Seit 2009 arbeite ich an der Lösung des Regalproblems. Damals bin ich zum vierten Mal umgezogen und zwar in eine Wohnung mit einem schönen Blick über Berlin, aber deutlich weniger Platz und zudem ohne Keller. Also musste ich wegwerfen, wie ich noch nie in meinem Leben weggeworfen hatte. Ich neigte damals noch nicht zur Nostalgie, wollte aber trotzdem die alten Zeitschriften aus den 1990ern behalten. Ausgaben der technikoptimistischen „Wired“, das zwar langweilige, aber wunderschöne Frankfurter Allgemeine Magazin und ein paar Skateboardmagazine, in der Hoffnung angeschafft, es mal über den Ollie hinaus zu schaffen. Die sperrige Wohnwand aus der vorigen Wohnung passte nicht mehr in die neue und bot zu wenig Platz. Aber jetzt ein kleineres, anderes Möbel kaufen, das nach dem nächsten Umzug wieder nicht passen würde? Auch war das alte ja noch gut. Es widerstrebte mir, ein neues Möbelstück anzuschaffen, nur weil das bisherige zu groß oder zu klein war. Ich wollte das eine Regal kaufen, das dieses Problem auf Dauer löst; ich wollte mein Regalproblem lösen und zwar richtig.
Das sei typisch Deutsch, sagt meine amerikanische Freundin Beth. Es sei typisch Deutsch zu glauben, es gebe zu jedem Problem eine richtige und nur eine richtige Lösung. Aber eine Sache richtig und für die Dauer zu machen, anstatt sich durchzuwurschteln – das ist doch etwas Gutes, oder?
Es gibt zumindest einen Begriff dafür: Nachhaltigkeit. Die Dinge sollen so gebaut werden, dass sie lange halten, und sie sollen so gebaut werden, dass man sie ohne wirtschaftliche, ökologische oder moralische Probleme dauerhaft so bauen könnte. Man sollte keine oder wenig endliche Ressourcen verbrauchen, Mensch, Tier und Umwelt nicht schädigen. Die Landwirtschaft des frühen 18. Jahrhunderts schenkte uns diesen Begriff für ein einfaches Prinzip: Fälle nie mehr Bäume, als nachwachsen können. Dagegen kann schlechterdings niemand etwas haben.
Nachhaltigkeit ist ein ethisches Prinzip: Lebe nicht auf Kosten künftiger Menschen. Dummerweise ist es gar nicht kompatibel mit einem Wirtschaftsleben, das oft nur von Quartal zu Quartal, von Geschäftsbericht zu Geschäftsbericht denkt.
Das ist erstmal merkwürdig, denn es gibt wenig, über das sich die Kundschaft so einig ist wie die Bedeutung der Nachhaltigkeit. Laut einer Studie der Unternehmensberatung PWC achten „59 Prozent der Verbraucher:innen beim Einkaufen immer oder zumindest häufig auf die ökologische, ökonomische oder soziale Nachhaltigkeit von Händlern und Herstellern. Bei den unter 35-Jährigen sind es sogar zwei Drittel.“ Nachhaltigkeit ist ein übergeschmackliches Qualitätskriterium: Nachhaltigere Produkte sind für die Mehrheit die besseren Produkte.
Warum kriegen wir sie dann nicht?
Das Prinzip ist eigentlich sofort einleuchtend: Nur weil ich früher geboren wurde, darf ich mir nicht mehr nehmen. Denn so wenig wie ich mich dazu entschieden habe, im 20. Jahrhundert geboren zu werden, haben sich später Geborene dafür entschieden, erst im 21. Jahrhundert zur Welt zu kommen. Ein später Lebender darf nicht schlechter gestellt werden als ein früher Lebender. Um diesem Prinzip entsprechend zu leben, muss sich der eigene moralische Horizont weit über die eigene Lebenszeit erstrecken. Es ist schwer genug, das Richtige zu tun, aber diesen Anspruch als Einzelperson einzulösen, ist praktisch unmöglich.
Von der „geplanten Obsoleszenz“ hat man schon öfter gehört, also dem absichtsvollen Verschleiß von Produkten. Wenn Druckerpatronen nach einer festgelegten Anzahl Seiten behaupten, sie seien leer, obwohl noch Tinte für viele hundert Blatt drin ist, dann ist das nur ein besonders freches Beispiel. Waschmaschinen aus den 1970ern funktionieren klaglos 30 Jahre lang, bei den Nachfolgegeräten aber gibt nach zehn Jahren die Pumpe auf. Die neuen Maschinen sind leiser und sehen eher nach Unterhaltungselektronik als nach Militärtechnik aus, vor allem aber verbrauchen sie viel weniger Strom und Wasser, was für ihre Nachhaltigkeitsbilanz spricht. Dafür gehen sie oft früher kaputt. Das ergab eine Langzeitstudie des Umweltbundesamtes. Der Anteil der untersuchten Elektrogeräte, die schon in den ersten fünf Jahren kaputtgehen, hat sich zwischen den Jahren 2004 und 2012 mehr als verdoppelt (von 3,5 auf 8,3 Prozent). Und während viele Geräte in der Benutzung immer sparsamer werden, sieht die Studie praktisch keine Fortschritte bei der trivialsten Nachhaltigkeitsmaßnahme: der schieren Lebensdauer eines Produkts. Die nimmt nämlich nicht zu.
Wir erleben eine merkwürdige Scheinnachhaltigkeit. Dafür gibt es Gründe.
Wir erleben eine merkwürdige Scheinnachhaltigkeit
Einen davon kennen wir als bunte Pfeile und den Buchstaben von A bis G (früher A+++ bis F). Die Aufkleber auf Elektrogroßgeräten sollen die Kundschaft zum Kauf eines effizienten Geräts shamen. Niemand will dabei erwischt werden, wie er einen aasenden Kühlschrank mit Note D heimkarrt (vor allem will man weniger für Strom zahlen, ist ja klar). In der EU sind die Aufkleber, die über den Energieverbrauch von Elektrogroßgeräten informieren, Pflicht. Sie bewerten leicht messbare und wichtige Größen, neben dem Stromverbrauch gegebenenfalls auch: Wie viel Wasser schluckt es, wie laut ist es, wie viel geht rein? Was die Labels nicht sagen: Wie lange hält das Gerät?
Das ist auch deutlich schwerer zu ermitteln. Die Stiftung Warentest beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit diesem Problem. Sie lässt Prüfzentren Apparate bauen, die andere Apparate testen – wie einen Dauerprüfstand für Fahrräder. Diese Tests durchzuführen, ist ein gigantischer finanzieller, logistischer und technischer Aufwand, der oft nur in internationaler Zusammenarbeit von Verbraucherschutzorganisationen gestemmt werden kann.
Und auch wenn die Bewertungskriterien, die die Stiftung anlegt, für alle getesteten Produkte einer Kategorie gleich sind, sind sie natürlich willkürlich festgelegt. So musste jede bis ins Jahr 2022 getestete Waschmaschine exakt 1.640 Waschgänge durchlaufen, um den sogenannten Dauertest zu bestehen. Das soll einer Nutzungsdauer von neun Jahren entsprechen. Seit 2023 waren es dann 1.840 Wäschen, das sollen zehn Jahre Waschen sein. Sollte eine Waschmaschine, von der man ausgehen kann, dass sie zehn Jahre hält, mit „gut“ bewertet werden? Warum ist das nicht „mangelhaft“? Immerhin 54 Prozent der Deutschen lassen sich von einem negativen Urteil der Stiftung „eher beeinflussen“, zwölf Prozent „auf jeden Fall“. Wenn es also eine Einrichtung in Deutschland gibt, die durch schärfere Kriterien die Produktion haltbarerer Produkte erzwingen könnte, dann die Stiftung Warentest. Vor allem, wenn man bedenkt, dass viele Branchen ja durchaus imstande sind, robustere Produkte zu bauen: In dem französisch-spanischen Dokumentarfilm „Kaufen für die Müllhalde“ werden zum Beispiel Glühlampen, Nylonstrumpfhosen und Drucker genannt, bei denen es als gesichert gilt, dass sie absichtlich schlechter sind als sie sein müssten. Und „Absicht“ ist natürlich ein sehr diffuser Begriff: Sind nicht umgesetzte Ideen, die die Lebensdauer von Produkten verlängern könnten, schon geplante Obsoleszenz? „Schubladenwissen“ heißen solche Konzepte, die ungenutzt in den Ablagen der Unternehmen liegen.
