Ein paar Augen blickt den Betrachter an, die Mine des Menschen ist verärgert.

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Sinn und Konsum

Wie du wütend wirst und dabei menschlich bleibst

Politiker:innen säen Wut, um Aufmerksamkeit zu ernten. Mit diesen Strategien bist du ihrer Masche weniger ausgeliefert.

Profilbild von Ingrid Brodnig

Das gesellschaftliche Klima ist in den letzten Jahren rauer geworden. Starke Emotionen wie Wut werden gezielt von politischen Akteuren angestachelt, was konstruktive Gespräche oft unmöglich macht. Das ist eine echte Gefahr für die Demokratie, schreibt die Journalistin Ingrid Brodnig in ihrem neuen Buch „Wider die Verrohung“. Doch wer die Strategien hinter solchen Manipulationen erkennt, kann sich dagegen wehren.


Als Journalistin beschäftigt mich das Problem der kalkulierten Wut seit Jahren, weil mir irgendwann auffiel, dass viele der besonders reichweitenstarken Online-Postings von Politikerinnen und Politikern diese Emotion hervorrufen. Wer Wut sät, wird Aufmerksamkeit ernten.

Wir müssen uns die Frage stellen, ob Rage Bait eine der erfolgreichsten politischen Taktiken unserer Zeit ist. Als zum Beispiel Donald Trump auf Twitter einigen Medien unterstellte, ein „Enemy of the American People“ zu sein, wurde diese Aussage weltweit zitiert. Rage Bait bedeutet, dass es eine Erfolgsstrategie sein kann, wütendmachende Inhalte zu posten und damit Reaktionen zu provozieren.

Das passiert auch im nichtpolitischen Spektrum, um Klickzahlen zu generieren. Zum Beispiel erstellt der Tiktok-Influencer Ryan Gawlik unterhaltsame Videos, oft zum Thema Kaffee. In manchen seiner Videos regt er Leute absichtlich auf, etwa indem er ein Wort falsch ausspricht („Expresso“ statt „Espresso“). Oder er isst einen Kitkat-Riegel auf ungewöhnliche Weise (er beißt in mehrere Rippen gleichzeitig, statt eine Rippe nach der anderen herunterzubrechen). Selbst mit solchen lächerlichen Details kann man wütende Kommentare wie den folgenden provozieren: „Bro, wenn ich dich jemals in der Öffentlichkeit sehe und du isst ein Kitkat auf diese Weise, dann stoße ich dich vor einen Bus.“ Der Nachrichten-Website Business Insider hat Gawlik erzählt, dass er absichtlich Wut auslöst und dass sich die Interaktionen zu seinen Videos seither verfünffacht haben.

Aber sind wir dem ausgeliefert – oder lassen sich Gegenstrategien finden, um der Wut etwas entgegenzusetzen oder zumindest überlegter darauf zu reagieren? Ich möchte zwei Empfehlungen hervorheben, eine gesellschaftliche und eine individuelle.

Eine wichtige Beobachtung ist: Nicht nur Wut, sondern auch andere Emotionen berühren Menschen und können sie zum Handeln aktivieren. Das klingt im ersten Moment trivial, aber einige Forschungsarbeiten konzentrieren sich auf einzelne wenige Emotionen, etwa Wut oder Angst. Beispielsweise sieht man, dass Wut Menschen in manchen Kontexten aktiviert. Der Politologe Timothy Ryan von der University of North Carolina at Chapel Hill hat schon 2011 auf Facebook politische Werbung getestet. Er schaltete wütendmachende, besorgniserregende und neutral gehaltene Werbebeiträge. Wütendmachende Inserate hatten mehr als doppelt so viele Zugriffe wie die neutrale Botschaft. Die besorgniserregenden Werbebeiträge lösten keinen dermaßen stark aktivierenden Effekt aus. Die Studie beobachtete: Wut mobilisiert Menschen.

„Social Media muss nicht nur aus Wut und Verachtung bestehen“

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Wie wir also sehen, sind Emotionen wie Wut und Angst vielfach erforscht. Bei anderen ist das nicht so gründlich der Fall, hier werden derzeit relevante neue Forschungsdaten gesammelt und neue Untersuchungsansätze verfolgt. Vor Kurzem wurde eine sehr interessante, umfassende Studie veröffentlicht, die sich in einem Punkt hervorhob: Hier wurden nicht zwei, drei, vier Emotionen ausgewertet, sondern eine breite Palette von 20 Emotionen (das reicht von Wut über Neid bis hin zu Nostalgie und Stolz). Die Psychologin Susannah Paletz von der University of Maryland untersuchte mit Kolleg:innen hierfür Facebook-Beiträge aus Polen und Lettland. Sie analysierten, bei welchen Emotionen in Postings die Wahrscheinlichkeit für Shares stieg, also dass Menschen diese Beiträge weiterleiteten. Wut schien auch hier Menschen zum Teilen zu motivieren. Aber, so erzählte mir Paletz: „Die Emotionen, bei denen es zu einem verstärkten Teilen von Beiträgen kam, waren Wut, Verachtung, Kama Muta, Staunen, Stolz, Trauer, Angst und Belustigung.“

Dieses Studienergebnis legt nahe, wie wichtig es wäre, dass auch künftige Untersuchungen eine breite Palette von Emotionen berücksichtigen, denn man kann die Wirkmacht anderer Emotionen nur dann verstehen, wenn man gezielt danach sucht. Für Susannah Paletz beinhaltet dieses Forschungsergebnis eine gute Nachricht: „Social Media muss nicht nur aus Wut und Verachtung bestehen. Was Menschen teilen, bezieht sich nicht rein auf negative Emotionen.“

Eine Übersicht von Emotionen, die oft geteilt werden: Wut, Staunen, Stolz, Trauer, Belustigung, Kama Muta, Stolz und Angst

Diese Emotionen werden oft geteilt © KR, Quelle: Ingrid Brodnig

Es fiel gerade ein ungewöhnliches Wort: Kama Muta. In der Forschung wird darunter jene Emotionslage verstanden, bei der wir uns ergriffen fühlen, also gerührt oder berührt fühlen. Es ist leider gar nicht so leicht, dieses Wort aus der indischen Sprache Sanskrit ins Deutsche zu übersetzen. Besser lässt sich seine Bedeutung mit einem Beispiel zeigen: Ein populäres GIF, also eines dieser bewegten Bilder im Internet, zeigt ein Äffchen, das auf seinen rechten Arm deutet. Prompt kommt ein zweites Äffchen hinzu und lässt sich von ihm umarmen. Wenn ich diese Aufnahme sehe, bin ich immer sehr gerührt. Anzeichen für Kama Muta sind beispielsweise, wenn man sich sehr freut, etwas Berührendes gesehen zu haben, oder wenn man geradezu feuchte Augen oder einen Kloß im Hals vor Gerührtheit bekommt.

Eine Chance für positiv geführte Wahlkämpfe?

Kama Muta ist eine positive Emotion. Könnte sie zum Beispiel bewusst als Kontrast zur Wut eingesetzt werden? Etwa eine Chance sein für positiver geführte Wahlkämpfe? Das wird tatsächlich erforscht. „Wir fanden es interessant, diese beiden Emotionen zu vergleichen, weil sich politische Wettkämpfe mehr in die Richtung bewegen, dass Wut die Emotion ist, die man darin auslösen möchte. Und wir wollten wissen, ob auch eine Emotion wie Kama Muta die Menschen hier politisch aktivieren kann“, sagt David Grüning, der an der Universität Heidelberg und am GESIS-Institut in Mannheim forscht. Gemeinsam mit seinem Kollegen Thomas Schubert führte er eine Untersuchung durch: US-amerikanische Wahlberechtigte sollten sich politische Werbespots ansehen – ein Teil der Videos löste Wut aus, ein Teil Kama Muta. Beide Emotionen konnten die Bereitschaft bei Testpersonen steigern, jemanden aus dem eigenen politischen Lager zu unterstützen.

Grüning erzählte mir aber auch von einer interessanten Beobachtung: „Es gab eine Asymmetrie. Videos brauchten nur wenige Sekunden, um Wut auszulösen. Im Grunde wird in diesen Videos eine Anschuldigung erhoben, irgendjemand hat angeblich etwas Unfaires der Gesellschaft gegenüber und somit auch einem selbst gegenüber getan und zack, schon sagen Menschen: ‚Das hat mich wütend gemacht.‘ Das braucht teilweise nur 15 Sekunden. Im Vergleich dazu sind die Kama-Muta-Videos länger. Wir haben versucht, bewusst kurze Beiträge für Kama Muta zu finden, aber selbst hier brauchen diese Beiträge 30, 45 Sekunden. Mein Eindruck ist: Um das positive Gegenstück zu Wut aufzubauen, braucht es mehr Story. Ich muss zuerst eine Verbindung zum Publikum einführen, dann passiert zum Beispiel etwas Tragisches und dann muss ich das Gefühl von Zusammenhalt fördern.“

Es scheint also zwar der kompliziertere Weg zu sein, in politischen Debatten Kama Muta auszulösen. Aber es ist ein möglicher Weg. Und wenn wir uns zurückerinnern, gab es ja Wahlkämpfe, in denen positive Emotionen betont wurden. Ein Beispiel ist die erste Wahlkampagne von Barack Obama, als er 2008 für das Amt des US-Präsidenten antrat. Vielleicht erinnern Sie sich an den Wahlkampf-Spot „Yes We Can“. Man hört eine Rede Obamas und im Hintergrund singen oder sprechen Prominente mit, sodass es wie eine gemeinsame Botschaft klingt. Obama und die anderen Stimmen sagen: „It was a creed written into the founding documents that declared the destiny of a nation: Yes we can. It was whispered by slaves and abolitionists, as they blazed the trails towards freedom: Yes we can. Yes we can. (…)“ Auf Deutsch: „Es war ein Glaubensbekenntnis, das in die Gründungsdokumente geschrieben wurde und das Schicksal einer Nation verkündete: Ja, wir können. Es wurde von Sklav:innen und Sklaverei-Gegner:innen geflüstert, als sie die Wege zur Freiheit bahnten: Ja, wir können. Ja, wir können.“

Dieses Video ist bald 16 Jahre alt und bis heute löst es bei mir Berührtheit aus. 2008 lieferten Barack Obama und sein Team eine Kampagne, die stark positive Emotionen hervorrief. Wobei man eine Einschränkung machen muss. Wo Menschen Kama Muta verspüren, ist individuell bedingt und kann je nach Betrachterin oder Betrachter ganz unterschiedlich ausfallen. Um beim Beispiel Obama zu bleiben: Natürlich gibt es in den USA Wählerinnen und Wähler, die Obama zutiefst unsympathisch finden oder die Falschmeldung glauben, er wäre gar nicht in den USA geboren und hätte aus dem Grund niemals US-amerikanischer Präsident werden dürfen. Aber zumindest auf Ebene von Parteien und politischen Bewegungen ist es doch eine hoffnungsvolle Botschaft, dass nicht nur negative Emotionen wie Wut, sondern auch positive Emotionen wie Kama Muta Menschen mitreißen und zum Handeln bewegen. Gerade in einer Zeit, in der Wut so ein großes Thema ist und bewusst eingesetzt wird, um bestimmte Ziele zu erreichen, sollte man das nicht außer Acht lassen.

Wütend sein, aber menschlich bleiben

Natürlich kann man als Einzelne oder Einzelner nicht beeinflussen, welche Emotionen zum Beispiel Parteien in ihren Wahlkampfvideos hervorrufen möchten. Auch hat man oft wenig Einfluss darauf, wie aufgeheizt die Grundstimmung bei manchen Diskussionen bereits ist oder wie kalkuliert Reizthemen eingebracht werden. Worauf ich selbst aber Einfluss habe, ist, wie ich dann reagiere. Die Überlegung, wie man persönlich gerade mit Emotionen wie Wut umgeht, ist nicht neu. Der griechische Philosoph Aristoteles schrieb schon vor mehr als 2.300 Jahren, dass es „jedermanns Sache und ein Leichtes“ sei, zornig zu werden. Schwieriger sei es, das richtige Maß dabei zu finden: „Es ist nicht leicht zu bestimmen, wie und wem und aus welcher Veranlassung und wie lange man zürnen soll (…).“

Drei Strategien, um mit deiner Wut im Netz umzugehen

Diese Suche nach dem richtigen Maß in der eigenen Emotionalität halte ich für einen guten Ansatz. Lassen Sie mich drei Tipps geben, die zum Teil auf Überlegungen der Kommunikationswissenschaftlerinnen Whitney Phillips und Diane Grimes aufbauen und zum Teil auf meinen eigenen Erfahrungen fußen:

1. Ein Reality Check ist immer sinnvoll

Stimmt die Behauptung, die mich gerade in Wut versetzt, überhaupt? Egal, wo man politisch steht, kann es passieren, dass einen eine Falschmeldung überrumpelt und in Wut versetzt. So wurde vor einigen Jahren die Geschichte verbreitet, in Berlin wäre im Januar ein syrischer Geflüchteter gestorben, weil er zu lange in der Kälte beim zuständigen Amt hätte warten müssen, zunächst Fieber und Schüttelfrost bekommen und dann einen Herzstillstand erlitten hätte. Das war eine Erfindung. Gerade wenn man Wut verspürt oder merkt, wie die eigenen Vorstellungen oder Feindbilder bestätigt werden, ist das ein guter Moment, sich zu erinnern, dass Wut und das Gefühl der eigenen Bestätigung Tricks sein können, damit man nicht zu kritisch die Nachricht überprüft. In vielen Fällen sind Falschmeldungen aber nicht gänzlich erfunden, sondern basieren ansatzweise auf einem realen Vorfall – zum Beispiel hat Landwirtschaftsministerin Klöckner tatsächlich im Fernsehen über Zuverdienstgrenzen von Asylbewerber:innen gesprochen, ihr wurde dann aber zusätzlich ein falsches Zitat in den Mund gelegt. Selbst wenn ein Teil der Meldung korrekt ist, darf der Reality Check an dieser Stelle natürlich nicht enden, das wäre nämlich Cherry Picking (das bedeutet, dass man sich nur jene Infos herauspickt, die zur eigenen Sichtweise passen und die Fakten ignoriert, die dieser widersprechen). Gerade wenn eine brisant klingende Erzählung gut zur eigenen Sichtweise oder den Reizthemen, die einen beschäftigen, passt, ist diese Bereitschaft zur Differenzierung von größter Bedeutung: Gibt es Teile der Erzählung, die nachweisbar falsch sind und mit denen der Vorfall aufgebauscht oder sogar zu etwas gänzlich Neuem gemacht wird?

2. Kann ich mir die Zeit nehmen, meine Gedanken zu sortieren?

Buchcover "Wider die Verrohung" von Ingrid Brodnig

“Wider die Verrohung” von Ingrid Brodnig, erschienen im Brandstätter Verlag

Der Moment, in dem man wütend ist, ist oft einer, in dem man die Komplexität eines bestimmten Themas, das einen gerade bewegt, oder eines Gegenarguments nicht berücksichtigt, vielleicht gar nicht berücksichtigen will. Deshalb ist es vielfach sinnvoll, etwas Zeit verstreichen zu lassen und nicht unmittelbar zu reagieren. „Mich ärgert das gerade sehr, aber ich möchte das noch etwas einsickern lassen“, kann ein Satz sein, den man im persönlichen Gespräch einbringt. Bei medial vermittelten Aufregerthemen ist man überdies als einzelne Medienkonsumentin oder -konsument nicht verpflichtet, sofort zu reagieren, selbst wenn Social-Media-Feeds den Eindruck vermitteln können, man müsse permanent und eilig Position beziehen. Die erwähnten Kommunikationswissenschaftlerinnen Phillips und Grimes haben zwei Aufsätze verfasst, in denen sie Empfehlungen geben für das Wütendsein im Internet. Selbst wenn man vollkommen gerechtfertigt Wut verspürt, kann ein Zeit-verstreichen-Lassen sinnvoll sein, schreibt Grimes. Denn „wir müssen uns nicht von der Wut mitreißen lassen, stattdessen können wir diesen kleinen Teil an Zeit und Raum erkennen, den wir zwischen dem Impuls zu handeln und dem tatsächlichen Handeln haben – und diese Zeit und diesen Raum nutzen, um eine kluge Entscheidung zu treffen und durchdachter zu reagieren.“

3. Welche Reaktion oder welche Intensität in meiner Reaktion ist angemessen oder sogar strategisch sinnvoll?

Wenn ein Vorfall zu Recht Ärger auslöst, stellt sich die Frage, wie man sinnvoll reagieren kann. Ein einfaches Beispiel: Gerade bei manchen gezielten Provokationen – sicher nicht immer, aber manchmal – kann taktisches Schweigen die richtige Antwort sein. Das heißt, ich gebe der Aussage, die ich ablehne, bewusst nicht noch mehr Raum. Doch das ist, wie wir sicher alle aus eigener Erfahrung wissen, leichter gesagt als getan, denn wer wütend ist, lässt sich gerne zu einer impulsartigen Reaktion hinreißen und macht damit die Provokation zusätzlich sichtbar. Grimes empfiehlt ein paar Übungen, wie man seine Impulsreaktionen identifizieren und in den Griff bekommen kann. Unter anderem kann man den eigenen Körper „scannen“, zum Beispiel wie sehr man etwa die Zähne zusammenpresst oder sich verspannt. Wenn man die Intensität der eigenen Emotionalität und wie man körperlich darauf reagiert, beobachtet, erkennt man womöglich den Moment, ehe man mit einer Kurzschlussreaktion antwortet.

Mir gefällt auch folgende Übung von Grimes: Sich gezielt die Menschlichkeit der anderen Person vor Augen führen, selbst wenn man zu Recht Wut über sie verspürt. Man muss die Person nicht mögen, man muss den Schaden, den jemand anrichtet, nicht verharmlosen, aber es kann einem selbst guttun, sich vor Augen zu halten, dass man es bei dieser Person mit einem Menschen, einem Individuum zu tun hat. Ich halte das für einen humanistischen Zugang. Das Gegenkonzept dazu scheint mir blinde Wut zu sein. Und von dieser profitieren nur jene, die ein gesellschaftliches Diskussions- oder eher Streitklima provozieren wollen, in der Empathie zur Mangelware und ein grob vereinfachtes Schwarz-Weiß-Denken zum Normalfall werden. Whitney Phillips und Diane Grimes schreiben: „Wir müssen nicht Wut abschaffen, sondern Wut achtsam einsetzen.“


Redaktion: Theresa Bäuerlein, Bildredaktion: Philipp Sipos