, aber nicht nur: Bourdieu beschrieb, dass sich soziale Ungleichheit nicht nur mit ökonomischem, sondern auch mit kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital erklären lässt. Mit kulturellem Kapital ist nicht nur formale Bildung gemeint, sondern der ganze Apparat an Kulturtechniken, Kunstverständnis, Geschmack, Gehabe, der einem den Zugang zu den „besseren Kreisen“ eröffnet. Menschen wollen Erkannte sein, sie wollen sehen, dass der andere mit ihnen auf eine Weise spricht, sich auf eine Weise kleidet, sich für die Dinge interessiert, mit denen sie sich selbst identifizieren. Sie wollen sehen, dass andere sehen, dass man die richtigen Sneakers trägt, am richtigen Ort Urlaub macht, die richtigen Autor:innen gelesen hat. So bekommt man Zugang zu sozialen Gruppen und die Art und Weise, wie man seinen Kaffee zubereitet, ist ein kleines Puzzlestück kulturellen Kapitals und zumal eins, das in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen hat.
Die Sozialforschung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlaubt einen weniger herablassenden, wertenden Blick auf das, was diese Phänomene sind, Identitätskonstruktionen nämlich. Mit Bourdieu können wir die unendlichen Diskussionen zwischen iPhone- und Android-Nutzer:innen, Mercedes- und BMW-Fahrer:innen und eben auch zwischen Siebträger- und Vollautomatenkundschaft ganz gelassen als das betrachten, was sie sind: Akte der Selbstvergewisserung des eigenen sozialen Status. Aber weil es um das fragile Selbst geht, macht es den gelassenen Blick dann doch wieder so schwer.
Der Siebträger ist eben auch Symbolträger. Eine Produktkategorie, die überhaupt erst in den 1960er Jahren entstand, die kompakte Siebträgermaschine mit elektrischer Pumpe, dient heute der Distinktion, also der Abgrenzung. Diese Geräte, die sich bis heute in ihren Grundzügen kaum verändert haben, sind so kulturprägend, dass ihre Benutzer eine Art Kaffeemetaphysik hervorgebracht haben. Während für den Vollautomaten-Nutzer ein Espresso ein Getränk ist, für das Wasser mit einem bestimmten Druck durch Kaffeemehl gepresst wird, ist er für den Siebträgernutzer ein Getränk, das auf eine bestimmte, handwerkliche Weise – also von Hand, mit einem gewissen Maß an Kennerschaft – hergestellt wird. Ein Espresso, den ein Automat herstellt, wäre demnach nicht wirklich einer. Solche technikweltlichen Glaubensfragen zur Bildung sozialer Gruppen bringen auch andere Märkte hervor (Hifi/Highend-Anlagen und Automarken, um nur zwei zu nennen).
Die Siebträgerkundschaft kann sich auf ihren uneinholbaren historischen Vorsprung berufen, immerhin ist ihre Technik anderthalb Jahrzehnte älter als die der Vollautomaten. Letztere brachte dann auch ihre eigene Sprache hervor. Der Begriff der „Kaffeespezialitäten“ weist Vollautomatennutzer:innen aus. „Kaffeespezialitäten“ heißen die Produkte, die aus Automaten kommen, sie stehen als Überschriften in den Speisekarten der Systemgastronomie und Fast-Food-Restaurants. Der Begriff ist für Kaffeekenner:innen ein Warnsignal wie „Internationale Küche“ für den Gourmet. Der Kaffee der Kenner:innen heißt Specialty Coffee – er ist fast dasselbe und etwas komplett anderes zugleich.
Kaffeesnobs verachten Vollautomaten
Auch in der fotografischen Darstellung der „Kaffeespezialitäten“ offenbart der EQ900 seine aus Sicht der Kaffeesnobs niedere Herkunft. Die Abbildung von Gerichten in Speisekarten kennt man aus einfachen Lokalen. Bei McDonald’s bekommt man den Burger auf großen Displays zu sehen, bevor man ihn (mittlerweile auch über große Touchscreens im Eingangsbereich) bestellt. An diese Visualisierung knüpft der Vollautomat an. Kein gehobenes Restaurant hat Fotos der Gerichte in der Speisekarte. Einerseits wird eine gewisse Sachkenntnis vorausgesetzt, andererseits verrätselt man das Angebot bewusst, indem man, wie in der aktuellen Spitzengastronomie üblich, nur noch Zutaten auflistet („Kalb, Kohlrabi“). Dadurch verstärkt man den Überraschungseffekt bei den Gästen, wie die Küche diese Zutaten wohl interpretieren und anrichten wird. Das ist möglich und erwünscht, weil die Besucher solcher Restaurants sich ganz bewusst in die Hand des Küchenchefs geben – für sein Genie, seine Kreativität sind sie schließlich angereist (die Kurzdefinition des Michelin-Führers für ein Drei-Sterne-Restaurant lautet bündig „eine Reise wert“). Gleichzeitig entspricht die nüchterne Auflistung der Zutaten dem ästhetischen Minimalismus der Zeit und grenzt sich von den präpositionstriefenden Gerichtsbezeichnungen der 1990er Jahre ab („an Selleriemousse“, „auf Salatbett“). Auch hier wird wieder, diesmal durch Sprache, eine soziale Gruppe gebildet: Dieses Restaurant ist für „Foodies“, nicht für „Gourmets“, es ist nicht das Nobellokal deiner Eltern.
Und so ist es bei den Kaffeemaschinenkunden auch. Die Siebträgernutzerschaft schaut auf die Vollautomatennutzerschaft herab, weil sie sich ihr in Kennerschaft (Wissen um die Details der Kaffeeherstellung), Meisterschaft (in der Bewältigung der Maschine) und im weitesten Sinne Habitus (die handwerklich, sinnlich „überlegene“ manuelle Herstellung statt der automatischen) überlegen fühlt. Die Vollautomatennutzerschaft hingegen will sich mit der händischen Zubereitung von Kaffee nicht befassen müssen, denn was automatisiert werden kann, soll für sie automatisiert werden. Der Vollautomat ist ihre Rube-Goldberg-Maschine. Ein Tipp aufs Display löst eine Kettenreaktion zum Zusehen aus.
Die Kundenrezensionen des EQ900 auf den gängigen Websites sind mehrheitlich sehr gut, vereinzelt wünscht sich ein Kunde ein Software-Update für die Kaffeemaschine, um Zugriff auf noch mehr Einstellungen für die Kaffeezubereitung zu erhalten. Auch die Siemens Home Connect App hat wohl Beschränkungen. Auf einer Produkttestseite heißt es: „Mir ist durch Zufall aufgefallen, dass in der Connect-App kein zweiter Mahlvorgang für einen Kaffee eingeleitet wird, sobald ihr die Kaffeestärke über Stufe 5 hinaus einstellt. Ob das nur ein Darstellungs- oder auch ein Funktionsfehler ist, kann ich nicht sagen.“ Die Anbindung an die Smartphone-App wird früher oder später abreißen (alleine schon, wenn man nicht regelmäßig ein neues Smartphone anschafft, um die aktuelle Betriebssystemsoftware benutzen zu können), aber selbst bis dahin wird sie solche Probleme produzieren und viele Fragen bei der Nutzerschaft. Die Maschine ist auch sonst nicht frei von Problemen, die man aber über die App umgehen kann. Ein Rezensent schreibt: „Offensichtlich wird die Entleerung des Tropfbehälters nur über den Füllstand des Flüssigkeitsbehälters registriert. Die Befüllung des Tresterbehälters wird nicht geprüft! Daher kann ich nur empfehlen, den Startvorgang via WiFi ohne Spülung zu deaktivieren. Dadurch wird die Leerung des Tresterbehälters zu spät angezeigt und der Tresterbehälter wird überfüllt.“ Selbst dieser Kunde, der bei seiner Kaffeemaschine via Internet den Start ohne Spülung deaktiviert (?), bewertet das Gerät mit 4 von 5 Sternen.
Es liest sich nicht so, aber die Leute sind zufrieden! Der Kaffee, den die Maschine produziert, schmeckt der Kundschaft. Aber das hätten auch weit günstigere Apparate leisten können. Der EQ900 muss noch etwas anderes für seine Nutzer:innen leisten, und was das ist, erklärt nur ein weiteres Verständnis von Funktionalismus: Die Funktion, die der EQ900 erfüllt, ist mit der Produktion von Kaffeegetränken nur unzureichend beschreiben.
Gerät und Kunde wie Loriotfiguren
Was über die Primärfunktion einer Sache hinausgeht, wird als „Spielerei“ abgekanzelt, die Onlinerezensionen vieler Produkte sind voll von diesem Begriff. Ein Kunde des EQ900 schreibt, der Automat sei super, die App aber eine „Spielerei“. Er meint das abwertend, aber, ich lehne mich jetzt etwas aus dem Fenster, das ist eine Form der Projektion. Der Kunde will spielen, sonst hätte er niemals so viel Geld für so ein Gerät ausgegeben. Er darf es nur nicht zugeben.
Es ist das tragische Herz unendlich vieler Komödien: Wie eine Loriot-Figur versucht der EQ900 die Fassade von Seriosität und Weltläufigkeit aufrechtzuerhalten und kippt dabei ins Lächerliche, weil er seine Verspieltheit mit einer solchen Ernsthaftigkeit leugnen muss.
Tatsächlich ist die Spielerei der Kern der Sache. Wir haben es mit Spielzeug für Erwachsene zu tun, für Männer. Zumindest wenn man den Amazon-Rezensionen des Geräts glauben kann, deren Autoren, abgesehen von zwei Frauen, Mike, Gerhard, Torsten, Dieter, Olli, zwei Mal Tobias, zwei Mal Christian und so weiter heißen. Sie wollen die Knöpfe drücken und die Schieberegler schieben, Kontrolle ausüben und Funktionslust spüren. Ich will das auch, seit ich ein kleiner Junge bin, und schön gemachte Knöpfe und Schalter haben für mich nichts von ihrer Sinnlichkeit verloren. Aber schön gemachte Knöpfe und Schalter kriegt die EQ900-Kundschaft nicht, sie kriegt einen riesigen Touchscreen und eine App. Und weil die App Teil des Bosch-Siemens-Gaggenau-Konglomerats ist, kann sie auch andere Geräte steuern und so Push-Nachrichten anzeigen, wenn die Spülmaschine fertig ist. Dann kann man bequem vom Sofa aus die Spülmaschine ausräumen. Aber nicht nur das!
Siemens verspricht: „Überrasche und verwöhne deine Gäste. Mit der Home Connect App kannst du Wünsche für verschiedene Kaffeespezialitäten bequem entgegennehmen und direkt an dein Gerät senden. Der Kaffeevollautomat bereitet die ausgewählten Kaffeespezialitäten dann nacheinander zu.“ Das schon im Café frustrierende Erlebnis, dass das Servicepersonal mit Handys kämpft, um Bestellungen aufzunehmen, wird ins gehobene Zuhause verlängert. Es fällt mir zugegebenermaßen schwer, dieses Feature, das Siemens „coffeePlaylist“ nennt, ohne ausgiebiges Augenrollen zu beschreiben. Wie Tobias, Tobias, Christian und Christian, die Hausherren ihrer vernetzten Heime mit ihren Handys die Kaffeebestellungen der Gäste aufnehmen, kann ich sie mir nur als Wiedergänger des Loriotschen Herrn Lohse aus dem Film „Pappa ante Portas“ vorstellen. Sie haben Geld, sie haben Zeit, und sie brauchen dringend ein Hobby. Tatsächlich haben Männer in Deutschland laut der letzten OECD-Zeitverwendungsstudie rund zehn Prozent mehr Freizeit als Frauen, die immer noch deutlich mehr unbezahlte Haus- und Carearbeit erledigen, und diese Zeit will verwendet werden.
Es drängt sich der Gedanke auf, dass mit teuren Kaffeemaschinen vielleicht kein Produkt verkauft werden soll, sondern ein Hobby. Und dass das Gerät seinen Preis nur deshalb wert ist, weil man an ihm so viel einstellen und sich weit über das Notwendige hinaus mit ihm befassen kann. Da das Spielen, also das zweckfreie Tun, das Kindern zugestanden wird, Erwachsenen verwehrt ist, braucht es Spielzeug, das die Beschäftigung mit ihm nicht als sinnlos, sondern in irgendeiner Weise vernünftig erscheinen lässt. Solche Dinge machen den Alltag zum Hobby, sie erheben das Triviale in den Rang einer symbolisch aufgeladenen Tätigkeit. Der Medienphilosoph Vilém Flusser schrieb in „Dinge und Undinge“, dass er die Geräte bedient, und er meinte das im doppelten Wortsinn.
Im Spiel werden Kinder sozialisiert, in ihm lernen sie, wie ihre Umwelt funktioniert. Wie wäre es, wenn Spielzeug für Erwachsene das Gleiche leisten würde? Hier eine kostenlose Update-Idee für den EQ900: Mike, Gerhard, Torsten, Dieter und Olli regelmäßig daran erinnern, dass sie mehr Freizeit haben als ihre Partnerinnen. Und in der Home Connect App vielleicht eine „haushaltsPlaylist“ anlegen, die die vielen unausgesprochenen Haushaltsaufgaben gerecht auf die Familienmitglieder verteilt. Gäbe sicher Ärger, so eine woke Heimautomatisierung, aber solange es keinen Vollautomaten für den gesamten Haushalt gibt, müssen alle ran. Es geht nicht bequem vom Sofa aus.
Dank an Florian Hadler, Anton Rahlwes, Christoph Rauscher, Sascha Wildgrube.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert