Ihre bisher schwerste Beziehungskrise hatten Christian und Magda vor gar nicht allzu langer Zeit. Magda hatte einen Liebhaber („nur Sex“, betont sie), und als sie sich eines Abends mit ihm traf, ging Christian alleine aus und lernte eine Frau kennen. Auch bei ihm war es anfangs „nur Sex“, doch dann geschah da etwas in seinem Kopf.
Normalerweise wecken Affären bei beiden neue Lust auf einander, ihr gemeinsames Liebesleben wird angefacht. Diesmal funktionierte der Trick aber nicht. Christian ließ sich von seiner Liebhaberin mitreißen, die Sache geriet außer Kontrolle. „Es hat mich total geflasht. Ich war in einem Rausch.“ Rückblickend kann Magda das sogar nachvollziehen: „Das Gefühl zu haben, dass da ein Feuer in dir ist, das ist toll. Ich kann das total verstehen.“
Doch damals war es mit dem Verständnis vorbei. Magda spürte, wie Christian sich von ihr entfernte, und stellte ihn zum ersten Mal in ihrer Beziehung vor die Wahl: Brich sofort den Kontakt ab, lösch sie aus allen Kanälen, nein, kein letztes Gespräch – oder ich bin weg. Christian folgte. Seitdem arbeiten die beiden daran, das angeschlagene Vertrauen wieder aufzubauen.
Christian, 37, und Magda, 39, sind seit zwölf Jahren zusammen, verheiratet sind sie seit zehn. Und seit ungefähr sechs Jahren führen sie eine offene Beziehung. Sie haben immer mal wieder Sex, Affären, sogar kleine Liebesgeschichten mit anderen. Das war lange Zeit recht einfach, weil sie in verschiedenen Städten lebten, sie in Berlin, er in Barcelona. Doch auch seit sie seit drei Jahren wieder zusammenwohnen und abends ins selbe Bett steigen, machen sie weiter so. Sie könnten zwar anders, doch sie möchten es eigentlich nicht. Denn darin sind sie sich einig: Egal, wie sehr man sich liebt – Leidenschaft währt nicht ewig. Das ist doch kein Trennungsgrund.
„Wenn du jemanden liebst, dann gibt es einen Unterschied zwischen der Beziehung und dem momentanen Rausch, dem Sex“, findet Christian. Keiner von beiden kann verstehen, wie eine Beziehung, die sich über Jahre bewährt hat, aufgrund nur eines Aktes der Untreue, eines Ausrutschers enden kann. „Ich habe mich oft gewundert: Was ist das für eine Beziehung? Ihr habt euch einmal betrogen! Ist da kein Verständnis da?” Und Magda fügt hinzu: “Wenn ich nicht so sein kann, wie ich bin, dann will ich keine Beziehung. Viele Beziehungen scheitern doch auch, weil sie nicht ehrlich sind.“
Es ist nichts Neues: In den meisten Beziehungen ist nach ein paar Jahren im Bett die Luft raus. Manche Menschen gehen dann fremd, andere machen Schluss. Bei manchen Paaren wird der Sex mit der Zeit einfach weniger wichtig, ohne dass man ihm groß hinterher weint, man konzentriert sich dann eben auf den Beruf oder die Kinder oder die Renovierungsarbeiten am Haus. Ausgetobt hat man sich doch früher.
Studien des Projekts Theratalk am Psychologischen Institut der Universität Göttingen haben ergeben, dass nur gut ein Viertel aller deutschen Paare zweimal in der Woche Sex haben. 57 Prozent schlafen maximal einmal pro Woche miteinander, 17 Prozent aller Befragten haben in einem Zeitraum von vier Wochen gar keinen Sex mit dem Partner. Doch eine andere Studie des gleichen Projekts zeigt, dass 97 Prozent aller Frauen und Männer, die in Deutschland eine Beziehung eingehen, vom Partner Treue erwarten. Welche Form die Enttäuschung auch annimmt, sie ist vorprogrammiert.
In Romanen, Filmen und Zeitungsartikeln mag über neue Beziehungsmodelle gesprochen werden, doch in der Wirklichkeit herrscht eine gewisse Bürgerlichkeit. Man trägt wieder Monogamie, wenn auch oft als Zwangsjacke, von der man sich nicht zu befreien weiß. Denn was, wenn man sich nicht bereit fühlt für ein Leben ohne den Rausch, den das blinde Begehren und seine Erfüllung hervorrufen? Wenn man sich zu anderen Menschen hingezogen fühlt, obwohl man den Partner liebt? Ich weiß von einigen, die „das mit der offenen Beziehung“ probiert haben, kenne aber nur zwei Paare, bei denen es nicht der Anfang vom Ende war. Die Sicherheit und Stabilität einer festen Beziehung, gekoppelt mit den Überraschungen und Abenteuern, die Sex mit Fremden mit sich bringen – das Modell wirkt attraktiv. Doch wirklich bereit dafür scheinen nur die wenigsten, genauer gesagt: ein Prozent aller Paare. Das sagt zumindest die Theratalk-Studie.
Bei Magda und Christian funktioniert es. Das liegt in ihren Augen vor allem daran, dass sie es niemals als Modell betrachtet haben. „Es war ein Experiment. Wir wussten nicht, was passieren würde“, sagt Magda. „Es gibt keine Regeln. Jedes Paar stellt seine eigenen Regeln auf.“ Ihr Erfolgsrezept, auch wenn sie es nicht so nennen würden, ist Pragmatismus, der auf tiefer Zuneigung ruht. Dass sie einfach nicht eifersüchtig sind, sehen sie als nicht weiter bemerkenswert.
Wir sitzen in ihrer Küche, trinken Wein und rauchen. Das machen wir öfter, Magda und Christian sind meine Freunde. Deshalb lassen sie mich ihre Geschichte erzählen. Weil wir Freunde sind – und weil sie gerne weitergeben möchten, was sie gelernt haben. Sie sind keine Exhibitionisten, keine Selbstdarsteller auf sozialen Medien. Das Private bleibt bei Magda und Christian eigentlich privat. Dennoch ist dies eine gute Gelegenheit, mit ein paar Vorurteilen aufzuräumen. Denn beim Begriff „offene Beziehung“ schauen viele skeptisch. Ist das nicht nur eine Ausrede zum Fremdgehen? Und kann man sich dann wirklich lieben, oder ist es eine Zweckbeziehung?
Es ist kein einfacher Weg, den sie gewählt haben, vor allem für die aus einer katholischen Kultur stammenden Magda. Sie musste erst einmal lernen, einfach so Sex zu haben.
Und darüber hinwegkommen, dass andere über ihre Beziehung urteilen. Und sie musste ganz für sich lernen, was Liebe eigentlich bedeutet. Denn als sie sich kennenlernten, hatte auch sie zu Christian noch gesagt: „Wenn du mich betrügst, ist es aus.“ „Die Menschen definieren neu, was Liebe ist“, sagt sie. „Sie wollen Freiheit, wollen aber nichts zurückgeben. Sie wollen geliebt werden, wollen aber nichts von sich preisgeben. Vielleicht muss man die eigene Idee von Glück und Liebe erweitern. Ich will keine Liebe, in der ich etwas tun muss, weil die Gesellschaft es von mir erwartet.“
Einen Plan hatten sie nie. Kennengelernt haben sie sich auf dem Sónar Festival in Barcelona, er Österreicher, sie Kolumbianerin ohne Aufenthaltsgenehmigung. Aus dem One-Night-Stand wurde zuerst eine vorsichtige, dann eine etwas ernstere Beziehung, ernst genug, dass Magdas eingeschränkte Reisefreiheit immer mehr störte. Sie brauchte einen Weg aus der Illegalität. So stand auf einmal das Thema Hochzeit im Raum. „Zu heiraten war eine pragmatische Entscheidung. Es ging nicht um Liebe“, sagt Magda. Eine Heirat wollte sie eigentlich gar nicht, dafür hatte sie in Kolumbien zu viel Scheinheiligkeit und Doppelmoral in den Ehen von Freunden und Familie erlebt. Christian wiederum fühlte sich viel zu jung. „Ich war noch nicht in einem Alter, wo ich sagen konnte: Ich heirate jetzt die Frau meines Lebens.“
Doch sie heirateten eben, im Sommer 2005, sie im Tiroler Dirndl, er in der Kluft kolumbianischer Bauern. Zwei Jahre später bekam Magda die spanische Staatsbürgerschaft. Die Situation der Abhängigkeit war vorbei. Sie hätten sich nun auch scheiden lassen können, taten es aber nicht. Doch während Christians Designstudio aufblühte, fasste Magda in Barcelona nicht Fuß. So beschloss sie, nach Berlin zu ziehen. Sie wussten es noch nicht, doch die Grundlage für die offene Beziehung war gelegt.
Wenn die beiden auf diese Zeit zurückblicken, sagen sie: Wir waren wie Bruder und Schwester. Die Beziehung hatte sich verändert, die Lust war weg. Sie brauchten dringend Abstand zu einander. „Und das ist immer noch ein Thema“, sagt Magda. „Glücklich zu sein ist niemals ein permanenter Zustand. Leidenschaft vergeht. Immer, in meiner Erfahrung. Viele Menschen können mich anmachen. Liebe geht tiefer. Und Liebe kenne ich nur mit Christian.“
Das Thema ist Sexualtherapeuten nicht unbekannt. Sowohl Ulrich Clement als auch die Belgierin Esther Perel, beide Stars der Szene, die für mehr Offenheit und Ehrlichkeit unter Partnern plädieren, halten die Anforderungen an moderne Beziehungen einfach für zu hoch. „Wir wollen alles mit einer Person: gute Gespräche und guten Sex, Geborgenheit und Abenteuer. Das ist eine heillose Überforderung jeder normalen Beziehung“, sagte Clement in einem Interview der Zeitschrift Brigitte. „Dieser Größenwahn, dass eine Liebe alles leisten muss“, wie er es nennt – dem haben Magda und Christian einfach den Rücken gekehrt. Und auch, wenn die beiden sagen, es gäbe keine Regeln, so verhalten sie sich doch ganz unbewusst so, wie Perel und Clement es anraten: respektvoll, loyal, entspannt und sich ihrer Grenzen bewusst.
Eine Frage, die sich Außenstehende oft stellen, ist die des Gleichgewichts in offenen Beziehungen. Da nutzt doch einer den anderen aus? Fragt man Magda und Christian, ob einer von ihnen mehr profitiere, sagen beide: ja, ich.
Das sagen sie, während sie nebeneinander sitzen und sich immer wieder gegenseitig korrigieren und ergänzen. Auf den ersten Blick wirken sie wie kulturelle Klischees: sie emotional, spricht von Gefühlen und Erkenntnissen und großer Liebe, ganz Latina eben. Er konzentriert sich auf Fakten, Details, ist rational, unterbricht sie immer wieder, wenn sie Dinge vorwegnimmt. Doch ist er es, der unter Menschen aufblüht, der reist, sich die Nächte um die Ohren haut, sich selbst als „Sozialschlampe“ bezeichnet, während sie, die Yogalehrerin, um 23 Uhr ins Bett geht, um sechs Uhr aufsteht und gerne ihre Ruhe hat. Er hat mehr Affären, ihre dauern vielleicht länger an. Ein klares Machtgefüge ist bei ihnen nicht zu erkennen. An Willenskraft mangelt es jedenfalls keinem der beiden.
Das Gefühl, ungleich profitiert zu haben, das hatten sie schon, als sie sich das erste Mal gegenseitig betrogen, denn die offene Beziehung begann mit zwei Akten der Untreue. Christian in Barcelona, Magda in Berlin, während der gemeinsamen Weihnachtsfeier - zuerst beichtete sie, dann er. Die Katze war aus dem Sack, beide waren erleichtert – und beschlossen, mehr implizit als explizit, erst einmal so weiterzumachen. Christian nennt diese Zeit eine Grauzone: „Wir haben es stillschweigend akzeptiert.“
Das bringt uns zur Transparenz. Wie viel muss der andere eigentlich wissen? Ihm fiel es schon immer schwerer als ihr, von seinen Affären zu berichten. Und sie sagen es sich selten sofort. Auch Details müssen sie sich nicht immer erzählen. „Wir haben nie eine Verhörsituation gehabt. Manchmal kommen Dinge nach ein paar Gläsern Wein raus“, sagt Christian.
Überhaupt haben sie kaum feste Regeln. „Niemand aus dem Freundeskreis“ ist eine Regel, doch ist Christian inzwischen mit einem früheren Liebhaber von Magda befreundet. „Ich vergesse das zwischenzeitlich sogar immer“, sagt er und lacht. Das Arrangement beruht vor allem auf großem Respekt vor den Gefühlen und Bedürfnissen des anderen. Man kann es ganz krass ausdrücken: Sie vögeln eben gerne, aber nicht immer gerne miteinander. Dafür kennen sie sich zu gut. Beide sagen ganz klar, dass ihnen Sex wichtig ist. In ihrer Beziehung jedoch spielt er eine untergeordnete Rolle. Es gibt Wichtigeres. Zum Beispiel, dass sich Magda von Christian inspiriert fühlt, ein besserer Mensch sein zu wollen. Dass es Christian unmöglich ist, Magda böse zu sein, egal, was sie tut.
Eine Regel gibt es jedoch, und ausgesprochen hat sie Magda: „Ich bin die Königin. Es kann Hofdamen geben, doch ich muss immer an erster Stelle stehen.“ Womit sie sagen will: Das Herz ist für den anderen reserviert. Auch ihre Partnerschaft ist exklusiv, nur eben nicht sexuell, sondern emotional. Christian erklärt es so: „Es ist im Prinzip eine monogame Beziehung. Nur gibt man sich Freiraum.“
Doch auch, wenn sie betonen, dass sie Liebe und Leidenschaft trennen – die Grenzen sind unscharf. Magda sagt, sie könne überhaupt keine oberflächlichen Beziehungen haben, und Christian sieht das ähnlich: „Es geht nicht um den schnellen Fick. Es ist immer eine Attraktion, die weit über das Physische hinaus geht“. Wo die Attraktion aufhört und die Liebe anfängt, das wissen sie nur selbst.
Es gibt also auch in einer offenen Beziehung Seitensprünge, nur finden diese nicht im Bett statt. Sie sind kein Akt, sie sind ein Gefühl – das Gefühl, das Magda vor nicht allzu langer Zeit hatte, als Christian sich von seiner damaligen Liebhaberin mitreißen ließ. Da fühlte sie sich wie ein Stein in seinem Weg. Zum ersten Mal dachte sie, dass sie sich besser trennen sollten. Der Vertrauensbruch war jedoch nicht die andere Frau. Es waren Christians Zweifel an seinem Leben mit Magda. Und das, sagen beide, hätte auch passieren können, wenn sie keine offene Beziehung führten.
Sie mussten sich wieder ganz bewusst für einander entscheiden, wie sie es schon einige Male getan haben. Sie gaben sich ein paar Monate Zeit, redeten, stritten und vertrugen sich wieder, reisten gemeinsam nach Kolumbien und sagten: Mal sehen, wie es uns danach geht. Das war vor ein paar Monaten. Den beiden geht es gut. Dass sie nach alldem weiterhin zusammen sind, ist weniger als Sieg ihres Pragmatismus zu verbuchen als einer ihrer tiefen Zuneigung. Um es mit den Worten von Ulrich Clement zu sagen: „Die Unschuld ist hin. Aber das Durchhalten birgt die Chance auf etwas Neues. Und das kann aufregend sein.“
Nachtrag
In den Leserdiskussionen zu diesem Text kam immer wieder die Frage nach den Dritten in dieser Konstellation auf, will heißen, nach Magdas und Christians Liebhabern. Ihnen wurde teils Egoismus oder Gefühlskälte gegenüber diesen Personen vorgeworfen, manche Kommentatoren fragten sich, ob sie die Liebhaber nicht ausnutzen. Dass diese Dritten in diesem Text kaum vorkommen, war meine Entscheidung als Autorin; ich wollte mich auf das Paar konzentrieren, auf die Dynamik zwischen den beiden. Darum geht es für mich in der Geschichte.
Doch nun möchte ich zwei Dinge hinzufügen. Erstens, Christian und Magda haben weniger Affären, als es vielleicht scheinen mag. Oft ist es schon genug, zu wissen, dass sie es tun könnten. Hätten sie ständig das Bedürfnis nach Sex mit anderen Menschen, dann hätten sie auch Zweifel an ihrer Beziehung. Magda sagte dazu nur: “Wir müssen ja auch anderes tun. Wir haben gar nicht so viel Zeit für so viele Liebhaber”.
Zweitens: Ich habe für diesen Text mit keinem der ehemaligen Liebhaber der beiden gesprochen, doch Christian und Magda sagen, dass sie ihre Situation immer von Anfang an ganz offen darlegen. Sie haben kein Interesse daran, anderen etwas vorzugaukeln, ganz im Gegenteil. Und die meisten Affären sind sehr kurz, oft dauern sie nur eine Nacht. Natürlich gibt es trotzdem keine Garantie dafür, dass sich keine Gefühle entwickeln, auf beiden Seiten. Meine Meinung dazu ist: Diese Garantie gibt es niemals im Leben. Am Ende ist jeder für sich selbst verantwortlich. Und richtig schön auf die Schnauze fliegen kann ich auch mit einem Menschen, der nicht verheiratet ist.
Fotoredaktion: Martin Gommel (unsplash / Josh Applegate).
Den Beitrag anhören:
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Der Text wurde gesprochen von Sofia Flesch Baldin von detektor.fm