Während meiner ersten Stunde Konfirmandenunterricht wurde mir aus dem Hof des Gemeindehauses das Rad geklaut. Ich nahm das als willkommenes Zeichen, nicht mehr hinzugehen.
In den Jahren danach habe ich schleichend einen neuen Glauben angenommen: Ich glaubte – ohne Zweifel und ohne schon einen Begriff dafür zu haben – an den Fortschritt. Es klingt wie die halb ausgedachte Biografie eines FDP-Schnösels, und mit 16, 17 war ich genau das. Es gibt Fotos von dem jungen Christian Lindner, die könnten mich zeigen (nur mit weniger Haargel). Ich besuchte damals eine Wahlkampfveranstaltung mit Guido Westerwelle, weil er im Fernsehen etwas gesagt hatte, was ich nachvollziehen konnte. Der damalige FDP-Generalsekretär sagte, es sei in Deutschland zu schwierig, eine Firma zu gründen.
Das fand ich auch! Ich hatte es nämlich gerade erfolglos mit einer Softwarefirma versucht. Im Weg stand mir meine schier unerträgliche Minderjährigkeit. Die zuständige Behörde in meiner Heimatstadt Frankfurt am Main lehnte die Gründung ab und mutmaßte irgendeinen versuchten Steuertrick meiner Eltern. Meine Eltern sind klassische Musiker, haben keine Ahnung von Steuertricks und wünschten sich vor allem, ich würde etwas Richtiges machen, was für sie bedeutete: etwas Künstlerisches, und nicht eine Firma gründen, zumal eine für irgendwas mit Computern.
Diese Firma wollte ich zusammen mit zwei Schulfreunden gründen, weil wir eine Software entwickelt hatten, die Leute kaufen wollten, und der Auffassung waren, dass es dafür einen ordentlichen Rahmen brauchte. Wir wollten das Richtige tun, aber man ließ uns nicht. Also ging ich zu einem FDP-Wahlkampfevent, schnappte mir den Generalsekretär und erzählte ihm von dem störrischen Amt. Er erzählte dann von meinem Fall bei seiner Rede. Das imponierte mir, und ich dachte, das Richtige zu tun, wenn ich seine Partei wählte. In den 1990ern, in Frankfurt am Main.
Es geht voran, so sehr voran wie noch nie
In dieser Serie, „Die Verkrempelung der Welt“, frage ich mich, warum die Dinge des täglichen Lebens nicht kontinuierlich besser werden. Heute treten wir einen Schritt zurück und stellen die Grundsatzfrage: Warum sollten sie eigentlich? Warum glauben wir, einen Anspruch auf Fortschritt zu haben? Und, nicht zuletzt, was meinen wir eigentlich, wenn wir von Fortschritt reden?
Die Verkrempelung der Welt, also die Tatsache, dass die Dinge des täglichen Lebens eben nicht kontinuierlich besser werden oder wenigstens nicht schlechter, ist nur deshalb bemerkenswert, weil wir etwas anderes erwarten. In den 1990ern, als ich sozialisiert wurde, war es nicht abwegig, zu glauben, der Fortschritt würde ungebremst – und jetzt erst recht! – weitergehen. Nach fast zweihundert Jahren des technischen Fortschritts und nach dem Ende des Ostblocks.
Meine Familie hatte in den 1990ern, als Nachzüglerin, Kabelanschluss bekommen, und das erste, was ich im Privatfernsehen sah, war „Der Preis ist heiß“. Menschen gewannen in dieser Show einfach alles, von Gummibooten über Kleinwagen bis hin zu ganzen Einbauküchen, nur durch die möglichst genaue Schätzung der Kaufpreise. Die Teilnehmenden freuten sich wie besinnungslos über die verschenkten Waren. Es war ein Fest des Konsums, nur ohne Geld ausgeben. Nicht der gleichmütige Harry Wijnvoord, der die Show moderierte, war der Star, nicht die schätzenden Kandidatinnen und Kandidaten waren es, sondern die Produkte! Die kurz vorgestellten Fritteusen, Kanus, Outdoor-Grills. Ich hatte noch nie so viele glückliche Menschen auf einmal gesehen.
Es galt damals, in den 1990ern, vielen als ausgemachte Sache: Es geht voran, es geht so sehr voran wie noch nie. Der Ostblock hatte gerade abgewirtschaftet, die Demokratie hatte gesiegt, was gerne interpretiert wurde als: Der Kapitalismus hatte gesiegt. Bunte Nylonblousons, Stereoanlagen mit Doppelkassettendeck und biegsame Halogen-Leselämpchen hatten gesiegt. Jetzt würde es Produkte hageln für alle, und gleichzeitig würden in Bitterfeld wieder Fische schwimmen, wo vorher die real existierenden DDR-Chemiewerke ihre Abwässer ungeklärt in die Flüsse geleitet hatten.
Nicht nur in Amerika machte der Begriff vom „Ende der Geschichte“ die Runde: Der Kampf der Systeme war vorbei, wir wussten jetzt, wie Wohlstand und Freiheit geht. Ich erinnere mich an ein vages Störgefühl: Unglaublich, wie kann es sein, dass wir ausgerechnet jetzt leben, am Ende der Geschichte, in der besten aller Zeiten! In einer noch zu schwach ausgeprägten neuronalen Verschaltung meines Hirns vibrierte ein leiser Zweifel ob dieses welthistorischen Zufalls. Das war es aber auch schon.
Etwa von 1820 und 1980 entstand maßgeblich die Welt, wie meine Generation, die um 1980 geborene letzte Kohorte der Generation X, sie vorgefunden hat. In diesen 160 Jahren hat sich in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern die Lebenserwartung verdoppelt und die jährliche Arbeitszeit halbiert. Gleichzeitig explodierte die Bevölkerungszahl, die Pro-Kopf-Produktion – und der Pro-Kopf-Verbrauch. Diesen Zeitraum nennt der britische Ökonom Angus Maddison in seiner 1983 erschienenen Langzeitstudie die „kapitalistische Epoche“. Die dritte industrielle Revolution, die diese Entwicklungen nochmals beschleunigte, hatte gerade erst begonnen.
Aus meiner Schulzeit erinnere ich mich nur an eine Industrielle Revolution. Die Erfindung der Fabrik, die Produktion von Gütern im industriellen Maßstab, die Nutzung der Dampfmaschine. Und natürlich die Eisenbahn, die ja eine fahrende Dampfmaschine ist. In den USA entstand mit den Eisenbahnunternehmern ein neuer Typ Bürger: der Millionär. Unternehmer wie Vanderbilt, Astor und Rockefeller verkörperten den Fortschritt. In ihrer Tradition stehen Figuren wie Thomas Edison, Henry Ford, Steve Jobs und Elon Musk: Männer, die scheinbar im Alleingang ganze Branchen umkrempeln, mit oft fragwürdigen Methoden. Der europäische Geniekult, ins Unternehmerische gewendet.
Auf der anderen Seite entsteht der Typus des Industriearbeiters, dessen relativ gestiegener Wohlstand nicht einfach ein Nebenprodukt der gestiegenen Produktivität war, sondern erkämpft werden musste. Immer wieder führten Arbeiterunruhen zu Sozialreformen, die die Lebensumstände der Massen verbesserten und in Deutschland schließlich in den Sozialstaat führten, der die Bürger gegen die größten Lebensrisiken abzusichern versucht.
Für die zweite industrielle Revolution sorgten am Ende des 19. Jahrhunderts Durchbrüche in Physik und Chemie. Die Nutzung der Elektrizität ermöglichte Geräte für produktivere Unternehmen und den modernen Haushalt. Forschende Firmen wie AEG, Siemens und General Electric waren die Protagonistinnen dieser Epoche.
Fortschrittserzählung auf Speed
Und nun, in den 1990ern, war ich Teenager mitten in der Zeit, die wir die dritte industrielle Revolution nennen. Mit digitaler Informations- und Telekommunikationstechnologie vernetzte sie erst die Computer und dann die Menschen. Es globalisierten sich Wirtschaft, Märkte und Kultur. Wie ein spätes Echo der Aufklärung empfanden wir das World Wide Web, das schnellen Zugang zu Informationen für alle verhieß. Informationen, das war das Gute. Wir merkten nicht, dass unsere kritiklose Feier der neuen Medien gerade das Gegenteil einer aufklärerischen, rationalen Einstellung war.
Ich las Wired, ein seit 1993 in San Francisco erscheinendes Magazin, das einen geradezu provozierenden Optimismus pflegte, der sich aus der Engführung von technischem und sozialem Fortschritt speiste. Es gab gute Gründe, diesen Optimismus zu teilen: Technischer Fortschritt konnte das Leben verbessern, wir sahen es doch jeden Tag! Die Schweizer Philosophin Rahel Jaeggi schreibt in ihrem gerade erschienenen Buch „Fortschritt und Regression“, dass die Erfindung der Schreibmaschine überhaupt erst das Berufsbild der Sekretärin ermöglicht habe. In der Folge hätten sich Gesellschaften zu fragen begonnen, ob es moralisch eigentlich vertretbar sei, Frauen auf Hausarbeit festzulegen. Für Jaeggi führt, nur leicht überspitzt, die Erfindung der QWERTZ-Tastatur in den Feminismus.
Diese Fortschrittserzählung, aber auf Speed, referierte die Wired in jeder Ausgabe. Ja, dank Computer (1994), dem Internet (1996) und dem Mobilfunk (1998) wird alles besser werden, die Armut wird fallen, die Aktienkurse werden steigen.
Überhaupt, die Aktienkurse! In den 1990ern bestand die Zukunft staubiger Staatsfirmen in ihrer Privatisierung. Die Bahn, die Post, die Telekom – alle sollten Aktiengesellschaften werden, organisiert wie privatwirtschaftliche Unternehmen, nicht wenige sollten an die Börse gehen. Damals dachte man noch, wenn wir nur alles organisierten wie Unternehmen, effizient, schlank, marktorientiert, dann würden alle profitieren. Die Telekom sollte – den Kräften des Marktes ausgesetzt – nicht nur günstiger werden, sondern 1996 quasi im Alleingang die Sparbuch-Deutschen zu einem Volk optimistischer Aktionär:innen machen – mit der T-Aktie! Kurz danach, 1997, eröffnete der „Neue Markt“, ein Börsensegment für kleinere, besonders innovative Unternehmen.
Ich weiß nicht, ob ich das nur so genau mitbekommen habe, weil ich in Frankfurt aufgewachsen bin, aber die Börse war ein Ding, und sie war plötzlich ein Ding für sehr viele Menschen.
Unterdessen wurden meine Freunde und ich volljährig, durften endlich unsere Firma gründen, und, wer weiß, vielleicht würden wir ja auch am „Neuen Markt“ gelistet werden, und was man halt so träumt, wenn man in guten Verhältnissen aufwächst, gerade achtzehn wird, und auf dem Schulweg an Wolkenkratzern vorbei geht wie dem der DZ Bank, der ganz oben mit einem prächtig aus der Fassade herausragenden Strahlenkranz abschließt, ein bisschen wie bei der Freiheitsstatue, nur dass der Frankfurter Kranz im Winter beheizt wird, damit die Menschen zweihundert Meter weiter unten nicht von herabfallenden Eiszapfen erschlagen werden. Das waren so die Probleme, 1993 in meiner Heimatstadt.
Dann erschien Windows 95, die Rolling Stones sangen „Start me up“ dazu, und ein Button in der linken unteren Bildschirmecke versammelte die ganze Welt hinter dem programmatischen Begriff der Zeit: „Start“. Irgendwas mit Computern, womit Sascha (20), Fabian (19) und ich (19) uns in unserer kleinen Firma die Nächte um die Ohren schlugen, war plötzlich, fast, ein wenig, auf eine Art: cool.
Im Sommer 1998, ich stand kurz vor dem Abitur, veröffentlichte Herbert Grönemeyer sein zehntes Album. Die Bitterkeit und Ironie des Titelsongs konnte oder wollte ich damals nicht hören. Er sang: „Es gibt viel zu verlieren, du kannst nur gewinnen.“ Ich fand das damals programmatisch, für alles. Das Album hieß „Bleibt alles anders“.
Die Zukunft war meine Kirche
Und genau darum ging es: Für den Historiker Reinhart Koselleck ist die Tatsache, dass die Welt sich ändert, das Charakteristikum der Moderne. „Menschen erwarten, dass die Zukunft auf eine spezifische, tendenziell bestimmbare Weise anders sein wird als die Vergangenheit.“ So fasst es der Soziologe Peter Wagner in seinem Buch „Fortschritt – Zur Erneuerung einer Idee“ zusammen. Die Zukunft wird anders sein als die Gegenwart. Wenn wir uns auf sonst nichts einigen konnten, dann immerhin auf das. Und dass die Zukunft besser sein wird als die Gegenwart, das war unser gemeinsamer Glaube in den 1990ern – (nicht nur) in den Ländern des Westens. Die Zukunft, das war meine Kirche.
Lange bevor es Shows wie „Die Höhle der Löwen“ gab, präsentierten meine Mitgründer und ich unsere kleine Softwarefirma Investoren.
Einer von ihnen, ein distinguierter älterer Herr mit hoher Stirn und wachen Augen, sagte: „Wir beschäftigen uns immer erst eine Minute mit einem neuen Unternehmen, wenn das vielversprechend ist, dann eine Stunde und dann einen Tag“.
Wir schafften es zu dem Tag, der Investor schickte einen Junior-Investment-Manager, der sich zu uns in den Keller meiner Eltern setzte, und mit uns gemeinsam einen Businessplan baute. Genauer gesagt: eine riesige Excel-Tabelle, die vorhersagen sollte, mit welchem Produkt wir in welchem Land wie viel Umsatz bei welcher Marge über welchen Vertriebsweg machen würden – in vier Jahren. Dass das besagte Produkt noch gar nicht existierte, wir keine Ahnung hatten, wie viel Marge normal oder was ein Vertriebsweg ist, das war unerheblich.
„Wir investieren ja nicht in das heutige Produkt, sondern in Sie, in das Team.“ Ich war einundzwanzig und hatte vielleicht zweihundert Mark auf meinem Jungen Konto und ließ mich von dem Typen im Anzug ordentlich durchsiezen.
Aus dem einen Tag wurde eine Woche, und als ich irgendwann mal wieder alleine vor der riesigen Tabelle saß, die wir zusammen mit dem Finanzmann entwickelt hatten, dämmerte mir, dass der Kapitalbedarf doppelt so hoch war wie ursprünglich gedacht. Mir fiel die unangenehme Aufgabe zu, bei den Investoren anzurufen, mich zu entschuldigen und zu sagen, sorry, wir haben da einen Fehler gemacht, das wird leider nichts, sorry, sorry! Ich erklärte unseren Rechenfehler und erwartete, dass wütend aufgelegt würde und wir Abiturienten jetzt doch ganz normal auf die Uni gehen müssten, anstatt unsere Firma aufzubauen, weil wir es ja offenbar doch nicht konnten.
In der ersten Strophe von „Bleibt alles anders“ singt Herbert Grönemeyer zwei Imperative: „Verträum dich in deinem Traum“ und „Tanz den Tanz auf dünnem Eis“. Ja, das sind abgeschmackte Bilder, aber das war der geradezu hysterische Optimismus am Jahrhundertende, am Jahrtausendende!, auch.
Es war im Frühjahr 1999 und ich hatte die Investoren am Telefon, denen ich gerade gebeichtet hatte, dass wir uns grotesk verrechnet hatten.
„Ja, und?“
Ich sagte nochmal, dass wir doppelt so viel Geld brauchen würden.
„Ja, das habe ich schon verstanden, wo ist denn jetzt das Problem?“
Ein paar Wochen später hatte ich meinen ersten Job, angestellt in der eigenen Firma.
Man kann schweigen müssen und trotzdem Volkswagen fahren
In einem der immer größer werdenden Büros saßen wir an einem Spätsommertag in einem Meeting mit einem Unternehmer, der es mit seiner Firma an den Neuen Markt geschafft hatte und zu Terminen fortan im Helikopter anreiste. Es war nicht ganz klar, was passiert war, weil das Internet ausgefallen war und wir weder Fernseher noch Radio im Büro hatten. Die Castingfirma im Erdgeschoss ließ ihre Bürotür offen stehen, weil dort in der Lobby der einzige Fernseher stand. Auf dem stürzte gerade der zweite Turm des World Trade Centers ein.
Auf dem Heimweg sah ich an den Wolkenkratzern hoch und sah auch, dass ich nicht der einzige war, der das tat. Diese Symbole des Fortschritts, des Wohlstands, für meine Heimatstadt identitätsstiftende Bauwerke, waren durch einen einzigen Akt zu Symbolen für Hybris und Verletzlichkeit geworden. Die Geschichte, mit der ich aufgewachsen war, zeigte sich als eben das: eine Geschichte, die wir uns erzählt haben.
Der Historiker Koselleck hatte Recht. Auch nach diesem Einschnitt erwarteten wir, dass die Zukunft anders sein würde als die Gegenwart, nur jetzt eben nicht mehr besser. Wenn meine Generation nach dem 11. September 2001 etwas lernen konnte, dann das: Fortschritt ist kein Naturgesetz.
Mein Privileg war, dass mein Leben nach 9/11 substanziell, materiell nicht schlechter wurde. Niemand aus meiner Familie kam ums Leben, ich behielt meine Arbeit, militärische Gegenschläge betrafen uns in Deutschland nicht. Was sich veränderte, war die Wahrnehmung der Welt. Es war ein Aufwachen aus dem historischen Teilabschnitt, den wir als historisches Ziel verstanden hatten, so unwahrscheinlich das auch war.
Peter Wagner sagt, es gibt vier verschiedene Arten des Fortschritts: Die Zunahme wissenschaftlicher Erkenntnis („epistemischer Fortschritt“), wirtschaftlicher Produktivität („ökonomischer Fortschritt“), der Freiheit („politischer Fortschritt“) und der Gleichheit („sozialer Fortschritt“). Es fällt auf, dass diese vier nicht gleich schnell voranschreiten. Ein Blick nach China zeigt, dass persönliche Freiheit eben keine Bedingung für Wirtschaftswachstum ist. Man kann über seine politischen Ansichten schweigen müssen und trotzdem Volkswagen fahren. Zudem ist der Fortschritt auf dem Planeten nicht gleich verteilt.
Wagners Arbeit macht klar, dass von Fortschritt nur sprechen kann, wer eine Vorstellung davon hat, was wünschenswert ist. Ein Mehr an Freiheit und Gleichheit ist für ihn wünschenswert, weshalb ein mehr davon Fortschritt darstellt. Diese Position ist in Deutschland sicherlich mehrheitsfähig, anderswo nicht. Es war abwegig zu glauben, der technische Fortschritt brächte quasi automatisch gesellschaftlichem Fortschritt. Im Wissen um die Katastrophen des 20. Jahrhunderts hätte sich dieser blinde Optimismus eigentlich verbieten müssen. Der technische Fortschritt hat den Holocaust, also die industrielle Vernichtung von Menschen, nicht nur nicht verhindert, er hat ihn überhaupt erst ermöglicht. Die Eisenbahn, die Hollerith-Tabelliermaschinen (die frühen Vorläufer des Computers), das Radio – welche technische Erfindung haben die Nazis nicht für ihre Verbrechen zu nutzen gewusst? Welcher Unternehmer ließ sich nicht einspannen?
Nach drei industriellen Revolutionen gehen wir unausgesprochen davon aus, dass es technisch immer weiter vorangeht. Parallel dazu erwarten wir aber auch, dass es gesellschaftlich vorangeht. So bezeichnen sich linke Parteien gerne als progressiv, also fortschrittlich, in Abgrenzung zu konservativen Beharrungskräften. An dieser Begriffsverwendung kann man schon merken, was für ein schillerndes Ding der „Fortschritt“ ist, denn auch Konservative nehmen für sich in Anspruch, dem Fortschritt zu dienen. Sie meinen damit nur vermutlich etwas anderes.
Fortschritt hat keine Richtung
Wenn man mit Wagner annimmt, ein mehr an Freiheit und Gleichheit sei gleichbedeutend mit Fortschritt, dann sieht es für den Fortschritt nicht gut aus. Weltweit beobachten wir ein Erstarken autoritärer Bewegungen, illiberaler Demokratien und einen starken anti-aufklärerischen Impetus: Es sind Leute, die sich entschieden haben, alternative Fakten zu glauben, die die Demokratie kaputtwählen wollen, nicht nur in den USA.
Nun ist es leider so, dass auch der Optimismus der 1990er ein alternatives Faktum war. Denn er fußt auf einer extrem selektiven Wahrnehmung. Wenn es die Trumpisten nicht anficht, dass ihr Held ein Lügner, Betrüger und Demagoge ist, schütteln Liberale den Kopf. Aber die gleichen Liberalen haben in den 1990ern erfolgreich ausgeblendet, was sich in die Post-Wiedervereinigungs-Erfolgsgeschichte nicht integrieren ließ. Rassistische Anschläge in Ost- wie Westdeutschland forderten in den 1990ern viele Todesopfer und teils schwer Verletzte. Die Dunkelziffer gilt als sehr hoch, weil rassistisch motivierte Gewalt damals statistisch noch nicht erfasst wurde. Die grobschlächtige und unfaire Abwicklung der Reste der DDR-Industrie produzierte eine Verlierergesellschaft im Osten, Bürger:innen, deren Biografien rückwirkend entwertet wurden und deren Unzufriedenheit sich nicht zuletzt in einer Zuwendung zu extremen Parteien ausdrücken sollte.
Man kann nicht erwarten, dass sich Menschen über die in den letzten Jahrhunderten dramatisch gestiegene Lebenserwartung und Alphabetisierung, die erfolgreiche Zurückdrängung von Krankheiten und die Bekämpfung des Hungers freuen, auch wenn dies Tatsachen sind, die fraglos gigantische Fortschritte sind. Fortschritt will zu Lebzeiten erlebt werden, nicht nur abstrakt zur Kenntnis genommen in seiner historischen Dimension. Und wer ihn nicht erlebt, und zwar bezogen auf das, was ihm als wünschenswert erscheint, wird frustriert.
Dabei hat Fortschritt per se keine Richtung. Er ist qua Definition eine positive Kraft, aber was als positiv empfunden wird, ist – insbesondere, wenn die grundlegenden Bedürfnisse befriedigt sind – nicht leicht zu sagen. Jeder Mensch, der ein Dach über dem Kopf, genug zu essen und eine Arbeitslosenversicherung hat, und trotzdem unglücklich ist, weiß es: Lebensglück kann nicht auf politischer oder ökonomischer Ebene allein erreicht werden.
Der Soziologe Hartmut Rosa schrieb 2020: „Trotz zweier Jahrhunderte voller bahnbrechender wissenschaftlicher Entdeckungen und technischer Erfindungen, die den Alltag ungemein erleichtert haben, trotz des gewaltigen Anwachsens ökonomischen Wohlstandes für sehr große Bevölkerungsgruppen, trotz der Beseitigung formaler Herrschaft und formaler Ungleichheit und ungeachtet eines ebenso gewaltigen Zuwachses an Selbstverwirklichungsmöglichkeiten, scheint vielen Menschen das Leben offensichtlich nicht im verheißenen Maße ‚besser geworden‘ zu sein.“
An welchen Kriterien machen wir fest, ob unser Leben besser geworden ist? Woran würden wir die verschiedenen Arten von Fortschritt heute erkennen? Mit der klassischen Definition von Ferdinand Tönnies, der als Begründer der Soziologie in Deutschland gilt, lässt er sich heute nicht mehr fassen. Tönnies schrieb 1926, dass sich „menschlicher Fortschritt“ in der „Überwindung von Mangelzuständen“ zeigt. Welche existenziellen Mangel gälte es im Deutschland des Jahres 2024 zu überwinden? Ist es ein Mangel an menschlicher Zuwendung, an tief empfundenen Freundschaften, an Community? Und wäre Fortschritt auf wirtschaftlicher Ebene heute nicht vielmehr die Überwindung von Überflusszuständen? Das unkapitalistische Eingeständnis, dass es auf einem endlichen Planeten legitime und weniger legitime Wünsche gibt?
Die Fortschrittserzählung spukt weiter durch unsere Wahrnehmung von der Welt, aber was meinen wir heute, wenn wir von Fortschritt sprechen?
Wenn wir vom technischen Fortschritt sprechen, (der, um bei Wagners vier Dimensionen zu bleiben, den ökonomischen und wissenschaftlichen Fortschritt betrifft), müssen wir Unternehmen in den Blick nehmen. Auch wenn an Universitäten geforscht wird, sind es hauptsächlich Unternehmen, die den technischen Fortschritt in die Welt bringen. Das macht Unternehmen zu den Orten, an denen darüber entschieden wird, was Fortschritt sein soll. Das einzige Kriterium, das Unternehmen – trotz anderslautender Beteuerungen – aber kennen, ist ihr mehr oder weniger kurzfristiger Erfolg am Markt. Langfristig hören alle Unternehmen auf, zu existieren. Damit ist der Fortschritt eben kein langer Vektor, sondern viele kleine Schritte, die zudem höchst fragwürdig motiviert sind, nämlich von der Monetarisierbarkeit in den nächsten drei Monaten oder vielleicht den nächsten drei Jahren. Gleichzeitig bemühen Konzern-CEOs in ihren Auftritten „Visionen“ von der Zukunft, der sie sich mit ihren Produkten anzunähern versuchen. Nur sind diese Visionen mit niemandem abgesprochen. Es gibt keine gesellschaftliche Übereinkunft darüber, ob das, was Meta, OpenAI oder Apple wollen, gut und wünschenswert ist. Darüber können diese Organisationen erfolgreich hinweggetäuschen, weil ihre Präsentationen von der großen Fortschrittserzählung überwölbt werden, die nur eine Richtung kennt: Die Vergangenheit war schlecht, die Zukunft wird toll. Die nächste Version der Handykamera hat 20 Megapixel mehr, natürlich hat sie das!
Woran wollen wir festmachen, ob unser Leben besser geworden ist?
Dass die technologische Gegenwart von der Vergangenheit und der Zukunft gleichermaßen ausgelöscht wird, hat der Historiker David F. Noble im Jahr 1983 beschrieben. Die bereits vollzogene technologische Entwicklung in der Vergangenheit einerseits und die Erwartungen an den technologischen Fortschritt andererseits zerstören (den Diskurs über) die technologische Gegenwart. Diese Blindheit für die Umstände heute hat ihre Ursache laut Noble in der Abhängigkeit der Angestellten in der Industrie. Diese Fachleute wären kompetent, den technologischen Stand der Dinge zu beurteilen. Sie hätten den nötigen Sachverstand, Fehlentwicklungen zu verhindern. Sie könnten sich Verschlechterungen verweigern. Da sie dies aber nicht tun oder besser: nicht tun können, sei die Gesellschaft einem scheinbaren Determinismus ausgeliefert: dem sogenannten „technischen Fortschritt“. Dieser wird ja durchaus gestaltet, aber eben nicht immer im Interesse der Kundschaft oder gar den Anforderungen der Ökosysteme unseres Planeten genügend. Anstatt Technologiekonzerne entscheiden zu lassen, mit welcher Disruption sich Gesellschaften als Nächstes werden befassen müssen, plädiert Noble für eine kritische Auseinandersetzung mit deren „Innovationen“, ausgehend von den Mitarbeitenden selbst.
Aktuell lässt sich dieses Problem an der Künstlichen Intelligenz und großen Sprachmodellen (LLMs) beobachten. Dieser „Fortschritt“ wird von Unternehmen in die Welt gebracht und zwar als Operation am offenem Herzen, bei vollem Bewusstsein des Patienten (das sind wir). Der gigantische Energiehunger der für KI zweckentfremdeten Chips ist ein Problem, das effizientere Prozessoren absehbar werden lösen können, aber die gesellschaftlichen Folgen sind vollkommen unklar. Das ist den Unternehmen egal, die sich das Experimentieren mit ihrer Technologie bezahlen lassen können – weil sie so faszinierend ist. In der Zwischenzeit ramponieren Menschen mit KI Wahlkämpfe, zum Beispiel in Indien.
Für Noble fängt die Gestaltung des technischen Fortschritts in den Unternehmen an, und zwar in der Ermächtigung derer, die man früher die Arbeiter nannte. Tatsächlich gibt es mittlerweile Entwicklungen, die in diese Richtung zeigen.
Immer mehr Unternehmen versuchen sich an Strukturen ohne Chefs und Chefinnen, mit selbstorganisierten Teams – auch Krautreporter ist dabei. Ob diese demokratischeren Formen des Arbeitens zu besseren Entscheidungen führen, muss sich zeigen. Vor allem müssen sich die Kriterien zur Beurteilung der Qualität von Entscheidungen wandeln, denn egal wie Unternehmen organisiert sind: Dem Markt ist es egal, ob ein Angebot demokratisch zustande kam. Die Kundschaft entscheidet.
Aus der Firma, die meine Freunde und ich gegründet hatten, bin ich 2004 ausgestiegen. Ich bin nach Berlin gezogen, habe dann doch angefangen zu studieren und Leute kennengelernt, die ihren Tagesablauf so planen mussten, dass sie mit einmal Kurzstrecke fahren auskamen. Leute, deren Eltern nicht mehr mit ihnen redeten oder die unheilbare Krankheiten hatten und ihr Leben um sie herum planen müssen. Ich habe die Bubble verlassen, in der ich aufgewachsen war. Später habe ich noch zwei weitere Firmen mitgegründet, und dass das angeblich zu schwierig sei, hatte sich relativiert. Man meldet nicht jeden Tag ein neues Gewerbe an, wenn das dann ein paar Tage dauert, nervt das nur kurz. Aber die Probleme vieler meiner Freundinnen, Freunde und Mitstudierenden, die hatten sie jeden Tag.
Wenn Hartmut Rosa feststellt, dass das Leben nicht im verheißenen Maße besser geworden zu sein scheint, dann wäre ein guter Punkt, an der Verheißung anzusetzen. Ein großer Teil dieser Verheißung ist die unreflektierte Erzählung vom Fortschritt. Wenn wir ein neues, aktualisiertes Verständnis von Fortschritt wollen, müssen wir die Gretchenfrage unserer Existenz stellen: An welchen Kriterien wollen wir künftig festmachen, ob unser Leben besser geworden ist?
Unglaublich, wie kann es sein, dass wir ausgerechnet jetzt leben? An diesem möglichen Wendepunkt der Geschichte, an dem wir noch etwas ändern können. In einer noch zu schwach ausgeprägten neuronalen Verschaltung meines Hirns vibriert ein leiser Zweifel ob dieses welthistorischen Zufalls. Das war es aber auch schon.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Bent Freiwald, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger.