Mein Vater ruft an. Er kann keine Fischsuppe mehr bestellen, es ist also ernst. Es gibt Computerprobleme, Lieferando geht nicht mehr. Er will bestellen, obwohl meine Mutter dagegen ist, weil man im Westteil Berlins noch wacker jede Frühlingsrolle einzeln, aber dafür dreifach in Alufolie wickelt, als wäre es 1990. Meinem Vater ist der Verpackungsmüll egal, er ist zu alt für solche Fragen, er will nur seine Fischsuppe und die bestellt er auf die immer gleiche Weise über Lieferando am Computer, aber plötzlich geht es nicht mehr. Er hat nichts geändert, er schwört es, er macht es wie immer, warum warum warum geht es nicht mehr.
Ich fahre nicht für jedes Computerproblem zu meinen Eltern, aber zum Glück wohnen wir in der gleichen Stadt und diesmal ist es ja eher ein Ernährungsproblem. Als ich parke, zeigt das Auto eine Meldung an, einen „Defekt im Zugangs- und Startsystem“. Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber jetzt muss ich erstmal zu meinem Vater.
Er sitzt vor dem riesigen Bildschirm, nur wenige Zentimeter Luft zwischen seinen Augäpfeln und der Lieferando-Website im Browserfenster am linken Rand des Bildschirms, der so groß ist, dass mein Vater den rechten Rand schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Dort türmen sich derweil Dutzende Meldungen, dringliche Hinweise, das Sicherheitsupdate zu installieren, die Batterie der Maus zu wechseln, das Passwort für diese oder jene Website zu ändern, weil es bei einem Datenleck abgeflossen ist und doch bitte bitte, den Computer neu zu starten, um irgendeine Installation abzuschließen.
Ich zeige meinem Vater das verzweifelte Protokoll seines Computers.
Er versteht nicht. „Ich kann das doch ignorieren. Hast du gesagt!“
Das klingt nach mir. Letztes Mal als ich da war, als da eine Meldung stand, vielleicht war es der Wunsch, irgendwelche iCloud-Zugangsdaten nochmal einzugeben, was mein Vater aber nicht braucht. „Aber du kannst doch nicht alle Meldungen des Computers ignorieren!“
Wichtig, unwichtig, gefährlich, ungefährlich – oder egal?
Mein Vater sitzt erschöpft vor dem riesigen Bildschirm. Die Millionen Pixel beleuchten teilnahmslos sein müdes Gesicht. Er seufzt, weil er wieder mal etwas falsch gemacht hat, weil etwas von ihm verlangt wird, was er nicht versteht. Weil etwas, das immer funktioniert hat, plötzlich und ohne sein Zutun nicht mehr funktioniert. Und weil der Rat des Sohnes, der ja immerhin den ganzen Tag beruflich am Computer sitzt, offenbar auch nichts taugt. Weil man eben doch nicht einfach alles ignorieren kann, was da rechts oben angezeigt wird, weil dann die Fischsuppe irgendwann nicht mehr kommt und man hungrig wird und übellaunig.
Ich würde meinem Vater gerne helfen, aber ich weiß nicht wie. Ich kann nicht alles vorhersehen, was sein Computer, die Websites oder Apps oder irgendwelche Gangster auf seinem Bildschirm anzeigen werden. Die Kulturtechnik, die ich zum Glück beherrsche, kann ich ihm nicht beibringen: In digitalen Dingen unterscheiden zu können zwischen wichtig, unwichtig, gefährlich, ungefährlich und vor allem: egal.
Denn das meiste, was auf ihn einprasselt, ist ja egal. Es ist nur gefährlich, wenn das Egale immer mehr wird, wenn es durch alle Ritzen quillt in den Haushalt unserer Aufmerksamkeit, denn dann spült es das Wichtige mit weg.
Und darum soll es hier gehen. Wie die Dinge, die ich Krempel nenne, unsere Aufmerksamkeit kleinhobeln und damit letztlich die Möglichkeit von Kommunikation selbst beschädigen.
Leider brennen E-Mails nicht
Endlose (und in Deutschland oft juristisch wirkungslose) Nutzungsbedingungen bei der Installation von Apps. Cookiehinweise, die wir ungelesen wegklicken, und die immer wieder kommen. Rote Badges auf ungezählten Icons, Badges, die mal für ungelesene E-Mails standen, als das noch eine wertvolle Auskunft war. Beim Abziehen des Kindle-Readers zum tausendsten Mal „Die Festplatte wurde nicht ordnungsgemäß ausgeworfen“ (was bislang jedes Mal folgenlos blieb), Fake-SMS von „DHL“ oder dem „Zoll“ (die man auf keinen Fall anklicken sollte), Online-Werbung, die so tut, als wäre sie die Tagesschau, sich dann aber als Bitcoin-Betrug entpuppt, der monatliche Bericht der Fritzbox über Anrufe unbekannter Nummern auf dem Festnetz oder die schwankende Anzahl der Geräte im heimischen WLAN, Treuepunktberichte von Versandhändlern, denen man vor fünf Jahren mal einen Bettbezug abgekauft hat, „Bitte hilf uns, dein Konto sicherer zu machen“, „Ihr Paket kommt morgen, heute, in den nächsten vier Stunden“ und dann leider doch nicht wegen eines Staus oder einer Störung des Betriebsablaufs oder des großen Gesamtzusammenhangs, die ständigen Fragen, wie zufrieden man mit dem Kundendienst war, ob man die Firma weiterempfehlen würde auf einer Skala von eins bis zehn? Dann ändern sie noch ihre Datenschutzbestimmungen, immerzu ändern sie die, es gibt mehr Datenschutzbestimmungen als es Unternehmen auf der Welt gibt, also nochmal fünf Dutzend Seiten, in die eine Anwaltskanzlei ihr ganzes Können gesteckt hat, ungelesen wegklicken. Ach und übrigens, dieses Gerät, von dem du dich da gerade einloggen willst? Das kennen wir noch gar nicht. Das ist seit Jahren das gleiche Handy? Da könnte ja jeder kommen. Erstmal Username und Passwort bitte, Freundchen! Schließlich die Bank, die tatsächlich eine E-Mail schickt, weil ein neuer Kontoauszug vorliegt. Leider brennen E-Mails nicht, sonst hätte ich schon längst alles angezündet. Und über die Endmoräne ungelesener Pushnachrichten auf dem Smartphone, die wir alle vor uns herschieben, haben wir da noch gar nicht gesprochen
All dies ist Plaque, eine Ablagerung am Körper unserer Aufmerksamkeit. Und sie ist nicht auf Smartphone oder Computer beschränkt, die Mitteilungsplaque ist überall. Kaum ein elektronisches Gerät, das nicht piept, nur weil es kann. Egal ob Wasch- oder Spülmaschine, Toaster oder Trockner.
Die geschwätzige Wetter-App während einer „schweren Gewitterwarnung“.
Wenn meine Spülmaschine aus dem Hause „Bosch Siemens Hausgeräte“ (zu diesem Konglomerat mehr in Teil 1 der „Verkrempelung der Welt“) ihre Arbeit erledigt hat, piept sie drei Mal. Ein paar Minuten später piept sie noch einmal, um anzuzeigen, dass sie sich jetzt abschaltet. Dazwischen verharrt sie in einer Art Standbymodus, über dessen Verlassen sie mich aber unbedingt in Kenntnis setzen muss, weil, ja warum eigentlich? Meine Spülmaschine wurde übrigens als besonders leises Gerät beworben.
Gegen so manche Samsung-Waschmaschine ist mein Piepsgelöt jedoch ein Waisenkind. Geräte des koreanischen Mischkonzerns spielen nach dem Waschen das Schubert-Lied „Die Forelle“ – geschlagene 25 Sekunden lang. Waschmaschinen, die nicht einfach nur Waschmaschinen sein können – das hat die deutsche Romantik nicht verdient. Im Anschluss spielt die Maschine noch eine windschiefe Fanfare, damit auch das letzte endlich eingeschlafene Kleinkind wach wird. Ich habe auf Social Media gefragt, welchen fruchtlosen Benachrichtigungen meine Follower ausgesetzt sind. Ein Leser antwortete, dass er, um schlafende Familienmitglieder nicht zu wecken, kurz vor Ende der Laufzeit die Stecker der piepsenden Geräte zieht.
Gib ihnen einen Mikrochip und sie werden dir das Leben zur Hölle machen mit Signaltönen, bis die Signaltöne alle Bedeutung verloren haben. Gib ihnen Verantwortung für eine Website und sie werden dafür sorgen, dass du die eine Frage, die dich interessiert, nicht beantwortet bekommst, dafür aber seitenlanges Gelaber über die Werte des Unternehmens und seine „Philosophie“. Gib ihnen eine App und sie werden dir Pushnachrichten schicken, die dir Rabatte versprechen auf ein Produkt, das du längst gekauft hast. Sie werden dich anflehen, ihre Dienstleistung weiterzuempfehlen, als Pushnachricht und E-Mail gleichzeitig, und niemand in der Firma wird aufstehen und sagen: Ist es wirklich das, was unsere Kundschaft will?
Der Fahrradverleiher „Dance“ schickt zahlender Kundschaft werbliche Pushnachrichten und E-Mails gleichzeitig, verfehlt dabei den Imperativ von „empfehlen“ knapp und mein Ruhebedürfnis an einem Sonntag Nachmittag komplett.
Gedankenlosigkeit gepaart mit Wichtigtuerei
Das allgegenwärtige Zuviel an Kommunikation geht paradoxerweise oft einher mit einem gleichzeitigen Zuwenig. Diese Kombination lässt sich nicht nur bei Unternehmen beobachten, sondern auch in der Kommunikation öffentlicher Einrichtungen.
Die Berliner Verkehrsbetriebe sind zu Recht bekannt für ihre selbstironischen Werbekampagnen. Aber wenn sie eine vielbefahrene Kreuzung aufreißen, um einen U-Bahnhof von oben zu sanieren, werden sie erstaunlich maulfaul. Statt der reichlich nutzlosen Aufzählung der am Bau beteiligten Unternehmen möchte man von einem Baustellenschild doch nur eins wissen: Wie lange dauert es? Wenigstens ungefähr. Kein Wort dazu.
Finde die für dich relevante Information (Tipp: Sie steht nicht auf dem Schild).
Parallel zu der Unterinformation über Bauprojekte, die immerhin das Leben zehntausender ohnehin schon gestresster Menschen regelmäßig beeinträchtigen, lässt sich eine Überinformation beobachten. Beide Strategien zeugen von einer gedankenlosen Herablassung gegenüber den Bewohner:innen der Stadt. Ein Beispiel sind die in Berlin (und anderswo) aufgestellten „Parklets“, hölzerne Stadtmöbel mit Hochbeeten und Bänken, platziert auf vormaligen Parkplätzen.
Ein beschriftetes Hochbeet.
Die Debatte über das Für und Wider solcher Maßnahmen soll an anderer Stelle geführt werden. Mich interessiert die Beschriftung oder besser: die augenscheinliche Notwendigkeit einer solchen. Auf den gebürsteten Blechplaketten an den Möbeln steht ernsthaft: „Als Ort der Begegnung soll es [das Parklet] das nachbarschaftliche Miteinander stärken.“ Man kann sich nicht vorstellen, dass eine italienische Piazza oder ein Dorfplatz derart untertitelt werden müssten. Denn beschriftet werden nur Dinge, denen man nicht zutraut, sich von selbst zu erklären. Keine Spielplatzrutsche, keine Parkbank, kein Springbrunnen bräuchte solche Plaketten. Und das Parklet natürlich auch nicht. Der Rechtfertigungsdruck, unter dem die umstrittenen Stadtmöbel stehen, führt letztlich zur gleichen Message wie das nutzlose Baustellenschild: Wir werden deine Aufmerksamkeit verstopfen mit wertloser Kommunikation, und wenn es das Letzte ist, was wir tun.
Hier schließt sich der Kreis zu den Pushnachrichten auf dem Handy, den Briefen von der Versicherung und den Samsung-Waschmaschinen. All diese Dinge kommunizieren und dabei zehren sie von der gleichen endlichen Ressource: unserer Aufmerksamkeit. Gedankenlosigkeit gepaart mit Wichtigtuerei bei der Gestaltung von Produkten und Dienstleistungen und der Art, wie diese Dinge kommunizieren, ist ein typisches Merkmal von Krempel.
Diese Mitteilungssplaque nutzt nicht nur unsere individuelle Aufmerksamkeit ab, sie nutzt ganze Medienformen ab. Mein Vater hat (fälschlich) gelernt, dass die Meldungen rechts oben auf dem Bildschirm ignoriert werden können. Jetzt bekommt er gar nicht mehr mit, was sein Computer von ihm will. Wenn ich E-Mails mit Englisch klingenden Absendern bekomme, ist meine erste Reaktion: Das muss Werbung sein (meist habe ich recht, aber nicht immer).
Wenn alles wichtig ist, ist es nichts mehr. Eine Leserin schickte mir diesen Screenshot von ihrem iPhone.
Neulich habe ich gesehen, wie es ist, von Android zum iPhone zu wechseln. Man würde erwarten, dass das im Jahr 2024 ein halbwegs geschmeidiger Prozess ist, aber tatsächlich ist es eine peinliche Prozedur, zumal für das meistverkaufte elektronische Gerät aller Zeiten. Der User muss im Verlauf einen Haufen Fragen beantworten, bei denen er meist nur raten kann, was die richtige Antwort ist. Bei der Einrichtung der Gesichtserkennung „Face ID“ (die die PIN ersetzt) wird beispielsweise gefragt, ob das auch beim Tragen einer Gesichtsmaske funktionieren soll. Bei „Ja“ steht, man müsse keine Maske tragen, um das Feature einzurichten, bei „Nein“, man könne das auch später einrichten. Der größte Teil der Nutzer:innen kann hier keine sinnvolle Wahl treffen, weil gar nicht klar ist, was die Konsequenzen dieser Entscheidung sind.
Man wird also gleich zu Beginn der Nutzung daran gewöhnt, Fragen beantworten zu müssen, die man schlechterdings nicht beantworten kann. Also rät man halt. Etwas später kommen die Nutzungsbedingungen, die man nicht nur nicht liest, sondern, läse man sie, nicht ohne handfeste juristische Vorbildung verstehen könnte. Es folgen unzählige Rückfragen, was jede einzelne App tun darf oder nicht. So gut das gemeint sein mag: Es sind viel zu viele Entscheidungen, sie führen zu Entscheidungsmüdigkeit, denn man will ja meist gerade etwas anderes, vielleicht eine Fischsuppe bestellen, wenn diese Meldungen und Fragen auftauchen. Tatsächlich entscheiden Systeme wie Android oder iOS oder Apps andauernd Dinge, ohne uns zu fragen. Das ist es, was Software tut. Das ist es, was Algorithmen tun. Man kann also davon ausgehen, dass ein Großteil der Fragen, die es zum User schafft, aus den gleichen Gründen da ist wie die Plaketten an den Parklets. Diese Fragen sollen irgendetwas rechtfertigen, sie sollen den Absender absichern, nicht selten aus juristischen Gründen. So wie bei den allgegenwärtigen Cookie-Warnungen.
Für sowas werden Briefe verschickt.
Es ist, als wäre ständig Enkeltrick, und wir alle sind die Großeltern
Juristische Texte stehen hier in einer Reihe mit Werbetexten und Spam, obwohl erstere im Zweifel durchaus handfeste Folgen haben können. Mein Steuerbüro schickt mir zum Beispiel per Post Belege, wenn es etwas digital ans Finanzamt übermittelt hat. Das sind immer drei Blatt Papier, zusammengetackert. Auf der ersten Seite steht als großgedruckte Überschrift das Thema, um das es geht. Es ist immer das gleiche. Es lautet: „Sonstige Nachricht“. Ich bekomme regelmäßig Post mit „Sonstigen Nachrichten“. Ja, was will man machen, so sieht halt die Website des Finanzamts eben aus, die das Steuerbüro ausdruckt. So wurde das eben programmiert. Du weißt doch, was gemeint ist. Natürlich ignoriert mein Gehirn diesen Unsinn mittlerweile. Bis da vielleicht irgendwann mal etwas Wichtiges steht, aber das sehe ich dann nicht mehr.
Wenn durch Mitteilungsplaque ganze Medienformen diskreditiert werden, dringen auch wichtige Signale schlechter durch und müssen umso lauter und auf anderen Kanälen gesendet werden. Im Ergebnis bekommen wir nur noch mehr und noch enervierendere Kommunikation. Wer schon mal in einem schlecht schallgedämmten Lokal gesessen hat, kennt das Phänomen, dass die Gäste durch den Lärm gezwungen sind, immer lauter zu sprechen, um einander zu übertönen, was eine Lärmkaskade auslöst, an deren Ende sich alle anschreien. In diesem Restaurant leben wir jetzt.
Die Lügengeschichten der Boulevardmedien haben wir genau so zu ignorieren gelernt wie die Lügenpresse-Rufer und den Verschwörungsunsinn der Facebook-Onkel und -Tanten. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Botschaften an uns schlecht formuliert sind, fragwürdig, schlicht unverständlich, tendenziös, irreführend und vor allem unnötig. Die englische Sprache kennt den schönen Ausdruck muddying the waters (quasi „das Wasser trüben“) für die Strategie, eine einfache Sache schwieriger erscheinen zu lassen, als sie ist. Nicht nur in den sozialen Medien ist das eine gängige Strategie, um Diskussionen entgleisen zu lassen. Die verschärfte Version kennen wir von Trumps Berater Steve Bannon, den politischen Gegner, den er in „den Medien“ gefunden haben will, in Scheiße zu ertränken: „Flood the zone with shit“ („Flutet das Gelände mit Scheiße“) ist das Ziel. Die Medien mit dem Entkräften hahnebüchener Verschwörungsstorys zu beschäftigen, mit Factchecking von offensichtlichem Unsinn, einem mühsamen Unterfangen, das niemandes Meinung ändert, weil die emotionale Aufladung fehlt. Unsere Aufmerksamkeit wird erschöpft für nichts, und alles, was wir daraus lernen, ist ein Grundmisstrauen in die Welt. Es ist, als wäre ständig Enkeltrick, und wir alle sind die Großeltern.
Dinge zu ignorieren, kostet Energie. Aber es kostet weniger Energie, als sich bewusst mit ihnen zu befassen, insofern ist es ein guter Deal, den unser Gehirn eingeht. Aber nur relativ. Denn unterm Strich erschöpft das Ignorieren uns natürlich dennoch. So wie es anstrengender ist, sich zu konzentrieren, wenn die Nachbarn Löcher in die Wand bohren.
Etwas ignorieren zu können, ist das Ergebnis eines Lernprozesses, an dessen Ende das übrig bleibt, auf das wir dann unsere Aufmerksamkeit richten. Ein wesentlicher Job des Gehirns ist es nämlich, irrelevante Sinneseindrücke herauszufiltern. Wieder und wieder entscheidet es, ob ein Reiz so wichtig ist, dass er an das nächsthöhere Hirnareal weitergegeben wird. Nehmen die Augen beispielsweise Licht wahr, befasst sich das Gehirn erst mit der Helligkeit dieser Signale. Nur wenn sie hell genug sind, werden sie weiterverarbeitet. Dann kommt die Farbe dran und wenn das Licht rot ist, wird es eher weitergereicht, als wenn es eine andere Farbe hat und so weiter. Diese unzähligen Filter, die entscheiden, womit wir uns am Ende bewusst befassen – das ist die Aufmerksamkeit.
Begrifflich ist das alles etwas unerfreulich, weil wir mit Aufmerksamkeit ja umgangssprachlich die aktive Zuwendung zu einer Sache meinen: Ich setze mich an den Computer und schreibe diesen Text, ich widme ihm meine Aufmerksamkeit. Aber tatsächlich funktioniert Aufmerksamkeit anders. Und das ist wichtig, weil dieser Mechanismus von der Mitteilungsplaque, die von digitalen wie physischen Produkten ausgeht, verstopft wird.
Mein Kollege Bent Freiwald erklärt das Phänomen in seinem Newsletter „Das Leben des Brain“ am Beispiel eines verschneiten Stadtparks:
„Um 14 Uhr macht der Weihnachtsmarkt auf, und der erste Besucher stapft durch den Schnee bis zum Glühweinstand. Zwei überteuerte Glühweine später läuft der Besucher quer über den Weihnachtsmarkt zur Toilette und schließlich nach Hause. Mittlerweile ist auch die zweite Besucherin nach dem Bummeln in der Stadt im Park angekommen, sieht die Fußspuren ihres Vorgängers und nimmt, na klar, die gleiche Route, denn dort fällt das Gehen durch den hohen Schnee gleich viel leichter. Und weil immer mehr Besucher zum Glühweintrinken vorbeikommen, entsteht ein richtiger Trampelpfad. Irgendwann nehmen neue Besucher wie ganz selbstverständlich den Weg an, als hätte es nie einen anderen gegeben.
Genau so funktioniert unser Gehirn: Der Eingang, der Glühweinstand und das WC sind Neuronen, die Besucher sind elektrische Signale, die die Neuronen an die anderen Neuronen weitergeben. Und der Trampelpfad ist die Verbindung zwischen den Neuronen, die Synapse, die sich mit jedem neuen Besucher verändert. Je öfter ein Neuron ein Signal an ein anderes Neuron weitergibt, desto besser wird die Verbindung, und desto wahrscheinlicher wird das Neuron auch bei der nächsten Aktivierung sein Signal weitergeben. Wird eine Verbindung zwischen Neuronen deshalb stärker, nennt man das: lernen.“
Der Schnee im Stadtpark ist das, was wir gelernt haben zu ignorieren. Je mehr wir ignorieren, desto mehr Information bleibt in den Filtern hängen. Diese Signale hinterlassen dann keine Spuren mehr im Schnee. Nochmal Bent Freiwald: „Ohne Aufmerksamkeit wäre unser Gehirn nicht in der Lage, manche Synapsen zu stärken, während es andere schwächt. Was wir nicht beachten, können wir auch nicht lernen.“ Tatsächlich ignorieren wir um unser Leben, weil wir sonst an Reizüberflutung zugrundegingen. Aber all das Ignorieren verengt eben auch unseren Horizont. Irgendwann sehen wir nur noch die ausgetretenen Pfade.
Dass mein Vater all die Meldungen seines Computers mittlerweile doch so gut ignorieren kann, liegt nicht nur daran, dass er mir geglaubt hat, als ich ihm dazu riet (auch wenn es ein Missverständnis war). Es liegt auch daran, dass er sie tatsächlich nicht mehr sieht. Aber wenn er jahrelang nur die eine Hälfte seines Bildschirms ansieht und damit gut gefahren ist und alles funktioniert hat, und dann plötzlich funktioniert es nicht mehr, dann schaden die gut eingefahrenen Synapsen mehr, als sie nutzen: Das, was mein Vater gelernt hat, wie der Computer scheinbar funktioniert, stimmt plötzlich nicht mehr. Der Trampelpfad durch den verschneiten Park führt nicht mehr zum Ziel.
Vor ihrer Pensionierung waren meine Eltern Berufsmusiker in einem Sinfonieorchester. Ein Großteil ihrer Arbeit bestand darin, sich in Noten, in Partituren einzuarbeiten. Denn das, was Mozart, Bach, Beethoven aufgeschrieben haben, gilt. Man kann bei einem Notentext von solchem Rang nicht an manchen Stellen sagen: „Das kannst du ignorieren.“ Diese Texte sind den Menschen heilig, die mit ihnen arbeiten. Der Grund, warum meine Eltern am Computer stocken und stolpern, ist also wohl auch eine Déformation professionnelle, eine Art Berufskrankheit: Sie sind nicht abgestumpft genug für den Umgang mit Informationstechnologie. Sie nehmen noch ernst, was da steht.
Hoffnung macht nun ausgerechnet eine Technik, der kein Text, kein Menschenwerk heilig ist, eine Technik, der ich es gönnen würde, all den Stuss, all die schlecht geschriebenen Meldungen, all das herablassende Gelaber für mich zu lesen. Künstliche Intelligenz hat tatsächlich das Potenzial, zumindest die digitale Mitteilungsplaque einzudämmen. Sie kann filtern und nur das für mich Interessante und Relevante durchreichen. Erste E-Mail-Programme, die ausschweifende Mails zusammenfassen, sind bereits auf dem Markt. Apple hat vor wenigen Tagen neue Versionen seiner Betriebssysteme angekündigt, die auf Wunsch nur wichtige Benachrichtigungen anzeigen und Kurznachrichten sowie E-Mails auf ihren Kern eindampfen. Der Kampf um unsere Aufmerksamkeit geht damit in die nächste Runde, und ich bin tatsächlich froh, Künstliche Intelligenz auf unserer Seite zu haben – und nicht nur auf der anderen, wo sie für Deepfakes und dergleichen genutzt wird.
Aber natürlich werden Menschen mit KI das Gelände mit Scheiße fluten, mit mehr und überzeugender aussehender Scheiße. Und damit mehr zu der kommunikativen Uneigentlichkeit beitragen, in die uns die Mitteilungsplaque geführt hat. Wir stimmen Dingen zu, die wir nicht gelesen haben, wir akzeptieren Bedingungen, die wir nicht verstehen. Wir nehmen achselzuckend hin, dass wir die Botschaften, deren Empfänger wir doch sind, nicht mit angemessenem Aufwand begreifen können. Und dass wir es aus lebenspraktischer Sicht auch oft nicht müssen.
In seinem 1990 zuerst auf Französisch erschienenen Essay „Transparenz des Bösen“ sah der französische Philosoph Jean Baudrillard diese „Überproduktion von Zeichen“ bereits voraus: „Die Dinge funktionieren weiter, während die Idee von ihnen längst verloren gegangen ist. Sie funktionieren weiter in totaler Gleichgültigkeit gegenüber ihrem eigenen Gehalt.“ Also werden weiter leere Botschaften produziert, überschüssige Plaketten und Schilder, Pushnachrichten und Mails. Die Sonstigen Nachrichten.
Jedes Signal wird zum Rauschen, wenn es zu viele sind. Und in diesem Rauschen führen wir unser Leben als Kommunikationsteilnehmer:innen, als ob. Als ob die Botschaften von Bedeutung wären, als ob wir sie gelesen hätten. Und wir kommen damit durch, weil es alle so machen. Die Dinge funktionieren weiter. Du weißt doch, was gemeint ist.
Die „Störung im Start- und Zugangssystem“ hat mein Auto jetzt übrigens seit einem halben Jahr. Letzten Winter war es in der Inspektion. Seitdem ist es kaputt. Das heißt, es ist nicht richtig kaputt, es behauptet das nur. Immer wenn ich den Motor abschalte, kommt die Fehlermeldung. Der Händler steht vor einem Rätsel, jetzt muss der Hersteller ran. Tatsächlich funktioniert das „Start- und Zugangssystem“ tadellos wie eh und je. Alles läuft normal, die einzige Störung ist die Meldung über die Störung selbst. Die ignoriere ich aber mittlerweile.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert