Ein Mensch steht auf einem Gipfel und reckt die Arme in die Höhe.

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Sinn und Konsum

Kann ich Willenskraft trainieren wie einen Muskel?

Viele denken, Selbstdisziplin sei ein Zeichen einer starken Persönlichkeit. Das stimmt nicht.

Profilbild von Theresa Bäuerlein
Reporterin für Sinn und Konsum

Es gab einen Moment in meinem Leben, an dem sich meine Einstellung zu Radieschen radikal geändert hat. Es passierte an einem kalten, unangenehmen Tag auf einem feuchten Stück Feld im Süden Deutschlands. Ich war zu Besuch auf einem Biohof und half beim Gemüseernten. Ich wühlte mit den Finger im klammen Boden, um Radieschen auszugraben. Das war nicht schwer. Die Radieschen sahen genauso aus, wie ich sie kannte: rote Kugeln mit langen, dünnen Wurzeln. Sie rochen nach Erde und versprachen nichts. Dann hielt ich sie unter einen Wasserhahn, biss in eine der Kugeln und war sekundenlang an einem Ort, von dem ich nicht wusste, dass es ihn gibt: dem Radieschen-Nirwana. Es war irre. Diese Knolle knallte hundertmal mehr als ihre müden Brüder aus dem Supermarkt, sie schmeckte saftig und frisch, bitter, wild und lebendig.

Hätte eine Gruppe Wissenschaftler:innen vor drei Jahrzehnten diese Super-Radieschen zur Verfügung gehabt, wäre eine berühmte wissenschaftliche Studie vielleicht anders verlaufen.

67 hungrige Studierende (31 Männer und 36 Frauen) nahmen dafür Ende der 1990er-Jahre an einem Experiment teil, bei dem es, so sagte man ihnen, um Geschmackswahrnehmung ging. In Wirklichkeit wollten der Sozialpsychologe Roy Baumeister und seine Kolleg:innen aber ihre Willenskraft testen. Bevor die Teilnehmenden eintrafen, wurden im Laborraum in einem kleinen Ofen Schokoladenkekse gebacken, sodass der Duft den ganzen Raum erfüllte. Die Teilnehmer:innen mussten sich an einen Tisch setzen. Vor ihnen lagen ein Haufen Schokoladenkekse und eine Schale mit Radieschen. Ein Teil der Gruppe sollte sich an den Keksen bedienen. Die anderen mussten Radieschen essen. Das war hart für die zweite Gruppe (sie hatten keine Superradieschen). Einige Radieschenesser, berichteten die Forschenden später, nahmen die Kekse in die Hand und rochen sehnsüchtig daran.

Anschließend sollten alle Teilnehmenden ein Rätsel lösen, indem sie geometrische Figuren auf ein Blatt zeichneten, ohne den Stift abzusetzen. Dabei durften sie so viele Versuche machen, wie sie wollten, oder auch komplett aufgeben. Was sie nicht wussten: Das Rätsel war unlösbar. Die Forschenden wollten wissen, wie viel Energie die Teilnehmenden aufwenden würden, bevor sie aufgaben.

Dabei zeigte sich: Die Schokoladenkeksesser hielten mehr als doppelt so lange durch und machten fast doppelt so viele Versuche wie die Radieschengruppe. Sie waren noch motivierter als eine Kontrollgruppe, die weder Schokolade noch Radieschen bekommen hatte. Vielleicht lag es am Zucker in den Keksen. Denn dieser könnte ein wichtiger Schlüssel für Willenskraft sein, wie die Autor:innen der Studie später vermuteten. Die Radieschenesser wiederum schnitten am schlechtesten ab.

Funktioniert unsere Willenskraft wie eine Smartphone-Batterie?

Das leuchtet sofort ein. Die Kekse nicht zu essen, erfordert Geduld. Danach knifflige Rätsel zu lösen, braucht noch mehr Geduld. Also ist es nur logisch, dass die Gemüsegruppe früher aufgab. Aber warum eigentlich? Dahinter steckt ein tieferer Grund als Frust. Als die Forschenden ihre Ergebnisse 1998 veröffentlichen, warfen sie die Art und Weise über Bord, wie man bis dahin Willenskraft verstanden hatte: als Persönlichkeitseigenschaft, die erfolgreiche und mächtige Menschen besonders auszeichnet.

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Baumeister und seine Kolleginnen glaubten etwas anderes: Sie entwickelten die Theorie, dass Willenskraft eine begrenzte Ressource ist. Willenskraft funktioniert demnach wie ein Smartphone-Akku. Du startest deinen Tag mit 100 Prozent. Jedes Mal, wenn du einer Versuchung widerstehst (wie den Gummibärchen in der Büroküche) oder deine Wut im Zaum hältst (wenn deine Internetverbindung streikt), verbrauchst du ein bisschen Batterie. Das geht im Laufe des Tages immer so weiter. Und wie ein Smartphone, das dringend an das Ladegerät muss, brauchst auch du eine Möglichkeit, deinen Selbstkontroll-Akku wieder aufzuladen. Die Energie dafür, so die Theorie, bekommst du zum Beispiel, indem du Mittagsschlaf machst oder etwas Süßes isst.

Wenn Menschen sich nicht zwischendurch aufladen können, erschöpfen sie ihre Willenskraft. Deshalb können sie irgendwann nicht mehr viel davon aufbringen. Baumeister und seine Kollegen nannten das „Ego Depletion“ – „Ich-Erschöpfung“.

Diese Theorie war enorm einflussreich. Sie ist zu einem der meistzitieren Phänomene der Psychologie geworden. Mehr als 8.000 wissenschaftliche Studien beziehen sich laut Google Scholar auf sie, Studien, die sich mit allen möglichen Themen befassen, von ethischem Konsum bis hin zu Straftaten.

Auch wenn die Idee in ihrer ursprünglichen Form mittlerweile umstritten ist, enthält sie Elemente, die immer noch relevant sind. Gleichzeitig hat die Forschung neue Erkenntnisse zu wichtigen Fragen gewonnen: Ist es Schicksal, wie willensstark ich bin? Oder hat jeder Mensch einen Vorrat an Willenskraft, der sich auffüllen lässt? Lässt sich Willensstärke gar trainieren wie ein Muskel?

Die kurze Antwort ist: Es gibt einen überraschenden Faktor, der bestimmen könnte, ob Willenskraft endlich ist oder nicht. Wichtiger noch: Ja, man kann sie vermutlich trainieren.

Ein starker Wille gilt als nobel, das Gegenteil kläglich

In dem Film „Chocolat“ gibt es eine Szene, in der Comte, der geschniegelte Bürgermeister des Dorfs Lansquenet und Gegner süßer Verlockungen, nach langem Süßigkeitenverzicht komplett die Kontrolle über sich verliert und über einen Haufen Pralinen herfällt. Das ist lustig anzusehen, aber auch peinlich, ein Zusammenbruch an Selbstbeherrschung. Niemand will so sein.

https://www.youtube.com/watch?v=vVX4EtCXiv4&t=157s

In einer Umfrage unter Krautreporter-Leser:innen habe ich unter anderem die Frage gestellt „Hättest du gerne mehr Willenskraft?“ Mehr als die Hälfte der 116 Teilnehmenden haben das mit „Ja“ beantwortet. Ich würde das auch tun. Alle wissen, dass Willenskraft wichtig ist. Sie ermöglicht uns einerseits, etwas nicht zu tun, das wir unbedingt wollen, uns aber nicht guttun würde. Andererseits brauchen wir sie, um unbeirrt einem Ziel zu folgen. Willenskraft ist die Fähigkeit, innere Widerstände zu überwinden.

Eine Hauptmethode, um sie zu messen, ist eine 2004 erstmals veröffentlichte Selbstkontrollskala. Darin sollen die Teilnehmer:innen Aussagen wie „Ich kann Versuchungen gut widerstehen“ und „Andere würden sagen, dass ich eine eiserne Selbstdisziplin habe“, zustimmen oder ablehnen. Menschen, die auf dieser Skala gut abschneiden, haben bessere Beziehungen, schaffen es eher, auf ungesundes Essen und Alkohol zu verzichten, schneiden in der Schule besser ab und sind allgemein glücklicher. Eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2012 mit mehr als 32.648 Teilnehmer:innen fand Belege für diese Zusammenhänge.

Auch die Teilnehmer:innen meiner Umfrage sagten, dass sie nur mithilfe von Willenskraft wichtige Dinge geschafft hatten: Nicole hat es untrainiert unter die Top 5 eines Hürdenlaufs geschafft, Franziska hat den Physikleistungskurs bestanden, Wiebke ein Buch geschrieben. Und Elsa sagt, ihre Willenskraft habe sie davon abgehalten, kriminell zu werden.

Statt wie der pralinenfutternde Comte wären die meisten lieber wie Diana Nyad, die von Kuba nach Florida geschwommen ist, oder wie David Goggins, der noch mit kaputten Knochen Marathon laufen kann. Ein starker Wille, der Grenzen durchbricht, gilt als nobel, das Gegenteil als kläglich.

Aber was, wenn Comte eigentlich sinnvoll gehandelt hat? Wenn sein Körper sich genau das geholt hat, was er brauchte?

Warum dein Hirn Zucker will

Vor Baumeisters Forschung wurde Willenskraft als stabile Persönlichkeitseigenschaft angesehen, die man hat oder nicht, unabhängig davon, wie es einem gerade geht oder welche Ressourcen man zur Verfügung hat. Baumeister und sein Team änderten das. Sie brachten eine physiologische Komponente in die Diskussion. Willenskraft aufzubringen ist demnach nicht nur psychisch anstrengend, sondern körperlich zehrend. Das Gehirn braucht als Hauptenergiequelle Glukose, und Aufgaben wie Selbstkontrolle, die eine starke kognitive Kontrolle erfordern, können den Blutzuckerspiegel senken.

Tatsächlich gibt es Studien, die sowohl die Theorie der Ich-Erschöpfung stützen, als auch den Einfluss des Blutzuckerspiegels auf Selbstkontrolle. Eine Meta-Analyse von 2010, die 83 Studien betrachtete, konnte bestätigen, dass Ich-Erschöpfung signifikante Auswirkungen auf den Blutzuckerspiegel hat. Andere Studien bekräftigten diesen Zusammenhang weiter: In einer Studie von 2011 etwa mussten die Teilnehmenden Selbstkontrollaufgaben durchführen, wie den sehr schwierigen Stroop-Test. Dabei bekommen die Teilnehmenden Wörter wie „Rot“, „Blau“ oder „Grün“ zu sehen, die aber in einer Farbe gedruckt sind, die nicht dem Wort entspricht. Das Wort „Rot“ kann zum Beispiel in blauer Farbe gedruckt sein. Die Teilnehmenden müssen dann die Farbe nennen, in der das Wort gedruckt ist.

Das ist erstaunlich schwierig, weil das Gehirn automatisch versucht, das Wort zu lesen, statt sich auf die Farbe zu konzentrieren. So entsteht ein Konflikt im Gehirn und es braucht Willenskraft, ihn zu überwinden (hier kann man den Test sehen). Ein Teil der Teilnehmenden bekam nach der Selbstkontrollaufgabe ein zuckerhaltiges Getränk, die anderen einen süß schmeckenden, aber zuckerfreien Placebotrunk. Anschließend mussten sie weitere Aufgaben bearbeiten, die starke kognitive Kontrolle erforderten. Wer Zucker getrunken hatte, schnitt dabei anschließend besser ab.

Kann es so einfach sein? Durchaus. Das meint zumindest der Wissenschaftsjournalist John Tierney, der gemeinsam mit Baumeister 2011 das Buch „Die Macht der Disziplin“ geschrieben hat (die deutsche Version ist 2022 erschienen). Ein Zeichen dafür, dass unsere Willenskraft erschöpft ist, sei demnach, wenn wir uns gereizter fühlen oder es schwieriger finden, Versuchungen zu widerstehen. Das ist der Moment, in dem wir unüberlegte Nachrichten schreiben, eine Diät abbrechen oder vor dem Fernseher zusammenbrechen. Das Gegenmittel? „Versuchen Sie sich mit Glukose zu versorgen“, riet Tierney in einem Interview.

Es wäre eine elegante Lösung: Einfach immer eine Limo dabeihaben oder einen Schokoriegel und genau dann, wenn die Willenskraft nachlässt, Zucker nachlegen. Aber erstens wäre das ziemlich ungesund. Und zweitens sind Menschen eben doch keine Smartphone-Batterien.

Ein Drittel Cookie reicht leider

Zum einen überschätzt man schnell, wie viel Extra-Energie das Gehirn bei anstrengenden kognitiven Leistungen braucht. Es gibt dazu eine bekannte Rechnung: Sie besagt, dass das Gehirn, obwohl es nur zwei Prozent des Körpergewichts ausmacht, zwanzig Prozent der Energie des Körpers verbraucht. Das klingt viel, für einen durchschnittlichen Erwachsenen sind das aber nur etwa 0,3 Kilowattstunden (kWh) pro Tag, erklärt Oliver Baumann, der an der Bond University in Australien Psychologie lehrt. Das ist zwar mehr als das 100-Fache dessen, was ein typisches Smartphone täglich benötigt, entspricht aber nur 260 Kalorien pro Tag. Ein angestrengt denkendes Hirn wiederum braucht extra Energie – ein bisschen. Ewan McNay von der University of Albany, der zu dieser Frage geforscht hat, schätzt, dass ein auf Hochtouren denkendes Gehirn in acht Stunden etwa 100 Kalorien extra verbraucht. Das entspricht etwa einem Drittel Schoko-Cookie von McDonald’s.

Hinzu kommt ein weiterer Faktor, der beeinflusst, wie schnell oder langsam sich unsere Willenskraft erschöpft. Und hier wird es wild: Wenn man sich Willenskraft wie eine Batterie vorstellen will, müsste es eine denkende Batterie sein.

Alles nur in deinem Kopf?

Carol Dweck, die an der US-amerikanischen Universität Stanford Psychologie lehrt, und ihre Kolleg:innen konnten in einer weiteren Studie bestätigen, dass Willenskraft eine begrenzte Ressource ist – aber nur dann, wenn man daran glaubt. Ihr Team gab Proband:innen zunächst entweder eine einfache Aufgabe (sie mussten etwa alle „e“-Buchstaben in einem Text durchstreichen) oder eine schwierige Aufgabe, für die sie sich stark konzentrieren mussten und keine Fehler machen durften.

Wenn die erste Aufgabe kognitiv leicht war, schnitten die Teilnehmer:innen bei der schwierigen Aufgabe gut ab. War die erste Aufgabe jedoch schwierig, machten sie bei der nächsten viel mehr Fehler – jedoch nur dann, und das ist wichtig, wenn sie davon überzeugt waren, dass ihre Willenskraft begrenzt war. Teilnehmende wiederum, die das nicht glaubten, machten auch bei der zweiten schwierigen Aufgabe nur wenige Fehler.

Willenskraft war demnach Kopfsache, folgerte das Team um Dweck. Und jeder Mensch konnte dazu gebracht werden, die eigene Willenskraft für weniger begrenzt zu halten. Um das zu testen, ließen sie die Teilnehmenden vor einer schwierigen kognitiven Aufgabe Aussagen wie diese lesen: „Manchmal kann die Arbeit an einer anstrengenden geistigen Aufgabe dazu führen, dass man sich für weitere herausfordernde Aktivitäten gestärkt fühlt.“ Personen, die das lasen, machten anschließend nur halb so viele Fehler wie Personen, die zuvor Aussagen über begrenzte Willenskraft lasen.

In einem Artikel lieferte Dweck dafür folgende Erklärung: „Menschen, die glauben, dass ihre Willenskraft begrenzt ist, halten Ausschau nach Anzeichen von Müdigkeit. Wenn sie Müdigkeit feststellen, lassen sie nach. Menschen, die die Botschaft erhalten, dass die Willenskraft nicht so begrenzt ist, fühlen sich vielleicht müde, aber das ist für sie kein Zeichen, aufzugeben – es ist ein Zeichen, tiefer in sich zu graben und mehr Ressourcen zu finden.“

Willenskraft ist ungerecht verteilt

Man sollte wissen, dass Willenskraft physiologische und psychologische Komponenten hat, die wir beeinflussen können. Aber jede Theorie über Willenskraft läuft Gefahr, in einen pop-psychologischen Lifehack übersetzt zu werden. Deine Selbstbeherrschung lässt nach? Iss Traubenzucker, damit dein Blutzuckerspiegel ansteigt! Du schaffst es nicht, stundenlang konzentriert anstrengende Denkarbeit zu leisten? Du bist gar nicht müde, du hast nur die falsche Einstellung!

So einfach ist es nicht. Sehr ermächtigend dagegen ist es, sich Willenskraft nicht als unveränderliche Charaktereigenschaft und Schicksal vorzustellen. Denn natürlich gibt es Menschen, die willensstärker sind als andere. Eine Metaanalyse von 2019, die mehr als 30.000 Zwillinge betrachtet hat, kam zu dem Schluss, dass die Fähigkeit zur Selbstkontrolle teilweise genetisch bedingt ist. Und Versuche wie das berühmte Marshmallow-Experiment, bei dem Kinder der Versuchung widerstehen müssen, ein Stück Schaumzucker zu essen, damit sie ein zweites bekommen, liefern unterschiedliche Ergebnisse – je nachdem, in welchem Umfeld die Kinder aufgewachsen sind. Kinder aus ärmeren Verhältnissen haben tendenziell größere Schwierigkeiten, sich bei Süßigkeiten zu beherrschen, weil sie Mangel gewöhnt sind.

Das ist ungerecht, weil Menschen, die gut in Selbstbeherrschung sind, tatsächlich im Leben mehr Erfolg haben. Die gute Nachricht ist, dass neuere Forschungen eine Struktur im Gehirn gefunden haben, die eine entscheidende Rolle bei der Steuerung unserer Ausdauer und Willenskraft spielt. Und diese lässt sich beeinflussen.

Dummerweise darf es keinen Spaß machen

Neuere Studien, die sich damit beschäftigen, wie Willenskraft im Gehirn funktioniert, zeigen, dass eine bestimmte Struktur immer wieder auftaucht: der anteriore mittlere cinguläre Cortex (aMCC), ein Bereich der Großhirnrinde, der im vorderen Teil des Gehirns zwischen den beiden Hemisphären liegt. Diese Struktur spielt eine wichtige Rolle bei der sogenannten Allostase. Das ist der Prozess, mit dem das Gehirn das Energiebudget des Körpers managt. Laut der Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman-Barrett ist genau das, nicht etwa das Denken, der wesentliche Job des Gehirns. Wie eine Surferin, die auf einem Surfbrett steht und dabei je nach Wellengang ständig ihren Körper ausbalanciert, sorgt Allostase dafür, dass wir stabil bleiben, auch wenn sich das Leben ständig ändert. Das Gehirn wertet dafür Daten aus dem Umfeld des Körpers und dessen Innerem aus und gleicht sie mit früheren Erfahrungen ab. So versucht es vorauszusagen, wie wir uns am besten verhalten, um unser Überleben zu sichern. Sagen wir, du bist draußen unterwegs und die Sonne brennt bei 30 Grad im Schatten. Das Gehirn nimmt wahr, dass deine Körpertemperatur ansteigt und sorgt dafür, dass du zu schwitzen beginnst, damit du nicht überhitzt.

Das aMCC-Areal ist wie ein Kontrollzentrum, das entscheidet, wie und wohin die Energie verteilt wird, die wir zur Verfügung haben, wie viel Glukose welcher Gehirnbereich bekommt, um eine bestimmte Aufgabe zu schaffen. Deswegen ist der aMCC für Willenskraft so wichtig: Er sorgt dafür, dass wir die Energie haben, um Ziele zu verfolgen, wie einen Marathon zu laufen, eine komplizierte Matheaufgabe durchzurechnen oder einen Haufen Pralinen links liegen zu lassen. Eine Übersichtsarbeit von 2020 kam zu dem Schluss, dass Menschen mit einer ausgeprägten aMCC-Struktur und -Funktion mehr Durchhaltevermögen im Leben haben. Eine Störung des aMCC andererseits steht laut den Autor:innen dieser Studie mit Apathie und anderen Motivationsproblemen in Verbindung und könnte auch mit Essstörungen, Depressionen und Demenz zusammenhängen.

Dem Neurowissenschaftler und Selbstoptimierungsguru Andrew Huberman nach können wir unsere Willenskraft steigern, indem wir unseren aMCC trainieren. Und zwar, indem wir uns mit Aufgaben beschäftigen, die uns schwerfallen. Anstrengender Sport etwa. Huberman sieht besonders eine Studie als wesentlichen Beleg dafür. Darin wollten Forschende herausfinden, ob regelmäßiges Ausdauertraining dem geistigen Abbau bei alternden Menschen entgegenwirken kann. Dafür teilten sie 59 Erwachsene im Alter von 60 bis 79 Jahren in zwei Gruppen ein: Eine Gruppe machte über sechs Monate hinweg drei Stunden die Woche Ausdauertraining (hauptsächlich Gehen), während eine Kontrollgruppe nur Dehnungs- und Flexibilitätsübungen machte. Die Teilnehmenden wurden vor und nach dem Trainingsprogramm mittels MRT untersucht, um Veränderungen im Gehirnvolumen zu messen.

Bei den Teilnehmenden, die Fitnessstraining gemacht hatten, beobachteten die Forscher:innen eine signifikante Zunahme des Gehirnvolumens, sowohl in der grauen als auch in der weißen Substanz. Der Hauptort, an dem sich die Gehirne der Fitness-Gruppe veränderten, war der aMCC. Die Gehirne der Stretching-Gruppe zeigten keine solchen Veränderungen.

Das Ergebnis dieser Studie bedeutet jedoch nicht, dass drei Stunden Ausdauersport in der Woche automatisch die Größe oder Aktivität des vorderen aMCC verbessern. Der Punkt ist, dass die Teilnehmenden an dieser Studie vorher nicht regelmäßig Sport gemacht hatten. Sie mussten also jede Woche dreimal den Willen und die Motivation für anstrengende Trainingseinheiten aufbringen. Die Stretching-Gruppe hatte es vergleichsweise gemütlich.

Laut Huberman hilft es unserer Willenskraft demnach überhaupt nicht, wenn wir kalt duschen, zehn Kilometer joggen oder fasten, wenn uns diese Tätigkeiten Spaß machen. Für den aMCC ist die Überwindung des inneren Widerstands entscheidend.

Das ist eine Botschaft, die vielleicht nicht dem aktuellen Zeitgeist entspricht, bei dem es darum geht, sich so wenig wie möglich zu zwingen, dafür die eigenen Grenzen mehr zu achten und Gefühle wie inneren Widerstand ernst zu nehmen. Tatsächlich ist Willenskraft nur um ihrer selbst willen nicht besonders wertvoll und kann sogar schaden. Wie diese Übersichtsarbeit gezeigt hat, ist etwa bei Menschen, die unter Magersucht leiden, die Aktivität des aMCC erhöht.

Eine wichtige Frage ist also, wofür man überhaupt willensstark sein will – und wann es lohnt, sich selbst zu überwinden. Keine Laborsituation kann das beantworten. Das kannst nur du.


Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger

Kann ich Willenskraft trainieren wie einen Muskel?

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