In den vergangenen zehn Jahren habe ich schon bei zwei Gelegenheiten bei Krautreporter darüber nachgedacht, ob gerade eine neue sexuelle Revolution im Gange ist. Beziehungsweise: Ob wir nicht eine neue Revolution brauchen. Ich glaube, es ist Zeit, ein drittes Mal darüber nachzudenken. Diesmal ist die Revolution aber eine ganz andere.
Bei Revolutionen geht es immer auch um Freiheit. Sexuelle Befreiung bedeutete in der Entwicklung der letzten Jahrzehnte vor allem zwei Dinge: Erstens, dass Menschen überhaupt Sex haben durften, der nicht Fortpflanzung und ehelichen Pflichten dient. Einfach nur aus Lust und Freude. Zweitens, dass sie mit den Menschen schlafen konnten, auf die sie Lust hatten – egal welchen Geschlechts. Nebenbei wurden Kinks und Vorlieben enttabuisiert, nach dem Prinzip: Solange zwei Erwachsene freiwillig zustimmen, ist es okay. Alles erlaubt, was Spaß macht.
Lust im 21. Jahrhundert ist – schwierig?
Die dritte Welle, die ich beobachte, geht in eine unerwartete Richtung. Wieder geht es um Selbstbestimmung. Aber diesmal bedeutet sie: das Recht, keinen Sex zu haben. Sie kündigt sich schon länger an. 2014 zeigte eine repräsentative Studie unter US-Amerikaner:innen, dass die Menschen viel weniger Sex hatten als vor 20 Jahren. Das galt besonders für jüngere Menschen. Eine Langzeitstudie der Universität von 2016 zeigt ein ähnliches Ergebnis für die Menschen in Deutschland.
Noch früher, ungefähr seit den 1990ern, gab man für solche Phänomene der modernen Arbeitswelt die Schuld. Es gab die Vorstellung, dass Menschen im modernen Leben zu viel arbeiteten und ihr Liebesleben und ihre Freizeit zu kurz kamen. Das nannte man „overworked and underfucked“ (was man mit „überarbeitet und untervögelt“ übersetzen könnte). Gut möglich, dass dieses Problem nicht kleiner geworden ist. Die Sexualpädagogin Emily Nagoski sagt:
„Lust entsteht nur unter ganz bestimmten Umständen, und die postindustrielle Welt des 21. Jahrhunderts schafft diese Umstände nicht sehr oft“, sagte sie. „Wir sind alle überwältigt, erschöpft, gestresst. Da muss man sich natürlich anstrengen, um aus dem alltäglichen Gemütszustand in einen sexy Gemütszustand zu gelangen.“
Andere Forschungsergebnisse verweisen wenig überraschend darauf, dass unsere Handy- und Internetnutzung Menschen voneinander isoliert und der mentalen Gesundheit schadet, was wiederum zu weniger Begegnungen im realen Leben und weniger Lust auf Sex führen könnte. In Richtung dieser Gründe geht auch die Argumentation des im März diesen Jahres erschienenen Buchs „Alles kann, nichts läuft“ der Psychologin und Wissenschaftlerin Juliane Burghardt.
Hinzu kommt: Die traditionellen Rollenbilder habe sich verändert – und selbstbestimmte Frauen sind weniger bereit, schlechten Sex zu haben. Dann haben sie lieber keinen. Nagoski glaubt, dass wenig Verlangen nach Sex manchmal ein Beweis für gutes Urteilsvermögen sein kann. „Es ist nicht dysfunktional, wenn man keinen Sex will, den man nicht mag“, sagt sie.
Einladung zu sexueller Entstressung
Das ist sehr wahr, jedoch auch ein bisschen deprimierend. Was aber, wenn hinter den rückläufigen Sexstatistiken noch eine andere Entwicklung im Gange wäre? Zum Beispiel die, dass immer mehr Menschen keine Lust mehr auf sexuellen Performance-Druck haben? Diese Art Sex ist „zu einem verkrampften Projekt geworden, das unbedingt gelingen muss, damit auch wir als gelungen gelten.“ So steht es in einer E-Mail, die ich kürzlich bekommen habe, die das Buch „Not giving a fuck“ der Kulturwissenschaftlerin Beate Absalon ankündigt. Ich habe das Buch noch nicht gelesen, finde die Einladung zu sexueller Entstressung ziemlich sympathisch.
Denn wenn man darüber nachdenkt, ist es ziemlich verrückt, Normen für Sexhäufigkeit definieren zu wollen. Wessen Leben macht eine Statistik wie diese besser, aus der wir lernen, dass 35 bzw. 36 Prozent der befragten Männer bzw. Frauen monatlich sechs bis zehn Mal Sex haben? Ich würde sagen, eine solche Info ist für normale Menschen ungefähr so wertvoll wie diese Statistik, aus der wir erfahren, dass 8,51 Millionen Personen in Deutschland mehrmals in der Woche Naturjoghurt konsumieren. Wenn man kein Sexualwissenschaftler oder Joghurtherstellerin ist, kann man sie einfach ignorieren.
Woran ich gerade arbeite
Ich möchte diesem Thema weiter nachgehen. Möchtest du mir bei der Recherche helfen? Dann mach gerne mit bei meiner Umfrage: Wie wichtig ist Sex für eine Beziehung?
Und sonst?
Meine Kollegin Stella Schalamon hat 2020 in einer Recherche fünf Gründe gefunden, warum Frauen nicht den Sex haben, den sie wollen.
- Frauen wird die Lust auf Sex nicht genau so gestattet wie Männern.
- Haushaltsstress turnt ab.
- Frauen fühlen sich für den Sex ihrer Partner verantwortlich.
- Frauen haben keine Lust auf schlechten Sex.
- Wir müssen noch viel mehr über Sex reden.
Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Theresa Bäuerlein