Es gibt Tage, an denen ist es einfach nicht schön, Königin zu sein. Zum Beispiel dann, wenn man beim Fremdgehen mit dem eigenen Cousin erwischt worden ist und zur Strafe nackt an rachelustigen Bürger:innen vorbeilaufen muss, die einen mit Essen bewerfen. So ging es Cersei Lannister, Königin-Regentin der Sieben Königslande in einer berühmten Szene der Serie Game of Thrones. Während Cerseis Bußgang läuft hinter ihr eine Nonne, die eine Glocke läutet. Immer wieder ruft die Nonne dabei „Schande! Schande! Schande“.
Es ist kein Zufall, dass aus der Schamglocke ein sehr bekanntes Meme wurde:
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Scham ist nämlich eines der wichtigsten Gefühle dieser Zeit. Auch, weil das Internet die Möglichkeiten, Menschen zu beschämen, vervielfacht hat. Gleichzeitig ist sie so unangenehm, dass man am liebsten nichts mit ihr zu tun haben möchte. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass kaum jemand versteht, wie mächtig sie ist.
Jede:r hat Respekt vor Wut und eine hohe Meinung von der Kraft der Liebe. Aber die Scham? Im besten Fall erzeugt sie leichtes Unbehagen. Im schlimmsten Fall macht sie dich kaputt, weil sie dich von innen zerfrisst wie Batteriesäure.
Für die Zivilisation ist das Schamgefühl wichtig. Ex-US-Präsident Jimmy Carter soll einmal gesagt haben: „Der Mensch hat nur zwei Bremsen: die Scham und die Polizei.“ Sie ist ein soziales Kontrollinstrument, im guten wie im schlechten Sinne. Die Figur von Cersei Lannister ist erfunden, aber Menschen, die gegen soziale Normen verstoßen, wurden schon immer beschämt.
Mein Leben lang wollte ich die Scham einfach nur loswerden. Sie ist der Gegner, der mich ausbremste, wenn ich in Rom in schlechtem Italienisch einen Kaffee bestellen wollte. Sie ist auch die innere Stimme, die mir meine peinlichsten Momente unerbittlich nachträgt: Manchmal gehe ich die Straße runter und auf einmal fällt mir ein, wie ich einmal meinem Chef versehentlich eine SMS geschickt habe, die für meinen Freund gedacht war, in der ich mich über meinen Chef beklagt habe. Oder wie ich in der Drogerie erwischt wurde, als ich Tampons geklaut habe. Über zwanzig Jahre sind diese Momente her, aber wenn sie mir wieder in den Kopf kommen, zucke ich heute mitten auf der Straße zusammen, mir wird heiß, ich beiße die Zähne zusammen und fluche leise.
In letzter Zeit aber habe ich mir Mühe gegeben, die Scham zu verstehen. Und wie es manchmal so ist, wenn man seinem Gegner persönlich begegnet: Ich merkte, dass wir gar keine Feinde sein müssen. Im Gegenteil. Ich glaube jetzt, dass es eine echte Superkraft ist, zu verstehen, wie Scham funktioniert. Heute mehr denn je. Mehr noch: Es gibt einen ziemlich einfachen Trick, um zu verstehen, welche Schamgefühle im Alltag sinnvoll sind – oder eben nicht.
Scham ist größer als Sex
Viele denken beim Thema Scham an sexuelle Scham. Wieso sonst nennen wir Haare im Intimbereich Schamhaare? Wir hätten sie nach anderen Emotionen benennen können. Liebes-Haare wäre nicht schlecht oder meinetwegen Ärger-Haare, beides würde passen. Wir aber nennen sie Schamhaare, weil wir gelernt haben, dass Nacktheit peinlich ist. Diese Vorstellung sitzt tief in Kulturen, die von der Bibel geprägt sind. Scham ist das erste Gefühl, das darin erwähnt wird. Adam und Eva schämten sich, als sie merkten, dass sie nackt waren. Was extrem absurd ist, da Gott sie längst unten und oben ohne gesehen hatte. Dennoch sitzt die sexuelle Scham tief in uns, immer noch, sonst würde Instagram keine weiblichen Nippel zensieren.
Was bezeichnend ist für das große Missverständnis, mit dem wir die Scham belegen. Aber Scham ist größer als Sex. Sie kann das ganze Selbst infrage stellen. Im Juni 2010 gab es auf der Kurzvortrag-Platfform TED einen überraschenden viralen Hit. Die Soziologin Brené Brown hielt einen Vortrag mit dem Titel „Die Macht der Verletzlichkeit“. Darin spricht sie darüber, wie sie sich zu Beginn ihrer Karriere als Forscherin vorgenommen hatte, das Gefühl der Verbundenheit zwischen Menschen zu untersuchen. Schon nach sechs Wochen Forschung stieß sie auf einen entscheidenden Faktor, der dieser Verbundenheit im Weg stand. „Es war Scham. Scham ist ganz einfach die Angst vorm Getrenntsein. Gibt es irgendwas an mir, das anderen signalisiert, dass ich die Verbindung nicht wert bin?“, sagte sie.
Scham, so Brown, sei das Gefühl von „Ich bin nicht gut genug“ – nicht dünn genug, nicht reich genug, nicht schön genug, nicht schlau genug, nicht erfolgreich genug aufgestiegen. Menschen hingegen, die ein starkes Gefühl von Liebe und Zugehörigkeit in ihrem Leben spüren, schämen sich nicht für Schwächen. Sie sind verletzlich in ihren Beziehungen mit anderen und wissen, dass sie trotz ihrer Makel dazugehören.
Damit konnten sehr viele ihrer Zuhörer:innen etwas anfangen. Bis heute ist Browns Vortrag einer der erfolgreichsten TED-Talks aller Zeiten. Es war ein irrer Erfolg für die Forscherin – und ein absolutes PR-Desaster für die Scham.
Dieses Desaster hat sie nicht verdient. Als eine der 65 Millionen Menschen, die den Ted-Talk gesehen hat, wäre mir das niemals aufgefallen, wäre ich nicht auf das Buch des Schweizer Psychiaters Daniel Hell gestoßen. Es heißt „Lob der Scham“, ist 2019 erschienen und war bisher kein Welthit. Vielleicht auch deshalb nicht, weil Hell seine Analyse nicht griffig auf Ted-Talk-Länge zusammendampft, sondern sich auf Werke wie „Der Mythos vom Zivilisationsprozess“ von Hans Peter Duerr bezieht, fünf Bände mit mehreren tausend Seiten. Es geht darin unter anderem um die Frage, ob die Menschen im Mittelalter frei von Scham waren, weil es damals selbst an Königshöfen okay war, in Anwesenheit anderer Menschen zu furzen oder die Hosen herunterzulassen.
Die Beschämungskultur nutzt Scham als Waffe
Scham, lernte ich von Hell, ist nicht von Geburt an da. Damit wir uns schämen können, brauchen Menschen erst ein reflexives Selbstbewusstsein – sie müssen sich im Spiegel erkennen können, um ein Problem damit zu haben, was sie dort sehen. Erst Kinder im Alter von drei bis vier Jahren schämen sich, zum Beispiel, wenn sie etwas nicht können, von dem sie wissen, dass sie es schon können sollten – wie ihre Blase kontrollieren. Jüngere Kinder trotzen oder fühlen sich gekränkt. Die echte Scham kommt später.
Wir spüren Scham körperlich, etwa als ein Brennen im Körper. Manche Menschen werden rot, sinken in sich zusammen, typischerweise weichen sie dem Blick anderer aus. Die Emotion signalisiert einen inneren Bruch. Sie zeigt, dass man ein Problem mit sich selbst hat. Deswegen ist sie so schwer auszuhalten. Aber jedes Gefühl hat eine Aufgabe, auch dieses. Jede Emotion ist ein Vorschlag unseres Gehirns, wie wir die Welt wahrnehmen und interpretieren sollten. Psychotherapien sind auch deshalb mächtig, weil sie einem helfen können, diese Hinweise zu verstehen. Darin liegt eine lebensverändernde Kraft.
Menschen, die Gefühle unterschätzen, glauben, dass sie einfach zu verstehen sind. Sie meinen zum Beispiel zu wissen, dass jedes Gefühl eine offensichtliche Bedeutung hat, die jede:r kennt. So wie Scham. Wenn ich dir sage: „Du brauchst dich nicht schämen“, weiß doch jede:r, was gemeint ist, oder?
Das ist nur halb wahr, weil jedes Gefühl auch ein Konzept ist, das wir gelernt haben. Gefühle sind weder universell noch eindeutig (in diesem Text habe ich das genauer beschrieben).
Es ist, als würde man eine Sprache lernen. Man kann ein grobes Verständnis dafür besitzen. Das ist dann so, wie wenn man genug Italienisch kann, um sich einen Cappuccino zu bestellen. Oder man kann die Sprache der Emotionen in all ihren Feinheiten durchdringen, wie ein Italienisch-Schüler, der es schafft, die Göttliche Komödie von Dante im Original zu lesen.
Scham zu verstehen ist heute besonders wichtig, glaubt Hell, weil wir immer mehr in einer Beschämungskultur leben. Sie nutzt die Scham als Waffe. Das macht Menschen nicht nur unglücklich, es treibt sie auch in die Erschöpfung und in die Einsamkeit.
Schämst du dich – oder wirst du beschämt?
Ich habe eine Umfrage in der KR-Community gemacht. Scham ist bei den mehr als 600 Teilnehmer:innen nicht beliebt. 70 Prozent gaben an, dass sie sich gerne weniger schämen würden. Dafür haben sie sich zuletzt geschämt:
Wie mein Partner unsere Kinder anbrüllt.
Meinen Körper.
Die Politik der Regierung.
Dass ich auf einen Ebay-Betrüger reingefallen bin.
Ich bekomme keine Erektion mehr.
Ich habe ein teures Küchengerät gekauft.
Meine Wohnung ist nicht sauber.
Beim Arzt für meinen schiefen Zahn, mein fehlendes Schmerzempfinden, meine Depressionen.
Ich habe dummes Zeug geredet.
Ich bin kein guter Vater.
Ich schäme mich für meine Chefin.
Ich sehe krank und alt aus.
Dass ich bei der Arbeit geweint habe.
Dass ich manchmal heimlich die Dessous meiner Partnerin trage.
Dass ich kein Kohlgemüse esse.
Dass ich Urlaub mache.
Seit sieben Wochen bin ich mit Long Covid krankgeschrieben.
Vor acht Jahren habe ich eine Kollegin angemotzt.
Ich finde, Brown hat recht. Scham offenzulegen ist verletzlich, und das ist liebenswert und menschlich. Vor allem aber zeigen die Antworten, wie vielfältig Scham erlebt wird. Und wie wenig offensichtlich ist, worin eigentlich ihre Aufgabe besteht.
Wer die Sprache der Scham lernen will, muss die Bedeutung dreier wichtiger Vokabeln kennen: Peinlichkeit, Scham und Beschämung.
Neulich aß ich im Zug ein Schokomüsli. In einer steilen Kurve bröselte ich ziemlich viel Müsli über mich. Es geschah unter dem prüfenden Blick einer top gestylten Business-Frau, die ich kurz vorher noch für ihren fliederfarbenen Hosenanzug bewundert hatte. Ausgerechnet vor dieser eleganten Erscheinung wie eine Dreijährige zu essen, war mir peinlich.
Peinlichkeit ist schwache Scham. Richtig geschämt habe ich mich wiederum, als mein Mann sich beschwerte, weil ich die scharfen Küchenmesser wieder strategisch unklug eingeräumt hatte. Beinahe wären seine Schlagadern draufgegangen. Ich entschuldigte mich nicht, sondern motzte ihn an. Dafür schämte ich mich später. Mein Verhalten war typisch für eine Seite an mir, die ich nicht mag, ich reagiere manchmal auf Kritik mit Angriff.
Beschämung ist anders. Beschämt wurde ich in der fünften Klasse eine Zeitlang täglich, wenn ich in die Schule kam und ein Mädchen mich mit den Worten begrüßte: „Du stinkst und bist hässlich.“
Der Unterschied zwischen Scham und Beschämung ist sehr wichtig. Aber wenn wir ihn nicht lernen, nehmen wir beides gleich wahr. Beides ist Scham und fühlt sich auch so an, aber die Botschaft ist eine andere. Ich zum Beispiel habe mich jahrelang geschämt, weil ich dachte, meine Mitschülerin hätte recht gehabt. Ich hatte mir die Beschämung angeeignet. Es hätte mir sehr geholfen, den Unterschied zu kennen.
Schamlos sind Typen wie Trump
Über die Feinheiten zwischen Scham und Beschämung kann man Bücher schreiben (so wie Daniel Hell). Für den Alltag gibt es einen Trick. Und zwar die folgenden Fragen: Schäme ich mich, weil ich gegen meine eigenen Werte verstoßen habe? Das ist die Scham, die Daniel Hell „persönliche Scham“ nennt, oder auch „subtile Scham“. Sie sorgt dafür, dass man sich mit sich selbst auseinandersetzt. Man versteht sie sofort, wenn man sich das Gegenteil vorstellt, nämlich Menschen, die diese Scham nicht empfinden. Das sind dann Typen wie Donald Trump.
Oder schäme ich mich, weil andere mich abwerten, zum Beispiel wegen meines Alters, meiner Hautfarbe, meiner sexuellen Orientierung? Weil ich keinen Job habe oder keine Kinder? Dann wurde ich beschämt (Hell nennt dies „soziale Scham”). Wer beschämt wird, erlebt Schande. Diese Art Scham betrifft das eigene Selbst und stellt den Wert einer Person infrage.
Die Sprache der Scham lernen bedeutet zu verstehen, ob es Zeit ist, Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen – oder sich von ungerechten Urteilen von außen abzugrenzen.
Ein Shitstorm ist eine soziale Atombombe
Vermutlich ist es schwerer denn je, sich mit Scham anzufreunden. Viele Menschen haben heute Angst vor Scham, weil sie sich vor Beschämungen fürchten. Dafür gibt es gute Gründe. In der Sozialforschung war früher von Schuld– und Schamkulturen die Rede. Kulturen im Nahen und Fernen Osten galten als schamgeprägt, Teile der westlichen Kultur als schuldgetrieben. Das ist heute umstritten. Daniel Hell hat eine neue Idee: Er glaubt, dass die moderne westliche Kultur eine Beschämungskultur ist.
Die eine Sorte Scham ist demnach weniger geworden: Die subtile Scham, also jene, die dazu führt, dass man seine Werte überprüft und sich fragt, welcher Mensch man eigentlich sein will. Andererseits beschämen die Menschen einander mehr und sind auch öfter gekränkt.
In ihrer positivsten Form ist Scham Taktgefühl. Sie sorgt dafür, dass ich das Müsli, das ich im Zug verstreut habe, hinterher wieder einsammele. Sie bremst uns darin, einander anbrüllen oder Menschen vor uns in der Schlange wegzuschubsen, wenn es uns gerade in den Kram passt. Scham ist außerdem ein unangenehmes, aber wirksames soziales Druckmittel – sicher trug sie dazu bei, Impfungen während der Pandemie durchzusetzen. Das Wort „Impfscham“ gab es vorher nicht. Das Wort „Flugscham“ existiert erst, seit es sozial erwünscht ist, sich Gedanken über die Klimakrise zu machen.
In ihrer schlimmsten Form ist Scham eine Waffe – eine, die Menschen schon immer eingesetzt haben, um zu strafen und zu demütigen. Ein Pranger ist ein öffentliches Beschämungsinstrument, ebenso wie der Buchstabe „A“, den verurteilte Ehebrecher:innen im puritanischen Neuengland auf ihren Kleidern tragen mussten.
Social Media wiederum hat der Scham als Waffe eine Kraft gegeben, die Menschen vernichtet. Ein Shitstorm ist eine soziale Atombombe.
Das ist einerseits gut, weil diskriminierte und marginalisierte Menschen nun ein mächtiges Werkzeug besitzen, das sie früher nicht hatten. #metoo goss kübelweise Schande über Männer wie Harvey Weinstein aus, die bis dahin ungehindert und im Verborgenen ihren sexuellen Übergriffen nachgehen konnten. Andererseits lässt sich diese Waffe unkontrolliert auf jeden Menschen richten, dessen Verhalten einer beliebigen Gruppe von Menschen missfällt.
Wer will schon ein freundlicher Durchschnittsmensch sein
Social-Media-Plattformen sind also für die Entstehung einer Beschämungskultur sehr hilfreich. Aber richtig gut funktioniert eine solche Kultur laut Hell erst in Kombination mit einer ziemlich überraschenden Zutat: Selbstverwirklichung.
Wie bitte?
Selbstverwirklichung war mal eine gute Idee. Ein humanistisches Ideal, dem viele Psycholog:innen folgten und mit dem sie Menschen ermächtigen wollten, ihren eigenen Weg zu gehen, die Überanpassung an die Gesellschaft abzulegen. Mittlerweile jedoch leben wir mit einer dermaßen verzerrten Version dieses Ideals, dass sie kaum noch wiederzuerkennen ist. Oder wie lässt sich erklären, dass es heute quasi Versagen bedeutet, wenn man einfach nur ein freundlicher Durchschnittsmensch sein will? Der sich womöglich kein Mission Statement für sein bestmögliches Selbst übers Bett hängt, und kein Vision-Board mit motivierendem Zitate-Salat von Albert Einstein bis Nelson Mandela?
„Selbstverwirklichung ist nicht mehr eine Privatsache, die auch Widerstand bedeuten kann, sondern gesellschaftliche Norm. Es gehört sich, dass der Mensch für sich selbst verantwortlich und für seinen Erfolg zuständig ist“, schreibt Hell.
Was bedeutet: Selbstverwirklichung ist jetzt Überanpassung. Und wer sich verdammt noch mal nicht erfolgreich selbstverwirklicht, hat versagt und sollte sich in den Augen der Gesellschaft – und seiner wahrscheinlich viel zu wenigen Follower:innen – schämen.
Das ist genau die Art Scham, vor der alle Angst haben. Jene Scham, die isoliert und den Wert von Menschen infrage stellt. Es ist auch die Scham, von der Bréne Brown spricht und unter der jede:r der 65 Millionen Menschen, die ihren Vortrag gesehen haben, wahrscheinlich irgendwann schon gelitten hat. Sie ist der Grund dafür, dass ich mein Leben lang nichts lieber wollte, als dieses Gefühl loszuwerden.
Das sehe ich jetzt anders. Scham zu empfinden ist kein Fehler, sondern eine Fähigkeit. Der ganze Trick besteht darin: „Nicht die Scham ist schlecht, sondern worauf sie hinweist“, meint Hell. Entweder signalisiert sie, dass ich tatsächlich etwas getan habe, das meinen Werten widerspricht. Wenn ich zum Beispiel schon wieder einen Flug gebucht habe, obwohl ich den Zug hätte nehmen können. Oder sie verweist darauf, dass ich mich an Werten und Normen orientiere, die eigentlich gar nicht meine eigenen sind. Zum Beispiel, wenn ich mich für mein Gewicht schäme, weil die gesellschaftliche Norm zehn Kilo weniger vorsieht.
Nur wer die Botschaft der Scham nicht versteht, ist ihr hilflos ausgeliefert. Hell meint daher, dass Scham uns schützt und warnt. Sie macht auf ein Problem aufmerksam: Auf einen Verlust an Selbstachtung, oder auf Fremdbestimmung. Wenn wir das begreifen, leiden wir weniger – und, mehr noch, wir können sie für uns nutzen.
Redaktion: Bent Freiwald; Schlussredaktion: Rico Grimm; Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert