Eine Grafik, auf der ein Mann auf einem Stapel Gerümpel sitzt.

© Christoph Rauscher

Sinn und Konsum

Ein Bund gegen den Schund

Viele sehnen sich nach einer guten alten Zeit des „ehrlichen Handwerks“. Dabei sollten wir eher klären, was gute Industrieprodukte ausmacht. Vor 100 Jahren waren wir da schon weiter.

Profilbild von Gabriel Yoran

Wie lebt man, wenn man mehr hat, als man braucht, viel mehr als die Kinder und Kindeskinder je brauchen werden?

Als der Pelz- und Immobilienhändler Johann Jakob Astor 1848 starb, hinterließ er zwanzig Millionen Dollar, heute wären das über eine halbe Milliarde. Der deutsche Emigrant aus der Kurpfalz wurde in den USA ein Mensch neuer Art, er wurde der erste Multimillionär. Nie zuvor verfügte ein einzelner Bürger über ein solches Vermögen.

Aber er blieb nicht lange allein. Die erste industrielle Revolution, der Bau von Schiffen, Eisenbahn-, Strom- und Telekommunikationsnetzen brachte in dem riesigen Land Unternehmer in einer neuen Größenordnung hervor und mit ihnen einen Reichtum, für den es keine eigenständige Ausdrucksform gab. Wie man so reich wird, war bekannt. Die offene Frage war, wie man so reich ist.

Also orientierten sich die Astors, Vanderbilts und Rockefellers am verschwenderischen Prunk des europäischen Adels. In einem Land, das keinen Adel kennt, ließen sie ihre Sommerhäuser im Stile französischer Schlösser oder italienischer Paläste erbauen.

Noch 1896 wurde das Vanderbilt-Anwesen The Breakers („Die Wellenbrecher“) in Newport im New-England-Bundesstaat Rhode Island fertiggestellt, wo die 76 Meter lange Renaissance-Villa über den Atlantikklippen thront. Fast die Hälfte der 70 Räume waren Bedienstetenunterkünfte und Hauswirtschaftsräume. Sie dienten nur dem Bespaßungsmanagement der Familie und ihrer Gäste. Durch die anderen Räume tanzte die New Yorker Gesellschaft über Böden aus Marmor und Terrazzo, flanierte durch Säulengänge und blickte von den Wandelhallen aus über den Atlantik. In den Badezimmern kam warmes Wasser aus dem Hahn, auf Wunsch Süß- oder Meerwasser. Man muss an dieser Stelle daran erinnern, dass wir uns am Vorabend des zwanzigsten Jahrhunderts befinden, weshalb die Breakers Strom hatten und einen Aufzug – als eines der ersten Privathäuser überhaupt. Und überall Knöpfe, mit denen die Vanderbilts geräuschlos gleichermaßen geräuschlose Bedienstete herbeirufen konnten, um mehr Truthahn zu bringen. Als ich in Rhode Island gelebt habe, stand ich öfters vor dem kunstvoll gestalteten, neun Meter hohen Eisentor, hinter dem die von Sumpfeichen und Rot-Ahornen gesäumte Kiesauffahrt zu den Breakers beginnt.

Das Bild zeigt das besprochene Anwesen. Ein herrschaftlicher Bau aus gelbem Sandstein mit einem roten Dach.

Matt H. Wade/CC BY-SA 3.0 DEED

Es ist leicht zu sagen: So leben zu wollen, ist ein illegitimer Wunsch. Es ist leicht zu sagen: So zu leben, gehört sich nicht, es ist unmäßig. Aber wir leben in einer Welt, die permanent neue Wünsche produziert, Wünsche nach neuen Waren und Diensten. Unsere Welt ist so gebaut. Das letzte Tabu der freien Marktwirtschaft sind die illegitimen Wünsche.

Niemand stoppt den, der verschwenden will

Heute leben viel mehr Multimillionäre und -milliardäre als vor hundert Jahren, auch inflationsbereinigt. Auch heute stoppt niemand den, der verschwenden will, denn das Recht auf Verschwendung erwächst aus einer Wirtschaftsordnung, deren Boden stahlhart, deren Obergrenze aber nur der Himmel ist.

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Wenn du von London nach Abu Dhabi fliegen willst, dich aber nicht mit dem Pöbel in der First Class abgeben möchtest und statt eines Sitzplatzes eine Suite mit drei Zimmern und eigenem Badezimmer mit Dusche brauchst, kannst du bei Etihad, der staatlichen Airline der Vereinigten Arabischen Emirate, genau das buchen. Ein Flug in der Klasse oberhalb der ersten, genannt The Residence, kostet 25.000 Euro. One-Way, versteht sich. Dafür ist der persönliche Butler inklusive.

Das schlichte, so demokratische wie undemokratische Kriterium für Konsum, seine einzige Bedingung, ist die Menge deines Geldes, sonst nichts. Wenn du diese abzählbare Bedingung erfüllst, hält dich nichts auf.

Dass der Cybertruck gekauft wird, ein bis zu 1.000 PS starker elektrischer Pick-Up-Truck mit einer kantigen Science-Fiction-Karosserie aus schusssicherem Edelstahl, ist Beleg für die Richtigkeit seiner Existenz: Es gibt einen Markt dafür.

Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass individuelle Wünsche, dass Konsumentscheidungen Privatsache sind und jeder mit seinem Geld tun und lassen können soll, was er will. Das Auto, mit dem man in den Krieg ziehen könnte, das aber in keinen normalen Parkplatz mehr passt, aber auch der Kaffeevollautomat, der von Leuten entworfen wurde, die noch nie einen Kaffeevollautomaten reinigen mussten, der Fernseher, dessen Einstellungsmenüs als eigenes Hobby durchgehen, die Ikea-Kommode, bei der keine Fuge so breit ist wie die andere, Plastikboxen bis die Schubladen überquellen. In der freien Marktwirtschaft sollen alle kaufen können, was sie wollen.

Der britische Soziologe Don Slater schrieb 1997, dass „ab den 1980er Jahren […] der Konsument in den Industrienationen zum ‚Held der Stunde‘ stilisiert [wurde], der durch seine Ausgaben und die Aufnahme von Krediten Wirtschaftswachstum garantiere. Daher wurden politische Entscheidungen (etwa im Thatcherismus) vermehrt darauf ausgerichtet, den Individuen möglichst alle Konsummöglichkeiten offen zu halten.“

Wie es schon bei Spider-Man heißt: „Aus großer Macht folgt große Verantwortung.“ Wenn wir die Helden der Stunde sein sollen, müssten wir uns dann nicht umso verantwortungsbewusster verhalten? Dafür müsste jeder von uns befähigt werden, gute Produkte als solche zu erkennen und Krempel zurückzuweisen.

Daran hat die Industrie nur begrenztes Interesse, denn natürlich möchte sie möglichst ungestört billig produzieren und teuer verkaufen. Das ist kein moralisches Urteil, es ist schlicht ihr Seinsgrund. Wenn du als Unternehmer:in nicht alles aus dieser Differenz rausholst, tut es deine Konkurrenz. Und mit dem so erzielten höheren Gewinn, macht die Konkurrenz dich dann platt (baut die besseren Produkte, senkt die Preise, macht mehr Filialen auf, you name it).

Unser historisch hoher Wohlstand ist auch das Ergebnis industrieller Produktion. Niemand will hinter das industrielle Zeitalter zurück. Die Massenproduktion von Waren ermöglichte nämlich überhaupt erst die Steigerung der Lebensqualität für Milliarden von Menschen. Niemand will auf Wasch- oder Spülmaschinen, gut schließende Fenster und funktionierende Heizungen verzichten.

Es geht nicht ohne die Industrie, denn kein Mensch ist allein in der Lage, eine Waschmaschine zu bauen, die es in irgendeiner Hinsicht mit den Geräten aus dem Elektromarkt aufnehmen kann. Industrialisierung bedeutet extreme Arbeitsteilung, das bedeutet Spezialisierung und die bedeutet zwangsläufig ein Wissensgefälle. Die Industrie verfügt nicht nur über Geld, Fertigungsstraßen und Vertriebspartner, sie verfügt vor allem über Wissen.

Die Informationsasymmetrie zwischen dem Hersteller auf der einen und der Kundschaft auf der anderen Seite ist heute größer denn je. Fachhändler, die zwischen den beiden Seiten eigentlich vermitteln sollen, sind seit Jahren im Aussterben begriffen, so dass man heute oft Händler vorfindet, deren Fachkenntnis man durch einfaches Googlen toppen kann. So kann es nicht funktionieren, denn warum soll man Aufpreise für den stationären Handel zahlen, wenn die Beratung im Geschäft auch nicht besser ist als die zusammengesuchten Infoschnipsel im Netz?

Nicht ich bin es, der Markt ist es gewesen!

All dies interessiert uns hier, weil der Konsum einer der großen Schauplätze ist, auf denen sich der Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft abspielt. Wenn ich Butter kaufe oder einen pflanzlichen Brotaufstrich, wenn ich ein Deutschlandticket kaufe oder ein Auto finanziere, treffe ich individuelle Entscheidungen, aber ich treffe sie nicht im Vakuum.

Butter schmeckt mir deutlich besser als das beste Ersatzprodukt, aber Großmolkereien produzieren neben Milch auch erschreckend viel CO₂. Mit dem Auto kann ich schnell mal raus an einen See fahren oder sperrige Dinge transportieren, aber massenhafter Autobesitz bedeutet auch noch mehr CO₂, laute Straßen und öde Parkplätze statt spielender Kinder unter kühlenden Bäumen.

Im Konsum trifft mein vernünftiges Ich, das das Richtige tun will, für die Gesellschaft und den Planeten, auf mein unvernünftiges Ich, das sich vor allem um sich selbst sorgt und das neue Fahrrad, die neuen Sneakers, das neue Handy geil findet und einfach haben muss.

Ich fühle mich gut, wenn ich eine Konsumentscheidung getroffen habe, in der ich glaube, mich ausdrücken zu können. Auch wenn es wirklich individuelle Entscheidungen in einer Industriegesellschaft, in der fast jede Ware tausendfach, ja oft millionenfach produziert wird, vielleicht gar nicht wirklich gibt. Wie individuell ist schon eine Entscheidung, wenn in wichtigen Lebensbereichen wenige große Unternehmen die Märkte unter sich aufgeteilt haben und Wettbewerb oft nur noch zum Schein ausgetragen wird? (Ich schrieb darüber in Teil 1 und Teil 2 der Reihe „Die Verkrempelung der Welt“.) Wie individuell sind Entscheidungen, die sich am Ende doch alle ähneln, die sich ähneln müssen, weil sie sonst von Industrieprodukten gar nicht befriedigt werden könnten?

Die Idee der freien Konsumentscheidung ist dennoch strategisch wichtig, denn mit ihr lässt sich der moralische Ballast des richtigen Verhaltens auf den einzelnen Konsumierenden abladen. Nicht die Industrie, die die schlimmen Dinge anbietet, trägt die Verantwortung für ihre Existenz, sondern die Kundschaft, die die schlimmen Dinge will. Nicht ich bin es, der Markt ist es gewesen!

Jede Ware hat nämlich durch ihren Erfolg am Markt ihre Rechtfertigung bereits eingebaut. Der wirtschaftliche Erfolg einer Sache schlägt alles. Und das, obwohl die schiere Tatsache, dass ein Produkt zu einem bestimmten Preis den Eigentümer wechselt, noch keine Aussage darüber trifft, ob ein Produkt überhaupt existieren sollte. Die Marktwirtschaft kennt keine Moral der Dinge.

Aber die Akteure der freien Marktwirtschaft sind am Ende doch Menschen und menschliche Handlungen haben eine moralische Dimension. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es illegitime Wünsche gibt, aber der Diskurs darüber ist völlig kaputt: Es gibt keine seriöse Auseinandersetzung darüber, wo die Grenzen der Legitimität sind, weil das Thema so schwer zu diskutieren ist.

Eine Seite wähnt sich auf dem moralisch hohen Ross, von dem aus sie sich anmaßt zu entscheiden, was zu viel Konsum ist. Und die andere Seite lehnt eine Diskussion darüber rundheraus ab, denn das regelt der Markt. Beide Perspektiven ersticken eine Diskussion im Keim, die wir dringend führen müssten.

Der Traum vom „ehrlichen Handwerk“

Die moralische Last beim Konsum ist relativ neu. Sie erwuchs erst aus dem extrem gestiegenen Wohlstand der Industrienationen. Aber das Problem, dass die Kundschaft nicht weiß, was sie kaufen soll, gibt es schon länger. Schon im 18. Jahrhundert beschrieb Johann Beckmann, auf den auch die Erfindung des Begriffs „Technologie“ zurückgeht, erstmals eine Disziplin namens „Warenkunde“. Sie war ursprünglich als Grundlagenwissen für den Handel gedacht: Woraus besteht ein Produkt, wie wird es hergestellt und vertrieben? Beckmanns Überlegungen entstanden am Vorabend der industriellen Revolution in Deutschland. Mit ihr nahmen dann Menge und Komplexität von Waren extrem zu, so dass es heute unmöglich ist, für alle uns umgebenden Produkte auch nur ansatzweise zu wissen, woher und woraus ihre Bestandteile sind, wie sie hergestellt wurden und wie sie im Innern funktionieren. So funktioniert eine arbeitsteilige Gesellschaft nun mal. Ohne Spezialisierung gäbe es nicht die unglaubliche Produktivitätssteigerung, die wir in den letzten anderthalb Jahrhunderten erlebt haben. Nur wer sich auf die Produktion von Waschmaschinen spezialisiert und über die Produktionsmittel verfügt, kann sie im industriellen Maßstab bauen. Und nur wenn in jedem Haushalt eine Waschmaschine steht, steigt die Produktivität der Bevölkerung. Du musst nicht mehr selber waschen, aber dafür weißt du halt auch nicht, wie man eine Waschmaschine baut. Für die allermeisten Menschen ist das ein guter Deal.

Tatsächlich kenne ich niemanden, der gerne seine eigene Waschmaschine bauen würde. Sobald Holz im Spiel ist, sieht die Sache ganz anders aus. Da spannt sich ein ganzes handwerkliches Sehnsuchtsfeld auf, zu besichtigen beispielsweise in der SWR-Dokumentarfilmreihe „Handwerkskunst“. Die Folge über den Bau einer Massivholz-Einbauküche (von 2022) ist auch auf Youtube abrufbar, wo sie über eine Million Views verzeichnet. Unter dem Video finden sich über eintausend praktisch durchweg positive Kommentare. Einhellige Zustimmung dürfte es im Internet gar nicht geben, aber die Kommentierenden lieben durchweg dieses gewissenhafte Handwerk, die sorgfältige Planung, die Ruhe, mit der Herstellung und Montage vonstatten gehen – und natürlich generell den Werkstoff Holz. Nichts daran ruft irgendeine Kritik hervor. Dass die gezeigte Küche ohne Geräte 32.000 Euro kostet, wird der guten Ordnung halber in der letzten Filmminute noch erwähnt. Das tut der Sache keinen Abbruch, gute Arbeit kostet eben, so der Tenor der Kommentierenden. Für den größten Teil der Zuschauer:innen dürfte sie ein Traum bleiben, aber der Traum vom Handwerk lebt.

Leider ist er politisch etwas belastet, denn wenn man die Qualität billiger Industrieware kritisiert, wird oft genug eine vorindustrielle mythische „gute alte Zeit“ der Manufakturen, des „ehrlichen Handwerks“ in Anschlag gebracht. In dem Song „They Don’t Make ‘em Like That No More“ (in etwa: „Sowas wird heute gar nicht mehr gebaut“) des Countrysängers Riley Green heißt es: „There’s just something ‘bout bein’ handmade / And bought with cash on a firm handshake“ („Handgemachtes ist was Besonderes / Gekauft mit Bargeld und festem Händedruck“). Das Handgemachte ist demnach dem Industrieprodukt vorzuziehen, das Bargeld der Kreditkarte und vor allem der persönliche Kontakt der anonymen Onlinebestellung. Die marxistische Entfremdung des Arbeiters vom Produkt seiner Arbeit, kritisiert ausgerechnet in einem amerikanischer Countrysong. (In einem späteren Vers geht es dann noch um Gewehre.) Im Unbewussten dieser guten alten Zeit trifft sich linke Kapitalismus- mit rechter Globalisierungskritik.

Und wie alle Fantasien wird auch diese monetarisiert.

Es gibt ein Marktsegment für den bewussten Luxuskonsumenten. In kleiner Stückzahl handgefertigte Dinge zu hohen Preisen, im Katalog sachlich beschrieben ohne reißerische Verkaufe oder hysterische Rabattaktionen. In Deutschland steht für dieses Marktsegment prototypisch das Versandhaus Manufactum mit dem wehmütig-larmoyanten Slogan „Es gibt sie noch, die guten Dinge“. Warenkunde ist in Deutschland reaktionär vereinnahmt worden. Kritisiert man den komplexen Krempel, der die modernen Haushalte flutet, ist die Wehmut nach einer (in Wirklichkeit nicht existenten) guten alte Zeit nicht weit. Es ist kein Zufall, dass der Verlag des Manufactum-Gründers (der seinen Gute-Dinge-Handel mittlerweile an den Otto-Konzern verkauft hat) praktisch durchweg Bücher rechter Autor:innen verlegt.

Die Manufactum-Katalogprosa wimmelt nur so vor letzten sorbischen Muhmen, die dank des Versandhändlers wieder Bierdeckel handfilzen. So lobenswert das im Einzelfall ist, so wirkungslos ist es in der Breite. Es ist ein gutes Geschäft, aber es muss doch möglich sein, gute Produkte zu kaufen, ohne gleich eine ganze rückwärtsgewandte Weltanschauung mitzukaufen. All dies verhindert einen produktiven Blick auf gute, industriell gefertigte Waren. „Es gibt sie noch, die guten Dinge“ – ja, aber muss ich sie gleich bei einem reaktionären Nostalgieshop für Topverdiener kaufen?

Die Frage ist: Wie sähe eine progressive Warenkunde aus?

Ein Volksfest der Moderne, eine Messe des guten Geschmacks

Ohne genau diese Begriffe zu verwenden, taten sich schon einmal ein paar Männer zusammen, um diese Frage zu stellen, in der breitestmöglichen Öffentlichkeit, mit allen Stakeholdern, im Jahr 1907. In dieser Gruppe „arbeiten Künstler mit Handwerkern und Fabrikanten zusammen und zwar gegen den Schund zugunsten der Qualitätsarbeit.“ Diese Zusammenfassung stammt von Hermann Hesse und was er da beschreibt, ist eine Organisation, deren Einfluss Anfang des letzten Jahrhunderts gar nicht hoch genug geschätzt werden kann, die aber heute den meisten Menschen kaum noch bekannt ist: der „Deutsche Werkbund“.

Der Werkbund hatte damals schon verstanden, was erst viele Jahrzehnte später im Rahmen der Nachhaltigkeitsdiskussion weltweite Bedeutung bekommen sollte. Hesse jubelte 1912: „Es handelt sich um den Geschmack als moralische Angelegenheit, aber Moral ist hier gleichbedeutend mit Volkswirtschaft.“

Die revolutionäre, aber aus heutiger Sicht rührend naiv wirkende Vorstellung des Werkbunds war: Es ist das Richtige, wenn die Industrie gute Produkte herstellt, und es ist das Richtige, wenn die Konsumierenden sie als solche erkennen können und deshalb anschaffen. Es ist das moralisch Richtige und es ist das wirtschaftlich Gewünschte. Denn der Werkbund, in dem Architekten, Kunsthandwerker, Künstler, Autoren, Unternehmer und Händler sich zusammenschlossen, war keine Wohltätigkeitsveranstaltung. Er wollte die deutsche Industrie endlich auf Weltniveau bringen.

Deutschland war damals nämlich hintendran, verglichen mit der Industrialisierung der USA und Englands. Das Label „Made in Germany“ stand damals noch nicht für Qualität, sondern für ihr Gegenteil. 1887 in England eingeführt, war es als Warnung gedacht vor minderwertiger, billiger Ware. Deutsche Industrieprodukte galten als altmodisch. Und selbst wenn sie auf modernen Maschinen in großer Stückzahl produziert wurden, versahen ihre Hersteller sie mit kitschigen Schnörkeln. Teekannen sahen wie Samoware aus, noch der trivialste Haushaltsgegenstand miefte nach Kaiserzeit.

Die Werkbündler hatten aber nicht nur ein ästhetisches Problem. Sie vermissten etwas, was man eine „Moral der Dinge“ nennen könnte. Die Mission des Werkbunds, den man heute wohl am ehesten einen Lobbyverband nennen würde, war: Kunst, Wirtschaft und Industrie mögen zusammenarbeiten, um industriell Dinge herzustellen, die schön sind (und schön meinte: schlicht und funktional), von Dauer und praktisch. Und die Konsumierenden mögen darüber aufgeklärt werden, was gute Dinge ausmacht. Es ging dem Werkbund darum, die Herstellung und den Konsum von Produkten als ein ethisches Thema zu begreifen und nicht als ein rein wirtschaftliches. Und er wollte die Industrie genauso einbeziehen wie die Konsumenten (und, was aus heutiger Sicht befremdlich wirkt, Kunstschaffende auch). Der Werkbund organisierte das, was man heute einen Diskurs nennt.

Und in den 1910er Jahren war er damit unvorstellbar erfolgreich. Im Jahr 1914 präsentierte er in einer über 200.000 Quadratmeter großen Ausstellung nicht etwa nur einzelne Geräte oder Möbel, sondern gleich ganze Gebäude: Ein Theater war dabei, ein Kaffeehaus, eine Bierhalle, ein Musikpavillon, alles bespielt von Unternehmen und Künstlern, die eine modern gestaltete Welt zeigen wollten. Es gab einen evangelischen Kirchenraum (bis hin zu neu designten Opferbüchsen), eine Fabrikhalle auf neuestem technischen Stand (entworfen von Walter Gropius) und eine komplette Mustersiedlung für Industriearbeiter und Tagelöhner. Die Kölner Werkbundausstellung 1914 war eine Sensation, sie war so etwas wie ein Volksfest der Moderne, eine Messe des guten Geschmacks, und sie hatte den Rang einer Weltausstellung.

Natürlich war der Werkbund ein Kind seiner Zeit. Es waren keine Frauen dabei. Auch bei der Kölner Ausstellung hatten sie nichts zu sagen – mit Ausnahme der Leitung des „Hauses der Frau“ (mit Garten, denn Gartenarbeit ist ja Frauenarbeit!). Und bei Weitem nicht alle Pavillons und Ausstellungsobjekte dürften heute noch als zeitlos gelten. Aber der Anspruch, wie ihn der Ausstellungskatalog formuliert, war in der Welt: „Wenn in unserer an Ausstellungen wahrlich überreichen Zeit ein solches Unternehmen auf Erfolg, d. h. auf Erfüllung einer Kulturaufgabe — nicht etwa auf finanziellen Gewinn — rechnen will, so muß es schon etwas Besonderes bieten.“

Erfüllung einer Kulturaufgabe, darunter machten sie es nicht. Es wurde versucht, die Ausstellung „frei zu halten von allen jenen minderwertigen, aufdringlichen und marktschreierisch angebotenen Gegenständen.“ Die Werkbündler vertraten nicht einfach eine Industrie, die die Welt zuschütten möchte mit Krempel. Sie verstanden, dass es nicht darum geht zu kaufen, was man sich leisten kann, sondern Ansprüche an die Waren zu stellen und an sich selbst.

Es ist unser Reichtum, der die Erde überstrapaziert

Ich glaube, dass wir von dieser Bewegung heute noch etwas lernen können. Denn der Werkbund begriff es früh als ethisches Problem, wenn Schrott in großen Mengen produziert wird. Warenästhetik als ethisches Problem bedeutet: Die Leute, die Produkte gestalten und produzieren, haben eine Verantwortung, der sie gerecht werden müssen. Sie bleiben hinter ihrer moralischen Pflicht zurück, wenn sie Produkte bauen, die schnell kaputtgehen oder schneller als nötig, die man nicht oder nur schlecht reparieren kann. Sie bleiben hinter ihrer moralischen Pflicht zurück, wenn sie Produkte extra so bauen, damit die neuen Versionen begehrenswerter sind als die vorigen, obwohl die alten noch gut sind.

Der Werkbund macht den Versuch, die Warenkultur einer rein kapitalistischen Logik zu entziehen. Der Kapitalismus ist nicht an einem Diskurs über gute Produkte interessiert (er ist nicht mal an einer Definition interessiert) – aber die Konsumierenden müssten es sein. Und in einer idealen Welt auch die Produzierenden.

Es gibt den Werkbund immer noch, er steht zum Beispiel hinter dem Berliner „Museum der Dinge“, das Alltagsgegenständen die Aufmerksamkeit zukommen lässt, die sie verdienen. Das Museum feiert ein „Ding des Monats“, gerade war es die berühmte grüne Plastikgießkanne (was sie so gut macht, weiß, wer schon mal mit durchgerosteten, schweren Blechkannen einen Garten gießen musste). Dort lässt sich die Geschichte der „Massen- und Warenproduktion des 20. und 21. Jahrhunderts“ besichtigen.

Das Vanderbilt-Anwesen und fast ein Dutzend weiterer Newport Mansions sind heute ebenfalls Museen. Am äußersten Rand der Gärten hinter den Palästen, direkt an den Klippen, verläuft ein schmaler öffentlicher Spazierweg. Ich bin den Cliff Walk mehrmals entlangspaziert. Die Anwesen stehen in respektvollem Abstand, aber doch so nah nebeneinander, als wären sie Industrieprodukte, en masse gefertigt wie die Schienen und Telegrafenmasten ihrer Besitzer. Selbst auf dem Gipfel des Reichtums haftet dem Konsum etwas Vulgäres an. Ich will mehr haben als mein Nachbar, und ich will es zeigen.

Und wer denkt, der Besitz eines eigenen Palastes ließe sich nicht mehr steigern, dem fehlt einfach die Fantasie eines Milliardärs. Larry Ellison, der mit seiner Datenbankfirma Oracle zu einem der reichsten Menschen der Welt wurde, hat angefangen, die historischen Anwesen in Newport zu kaufen. Denn warum einen Palast besitzen, wenn du zwei, drei oder (Stand Mai 2024) vier besitzen kannst? Als ob der Reichtum sich selbst verschlingen wollte, gehört Ellison jetzt auch die italienisierende Villa Beechwood – im 19. Jahrhundert das Anwesen der Familie Astor.

Die offensichtlichen Exzesse eines Ellison sollen uns nicht von der Frage abbringen, welche Wünsche legitim sind. Auch wir lassen uns geräuschlos Essen bringen, nur arbeiten unsere Bediensteten für Plattformen wie Wolt, Lieferando und Uber. Und sie sind dort nicht mal richtig angestellt. Wir kaufen keine Paläste, aber auch wir lassen uns Dinge liefern, weil es geht.

Der Ökonom Niko Paech weist – hier auf einer Veranstaltung des Werkbunds Sachsen – darauf hin, dass wir durch die Produktivitätsgewinne der Industrialisierung in der westlichen Welt mehr Geld erwirtschaftet haben, als der Planet an den entsprechenden Ressourcen bereithält. Es ist unser Reichtum, der die Erde überstrapaziert. Es wäre auch ein sehr merkwürdiger Zufall, wenn das mit den verfügbaren Geldmitteln zu kaufende Gut sich harmonisch mit den ökologischen Möglichkeiten des Planeten vertragen würde.

Was wir vom Werkbund heute lernen können: Wieder einen Diskurs über die Dinge des täglichen Lebens anzustoßen. Anstatt in einer Vergangenheit zu schwelgen, die so nie existiert hat, den Blick in die Zukunft zu richten, denn die Industrialisierung soll und wird nicht weggehen. Ein neuer Umgang mit der Warenwelt wäre einzuüben: Nicht der Markt soll das letzte Wort haben, sondern denkende und fühlende Menschen.

Die offene Frage ist, wie man so reich ist.


Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Ein Bund gegen den Schund

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