Doch tragen nicht nur die Hersteller Verantwortung; die Kundschaft neigt dazu, obwohl sie beteuert, nachhaltig konsumieren zu wollen, funktionstüchtige Geräte wegzuwerfen. Das ist die „psychologische Obsoleszenz“: Der Full-HD-Fernseher ist noch gut, muss aber dem 4K-Modell weichen. Es ist sehr schwer, nachhaltig zu konsumieren, wenn man immer neuen Verlockungen ausgesetzt ist. Und dann ist da natürlich das bekannte Problem, dass Reparaturen teurer sind als eine Neuanschaffung, oft, weil Produkte so entworfen werden, dass Reparaturen praktisch nicht vorgesehen sind. Bei dieser „ökonomischen Obsoleszenz“ passiert aber gerade etwas: Die EU hat nach Jahren der Beratung ein, wenn auch ziemlich industriefreundliches Recht auf Reparatur beschlossen.
Den Planeten vollzumüllen, schafft Arbeitsplätze
Die Welt ist so eingerichtet, dass Kurzfristigkeit belohnt wird, und das ist ein Problem. Wie sollen wir nachhaltig konsumieren, wenn Unternehmen motiviert sind, schnell Gewinne einzufahren und das immer wieder, so dass Produkte nicht zu lange halten dürfen. Und sollten die Produkte noch gut sein, müssen eben neue Bedürfnisse her. Den Planeten vollzumüllen, schafft Arbeitsplätze. Viele Jobs in Marktforschung, Marketing, Werbung und Vertrieb existieren nur, um uns zu vermitteln, dass wir das nächste große Ding brauchen. Und in einer individualistischen Gesellschaft hat sich etabliert, sich der eigenen Individualität (oder auch Klassenzugehörigkeit) durch Besitz bestimmter Dinge zu versichern.
Als ich das vierte Mal umzog, erinnerte ich mich an eines der Produkte, die offenbar, trotz Kapitalismus und allem, für die Dauer entworfen wurden: das Regalsystem der Firma Ulrich Schärer Möbelbausysteme, besser bekannt als „USM Haller“, nach dem Schweizer Architekten Fritz Haller, der es in den 1960er Jahren erfand. Aus verchromten Stahlrohren und pulverbeschichteten Blechen geht es praktisch nicht kaputt und kann beliebig oft auseinander- und wieder (anders) zusammengebaut werden. Aus diesen Teilen gebaute Möbel überstehen jeden Umzug klaglos. Manche sagen, das sind Notarmöbel und das stimmt auch, aber was könnte gegen etwas seriöse Verbindlichkeit im Wohnzimmer einzuwenden sein. Man wird schon nicht gleich anfangen, Verträge zu beurkunden.
Was hingegen durchaus ein Problem ist: Diese Möbel sind teuer. Ein einfaches Bücherregal kann sich leicht auf mehrere tausend Euro läppern. Nach meinem damaligen Umzug habe ich dennoch angefangen, mir ein Regal aus USM-Teilen zusammenzubauen. Weil ich mir kein ganzes auf einmal leisten konnte, habe ich es mir Rohr für Rohr, Blech für Blech zusammengekauft, über die Jahre, via Ebay oder Kleinanzeigen.de, manchmal aus Konvoluten pleite gegangener Firmen, die womöglich (nicht nur) für ihre Möblierung ein bisschen zu viel ausgegeben hatten. Sehr wenige Teile habe ich neu kaufen müssen. Erst war das Regal nur 75 Zentimeter breit, mittlerweile bin ich bei über drei Metern. Das über die Jahre mitwachsende Möbel, mit dem ich mittlerweile zwei Mal umgezogen bin, hat mein Regalproblem gelöst, ein für allemal – und das fast nur mit Material, das schon vor mir anderswo im Einsatz war; es musste fast nichts neu produziert werden.
In der Zwischenzeit sind diese spröden Systemmöbel cool geworden, fast ein bisschen zu cool sogar. Sie sind auf Instagram angekommen, stehen in Alt- wie Neubauten und vertragen sich mit Ikea genauso wie mit Antiquitäten. Als Influencer für Möbel aus Stahlrohren falle ich leider dennoch aus. Ich las nämlich bei der Recherche für diese Reihe, dass sich Stahl zwar zu fast 100 Prozent recyceln lässt, aber in der Produktion erhebliche Mengen Kohle verbraucht, um das Ausgangsprodukt Eisenoxid chemisch zu reinigen. „Etwa sieben Prozent der weltweiten Kohlendioxid-Emissionen gehen auf die Stahlbranche zurück“, berichten etwa die Klimareporter. Es beschleicht mich der dunkle Verdacht, ich hätte mein Regalproblem zwar gelöst, aber nicht mit der richtigen Lösung. Wäre ein Regalsystem aus Holz nicht vielleicht doch besser gewesen? Warum habe ich das nie in Erwägung gezogen und mich stattdessen treuherzig dem Blech an den kalten Hals geworfen?
Ich wollte mich vom Konsum freikaufen
Mir war es damals noch nicht klar, aber das paradoxe Projekt, das ich zur Lösung meines Regalproblems begonnen hatte, diente einem so klaren wie unerreichbaren Ziel: Ich wollte, dass das Thema Konsum endlich vom Tisch ist. Ich wollte mich vom Konsum freikaufen. Nicht nur die Langlebigkeit, natürlich auch die schmerzhaften Kosten und der langwierige Anschaffungsprozess des Regals verbieten eine leichtfertige Aufgabe dieser Investition. Und das mühsame Auf- und Umbauen sorgt für einen psychologischen Bond mit dem Regal (eine Tatsache, die es mit Ikea-Möbeln verbindet).
Was hingegen leichtfertig gekauft wird, wird auch leichtfertiger wieder abgestoßen. Man prüfe nur, wie viele der spontan online gekauften Dinge noch in Benutzung sind. Fiepende Netzteile, T-Shirts mit schnell zerfleddernden Kragen, die einmal genutzte Faszienkugel, die erstaunlich biegsame Bratpfanne, die peinliche Schuhschneekette, die gar nicht mal so universell nutzbare Universalfernbedienung – ich bin wirklich nicht stolz auf meine Onlinekäufe. Und da habe ich die Unzahl nicht gelesener Bücher noch gar nicht mitgezählt. Wie viele Bäume alleine für mein gutes Gefühl sterben mussten, das nächste Buch würde doch bestimmt meine Probleme lösen!
Was könnte man also dem kurzfristigen Konsum, dem kurzfristigen Gewinn, entgegensetzen? Vielleicht müsste man das Problem einmal richtig lösen, systematisch, zentral. Nicht die Last der richtigen Kaufentscheidung dem schwächsten Glied der Kette, der Kundschaft, aufladen. Sondern zentral entscheiden, was produziert wird und wie viel. So in etwa lautete das Versprechen der Planwirtschaft, die eigentlich Zentralverwaltungswirtschaft heißt.
Ikea-Betten für den Klassenfeind
Als die Mauer fiel, war ich zwölf Jahre alt und Westdeutscher. Das Wirtschaftssystem des Ostblocks musste Mangel verursachen, immerhin schickten wir in den 1980ern Pakete mit Kaffee und Kleidern nach Polen und nicht umgekehrt. Aber war die Planwirtschaft nachhaltiger?
Geht man nach der Liebe vieler vormaliger DDR-Bürger:innen zu ihrem unverwüstlichen (meist orangenen) Handrührgerät RG28, ist da vielleicht etwas dran. Das Gerät ist seit dreißig Jahren nicht mehr in Produktion, aber immer noch in vielen Haushalten im Einsatz. Es wurde bereits zu DDR-Zeiten ins Ausland exportiert und auch in der Bundesrepublik über die Versandhändler Otto und Quelle verkauft. Im Jahr 2020 testete die Stiftung Warentest drei rund 40 Jahre alte Exemplare des RG28 und vergab die Note „sehr gut“ für die Belastbarkeit und immerhin ein „gut“ für Sicherheit. Die Geräuschentwicklung sei nicht mehr „up to date“, aber das RG28 hielt den Dauertest durch, während zwei aktuelle Geräte schlapp machten.
In dem Film „Kommen Rührgeräte in den Himmel?“ von 2016 (ja, das DDR-Rührgerät hat seinen eigenen Film) wird das RG28 mit den Worten vorgestellt: „Es gibt noch Dinge, die uns nicht im Stich lassen.“ Der Autor Reinhard Günzler fragt, ob es der Werkstolz der Macher ist, die Identifikation mit dem Produkt, die so ein gutes Produkt hervorbringt. Ist die fragwürdige Beschaffenheit heutiger Industrieprodukte am Ende das Ergebnis der von Marx beschriebenen „Entfremdung des Arbeiters vom Produkt seiner Arbeit“? Das würde sich decken mit der Theorie des US-Historikers David F. Noble, der bereits 1983 schrieb, dass Fachleute aus der (westlichen!) Industrie eigentlich besser wüssten, wohin die technologische Entwicklung gehen sollte, aber den Entscheidungen des Managements ausgeliefert seien, die sie umsetzen müssten, wenn sie ihren Job behalten wollten. So kann natürlich keine Identifikation mit dem Produkt der Arbeit zustande kommen, ganz unabhängig davon, ob einem die Produktionsmittel gehören oder nicht (ich schrieb in Teil 3 dieser Reihe darüber).
Das VEB Elektrogerätewerk Suhl, das das RG28 hergestellt hat, gibt es nicht mehr, aber es war offenbar imstande, Produkte herzustellen, die gleichermaßen auf dem sozialistischen Heimatmarkt erhältlich waren und im internationalen Wettbewerb bestehen konnten. Das war keineswegs der Normalfall. Der Ostblock produzierte zwar durchaus Exportware, aber das waren meist Dinge für den industriellen Gebrauch: Labortechnik, Feinmechanik.
Und Kinderbetten. Für Ikea.
Das erzählte mir Miroslav Demko, der als Ingenieur industriell gefertigte Möbel in einer tschechoslowakischen Fabrik entworfen hatte. Ich sprach mit ihm, weil ich dachte, dass in einer zentral gesteuerten, sozialistischen Planwirtschaft womöglich nachhaltiger produziert wurde, nicht mit Blick auf den schnellen Gewinn, sondern auf das große Ganze. (Spoiler: So einfach ist es nicht.)
Demko ist heute 69 Jahre alt. Er berichtete mir von einem Pakt mit dem Teufel.
Um Möbel (oder überhaupt irgendetwas) industriell fertigen zu können, braucht es sogenannte Fertigungsstraßen. Das sind die Maschinen, die die eigentliche Herstellung großer Mengen von Artikeln ermöglichen. Genau über die hat die Tschechoslowakei aber nicht verfügt. Die Hersteller solcher Anlagen saßen zum Beispiel in Westdeutschland oder in Italien und ließen sich natürlich nur in Devisen (also Westwährungen) bezahlen, nicht in der wertlosen Tschechoslowakischen Krone (deren Wechselkurs übrigens fest an die DDR-Mark gekoppelt war). Sollte eine solche Fertigungsstraße angeschafft werden, musste Westgeld her.
Also fertigte Demkos Fabrik im Auftrag von Ikea Kinderbetten. Da Ikea der Qualität von Ostblocklack nicht traute, lieferten die Schweden die Farbe sicherheitshalber an. Chefingenieur Demko höchstpersönlich wurde zusammen mit anderen Bürokollegen am Wochenende in die Fabrik gerufen, um in Handarbeit für den Klassenfeind Holzstäbchen zu schleifen in die Betten zu stecken, so knapp waren die Fristen, die Ikea gesetzt hatte. Nur bei pünktlicher Lieferung war die volle Zahlung wertvoller Westwährung fällig. Mit diesen Mitteln konnte die Fabrik dann im Westen die Anlagen kaufen, die eine effiziente industrielle Produktion überhaupt erst ermöglicht hat.
Und dennoch waren die so produzierten Waren bizarr teuer. Demko erklärt das mit der staatlich verordneten schlechten Produktivität. „Einen von drei Leuten in der Fabrik haben wir eigentlich nicht gebraucht. Aber man durfte ja niemanden entlassen.“ Ja, die Leute hatten Arbeit, aber ein Drittel von ihnen sinnlose.
Vorauseilender schlechter Geschmack
Die sozialistische Produktentwicklung erzwang die clevere Nutzung knapper Ressourcen, aber eine zentrale Steuerung mit dem Ziel, möglichst gute Produkte zu entwickeln, gab es nicht. Der genormte, ideale, sozialistische Einheitsstuhl, der im gesamten Ostblock zum Einsatz kam, existierte – sehr zu meiner Überraschung – nicht. Ich ging davon aus, dass eine zentral geplante Wirtschaft sehr viel kleinteiliger entscheidet, welche Produkte entwickelt werden. Aber das System war so schon derart ineffizient, dass daran gar nicht zu denken war. Die tschechoslowakischen Möbelfabriken standen im Wettbewerb zueinander, präsentierten auf Messen konkurrierende Waren und der Handel entschied, welche er einkauft. Wettbewerb! Messen! Handel! So etwas gab es also auch in der Planwirtschaft, aber genutzt hat es nichts.
Während der ersten vielleicht zwanzig Jahre ihrer Existenz produzierte die DDR mit Westprodukten vergleichbare Ware. Aber durch die Abschottung vom Weltmarkt veralteten die Produktionsanlagen, wurde der Einkauf von Rohware immer schwerer bis unmöglich. Und unter dem über die Jahrzehnte immer unerträglicher werdenden ökonomischen Druck geschah in der DDR-Wirtschaft, was auch in der Marktwirtschaft passieren würde: Kosteneinsparung durch die Zusammenlegung von Werken.
Den sozialistischen Einheitsstuhl gab es nicht, aber es gab ein Ideal der sozialistischen Gestaltung: Die DDR wollte gute Gestaltung fördern, vergab sogar Designpreise. Aber aus dem guten Ansinnen wurde in den 1980ern eine geschmäcklerische Staatsdoktrin: Weil Staatschef Honecker wollte, dass auch Arbeiter und Bauern einen auf Status und Außenwirkung bedachten Stil zur Schau stellen konnten und sich aus seiner Sicht eine sachliche Gestaltung dazu nicht eignete, verzierten die Designer:innen klassisch-moderner Vasen ihre zeitlosen Objekte mit kitschigen Blumenmotiven. Eigentlich wollten sie Objekte gestalten, die nicht modisch waren, sondern zeitlos. Etwas für die Dauer. Aber sie wollten auch die Jobs in ihrer Fabrik behalten und so übten sie sich in vorauseilendem Gehorsam in der Hoffnung, von den in den 1980ern zunehmenden Werkszusammenlegungen und -schließungen verschont zu bleiben. Es gab also zwar keine zentrale Festlegung auf bestimmte Entwürfe, aber durchaus so etwas wie einen zentralen Geschmack – und er war nicht gut.
Aber was ist denn nun mit der Nachhaltigkeit der Möbel? Mit den meisten Ikea-Möbeln, heißt es, kann man nicht zwei Mal umziehen, weil sie dann auseinanderfallen. Erstaunlicherweise war das beim sozialistischen Schlafzimmer auch so und zwar durchaus absichtsvoll: Im Sozialismus wurde generell viel weniger umgezogen, weshalb Umzugstauglichkeit kein relevantes Kriterium für Möbel war. Halten musste so ein Schlafzimmer, bestehend aus Bett, Nachttischen und Kleiderschrank, dennoch viele Jahrzehnte – nicht zuletzt, weil es viele Monatsgehälter gekostet hat und die Wartezeiten so lang waren. Da die Beschaffung des Rohmaterials immer schwieriger wurde, mussten die sozialistischen Produktdesigner:innen mit weniger Material auskommen. Bis zu einem gewissen Punkt regt der Mangel die Kreativität an, irgendwann dann nicht mehr. Das ökonomische Prinzip aber war in der Planwirtschaft das gleiche wie in der Marktwirtschaft: mit dem geringstmöglichen Einsatz das meiste rausholen.
Ein Staat, der das gesamte wirtschaftliche Geschehen zentral plant und managt, kann rein theoretisch nur nachhaltiger produzieren als ein freier Markt, wenn er das politisch will und die Ressourcen dafür hat. Die DDR hatte offenbar weder den Willen noch die Möglichkeit. Tatsächlich war die Schädigung der Umwelt durch die DDR-Industrie derart katastrophal und durch Smog in Industriegebieten und vergiftete Flüsse offensichtlich, dass die Oppositionsbewegung den Umweltschutz zu einem ihrer zentralen Anliegen machte. Einige der Bürgerbewegungen und Oppositionsgruppen in der DDR schlossen sich während der Wende zum „Bündnis 90“ zusammen, das dann später mit den Grünen fusionierte. Der über die Jahrzehnte anwachsende Erfolg der Grünen ist auch ein Ergebnis der miserablen Nachhaltigkeit der DDR-Wirtschaft.
Nachhaltigkeit für die oberen Zehntausend
Letzten Monat bin ich zum fünften Mal umgezogen. Beim Auspacken fiel mir eine Ausgabe des Magazins der Frankfurter Allgemeinen aus dem Jahr 1993 in die Hände. Ein dünnes, wunderschön gestaltetes Heft, das es nur gab, weil sich kleinformatige Zeitschriften damals schon komplett in Farbe drucken ließen, während das in der großen Zeitung noch nicht ging. So konnten Werbekunden bunte, glanzvolle Anzeigen schalten für Menschen, die „so viel Geld haben, dass es anfängt, Spaß zu machen“. So lautet die Headline einer Anzeige der Deutschen Bank in dem alten Heft. Ich finde auch Anzeigen für mechanische Armbanduhren aus Genf, die man „eigentlich […] schon für die nächste Generation [bewahrt]“, ein Nachhaltigkeitsversprechen für die oberen Zehntausend.
Ich habe dieses merkwürdige Magazin, das jeden Freitag der elterlichen Zeitung beilag, damals verschlungen. Die meisten Artikel fand ich langatmig und blöd, aber das Layout, die Fotos, die tollen Schriften, das schöne Papier fand ich toll – und auch die Werbung. Ich habe damals die Schülerzeitung gemacht und wollte, dass die auch irgendwann mal so gut aussieht, dass man sie aufbewahren möchte. Eine Sache richtig und für die Dauer zu machen, anstatt sich durchzuwurschteln – das ist doch etwas Gutes, oder?
Beim Durchblättern entdecke ich eine Anzeige für das Stahlrohr-Möbelbausystem von USM. Die Möbel sahen aus wie heute, nur in langweiligeren Farben. Gezeigt wird auch kein cooles Hipsterheim, sondern ein 90er-Jahre-Büro, vielleicht ein Notariat. Mit 15 war ich gerade in die Altersgruppe gerutscht, die man „die werberelevante Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen“ nennt. Womöglich bin ich in einer prägenden Phase einfach viel Werbung für Notarmöbel ausgesetzt gewesen und als ich sie mir dann, langsam zwar und nur in kleinen Teilen, leisten konnte, habe ich nicht mehr nachgedacht.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert