Neulich sah ich beim Warten auf die U-Bahn eine Werbung für Laufschuhe. In diesem Moment fühlte ich mich kurz wie eine Hundertjährige. Ich wurde grimmig und hatte bittere Gedanken über den Zustand der heutigen Gesellschaft. Auf dem Plakat stand: „New Personal Best ist keine Zeit, sondern ein Gefühl!“
„New Personal Best“ bedeutet „persönliche Bestleistung“ und meint die schnellste Zeit, die höchste Punktzahl oder überhaupt das beste Ergebnis, das eine Person jemals bei einem Sportereignis erzielt hat. Es geht also klar um messbare Werte. Das Werbeplakat an der U-Bahn will jedoch etwas anderes mitteilen: Meine Rekordzeit habe ich demnach erreicht, wenn es sich für mich richtig anfühlt. Sportlicher Erfolg wird von mir bestimmt, nicht von kalten, emotionslosen Zahlen.
Damit passt die Werbung zu einer Einsicht, die sich immer mehr verbreitet. „In der westlichen Welt leben wir hauptsächlich in unserem Kopf“, las ich neulich auf einer Website, es ging um Körperarbeit. Das ergibt einerseits überhaupt keinen Sinn. Wo sollen wir denn sonst leben, im Fuß? Das wäre schlecht. Im Kopf sitzt das Gehirn. Ohne Gehirn wäre das Leben schwierig.
Andererseits steckt hinter dem Satz eine berechtigte Beobachtung. Gemeint ist, dass viele Menschen einer bestimmten Art des Denkens einen besonders hohen Wert beimessen: dem analytischen Denken oder dem, was wir Vernunft nennen. Sie orientieren sich stark an Zahlen und Daten und nicht genug an, sagen wir, Empathie. Deswegen hört man oft den Vorwurf, Verkopftheit sei nicht gut, die Menschen sollten sich mehr auf ihre Gefühle besinnen, in ihren Körper lauschen, auf ihr Herz hören.
Nichts dagegen. Aber wenn wir alle nur noch in uns hineinlauschen und nach der Wahrheit in unser
en Gefühlen suchen, werden wir uns irgendwann das Gegenteil vorwerfen: Dann sind wir zu verfühlt. Mir scheint, wir sind auf dem besten Weg dahin.
In der Schule wäre mir die Botschaft der Laufschuhwerbung sehr willkommen gewesen. Wie so vielen Menschen hat mir der Sportunterricht die Freude an der Bewegung für viele Jahre verdorben. In ausgewählten Disziplinen war ich zwar ziemlich gut (Springen), in anderen jedoch sehr schlecht (alles mit Bällen). Zudem war ich moralisch entrüstet angesichts der Idee, Menschen aufgrund körperlicher Leistungen zu benoten, auf die sie nur bedingt Einfluss haben. Möglicherweise speiste ein Teil meines Zorns sich auch daraus, dass ich kurzsichtig war, aber keine Brille tragen wollte. Das ist ein Problem beim Basketball. Meine Sportlehrerin war nicht meiner Meinung, dass es unfair ist, Bällewerfen zu benoten. Heimlich nannte ich sie „Penis-Nase“. Sie gab mir eine Sechs und ich wäre deshalb fast durch mein Abitur gefallen.
Mittlerweile bin ich seelisch gereift und gehe mit relativ wenig Gejammer regelmäßig ins Fitnessstudio. Ich hätte sehr gerne einen Sixpack, verweigere mich dem Leistungsdruck aber noch immer, weil ich der Penis-Nase nicht im Nachhinein recht geben will.
Innerlich tot und bereit für einen proteinreichen Snack
Ich glaube jedoch, über das Plakat der Asics-Werbung würden wir beide gemeinsam den Kopf schütteln. Die Behauptung, die persönliche Bestzeit sei keine Zahl, wendet sich nicht ab von der sogenannten Verkopftheit, sie verdummt Gefühle. Es ist, als würde mein Arzt mich fragen: „Welche Krankheit haben sie denn, ihrem eigenen Gefühl nach? Und spüren Sie doch auch gleich mal in sich rein, welches Medikament dagegen helfen könnte.“
Klar, wir reden hier von der Kampagne eines Sportherstellers, der unverhohlen versucht, den Mental-Health-Trend zu nutzen und die Erschöpfung vom Leistungsdruck zu kapitalisieren. Das ist keine schlechte Idee, wenn man heute etwas verkaufen will. Die Zielgruppe ist groß. Viele Menschen sind müde. Sie hören dauernd schlechte Nachrichten und sind gestresst von Informationen, Meinungskriegen und viel zu vielen Produkten. Wir leben in einer Zeit, in der man sich online 566 Billiarden Müslivarianten zusammenstellen kann. Dafür ist der Mensch einfach nicht gemacht.
Werbende setzen deshalb zunehmend auf weiche, freundliche Versprechungen. Du lebst in einer superschnellen Wachstums- und Leistungsgesellschaft in einer Welt der Krisen? Du brauchst eine BPA-freie Wasserflasche mit einer in den Boden eingeprägten Lebensblume, stärkendes Pulver aus 90 Gemüsen und ein Abo für eine App, die dir beruhigende Botschaften zuraunt!
Offenbar ist die Gesellschaft an einem Punkt der Erschöpfung angekommen, an dem selbst Sportmarken mit entschlossenen Power-Slogans wie „Just do it“ (Nike) oder „Forever better“ (Puma) nicht mehr so erfolgreich sind wie früher. So klingt zumindest, was Asics-Vizepräsident Gary Raucher über die „Bestzeit“-Kampagne sagt: Die Sportindustrie, meint er, erzähle den Menschen seit Jahren, dass sie immer mehr leisten müssen: Schnellere Zeiten, längere Strecken, höhere Punktzahlen. „Obwohl sie darauf abzielt, Menschen zu motivieren, zeigen unsere Forschungen, dass sie den umgekehrten Effekt hat und stattdessen eine einschüchternde Kultur schafft, die Menschen vom Sport abhält.“
Dagegen hilft sicher nicht, dass man heute keine fünf Minuten mehr das Internet betreten kann, ohne eine 21-Tage-Challenge aufgedrängt zu bekommen. Oder eine Morgenroutine, bei der man um vier Uhr morgens aufsteht, um Salzwasser zu trinken, zehn Minuten kalt zu duschen und dann eine Stunde lang auf einem Fitnessbike zu rasen, bis man innerlich tot ist und bereit für einen proteinreichen Snack. Es ist ein echter Akt des Widerstandes, sich morgens einfach nur die Zähne zu putzen und bei einem Kaffee vor sich hinzustarren. Oder Hobbys zu haben, bei denen man mittelmäßige Leistungen erzielt und nicht versucht, auch noch beim Joggen, Klavierspielen oder Plätzchenbacken Quartalsziele zu erreichen.
Eine sympathische Übersetzung der Behauptung „New Personal Best ist keine Zahl, sondern ein Gefühl“ wäre also: „Es ist okay, wenn deine Oma schneller joggt als du. Mache deinen eigenen Selbstwert nicht von deiner Leistung abhängig.“ Das bedeutet jedoch nicht, die Alternative zu einer Welt aus Leistungsdruck und Performance müsse eine Wirklichkeit sein, in der Zahlen und Fakten keinen Platz haben. Gefühle und sachliches Denken sind keine Gegensätze. Wer das glaubt, sie vielleicht sogar als Gegner empfindet, hängt einem alten Vorurteil an, das wissenschaftlich überholt ist – und sogar frauenfeindlich.
Pinguine gewinnen keine Nobelpreise
Gefühle sind in den vergangenen Jahren gesellschaftlich ziemlich aufgewertet worden. Wenn ich mich nicht irre, dürfen sogar Männer heute manchmal Gefühle haben. Das ist erfreulich. Emotionen galten traditionell als Domäne der Frauen und diese wiederum als irrationale Wesen, die aus dem Bauch heraus handeln oder ihrem Herzen folgen. Die Welt der Vernunft, der Zahlen und der Logik wurde eher den Männern zugeschrieben. Dieses Klischee lebt bis heute. Bittet man Chat-GPT im Jahr 2024 „Weiblichkeit“ zu definieren, nennt das Programm unter anderem Eigenschaften wie „Empathie, Sanftheit und Emotionalität“. Natürlich nicht ohne einen Disclaimer über Geschlecht als soziales Konstrukt voranzustellen, die KI will keinen Ärger. Als Aspekte von „Männlichkeit“ schlägt sie „Stärke, Unabhängigkeit, Dominanz und emotionale Zurückhaltung“ vor.
Wie eigentlich alles, was die Kultur Frauen zuschreibt, galten Emotionen lange als minderwertig, der kühlen Ratio unterlegen. Im Laufe der Geschichten haben einflussreiche Denker, Platon etwa, immer wieder betont, der edlere Teil des menschlichen Geistes sei rational. Instinkte und Emotionen dagegen seien wie Tiere, die versuchen, den Menschen in Richtung niederer Verhaltensweisen zu ziehen. Die Vernunft ist in dieser Vorstellung die Kraft, die unsere tierischen Anteile zähmen kann. Sie macht Menschen besonders, besser als andere Lebewesen. Immerhin haben auch Tiere Gefühle, aber es hat noch kein Pinguin einen Nobelpreis gewonnen.
Diese Hierarche zwischen dem angeblich vernünftigen Denken und irrationalen Gefühlen zieht sich durch die ganze Gesellschaft. Nachrichtenredaktionen unterscheiden zwischen „harten“ (Wirtschaft, Politik) und „weichen“ Nachrichten (Psychologie, Gesellschaft) und selbstverständlich werden erstere mehr von Männern bearbeitet und bringen mehr Prestige. Geisteswissenschaften genießen weniger Ansehen als Naturwissenschaften. Typische Frauenberufe (Pflege, Erziehung) verlangen Empathie und Hingabe und werden schlechter bezahlt als typische Männerjobs, in denen zumindest dem Klischee nach logisches und analytisches Denken wichtiger ist (Finanzen, Technik).
Das passt zu einer Theorie über das Gehirn, die lange populär war und die auf den US-Hirnfoscher Paul MacLean zurückgeht. Demnach besteht das Gehirn aus drei Teilen, die sich nacheinander im Laufe der Evolution entwickelt haben. Vereinfacht gesagt, ist der evolutionär jüngste und damit fortschrittlichste Teil in diesem Modell der Neocortex, er gilt als der Sitz unseres rationalen Denkens. Das ältere limbische System ist für Emotionen und Gefühle zuständig, am ältesten und primitivsten ist das berühmte Reptiliengehirn, zuständig für Instinkte. Je nachdem, welcher Teil des Gehirns gerade aktiv ist, fühlen, denken und handeln wir unterschiedlich.
Daraus ist ein populäres Verständnis des Gehirns entstanden, an dem sich unter anderem das sogenannte Neuromarketing orientiert. Schon einmal davon gehört, impulsives Verhalten werde vom „Reptiliengehirn“ gesteuert?
Die moderne Neurowissenschaft und Psychologie haben diese Sicht längst überholt. Es gibt keine besonders fortschrittliche Gehirnregion, die nur den Menschen gehört, auch die starken Trennlinien zwischen den Systemen existieren nicht. Ebenso wenig wie rein emotionale oder kognitive Schaltkreise oder Zentren, die abwechselnd aktiviert werden, je nachdem, ob wir über ein Blech Cookies herfallen oder eine Statistik auswerten. Stattdessen beeinflussen sich die Netzwerke gegenseitig.
Gedanken können jedoch komplett irrational sein, wie jede:r weiß, der sich selbst schon einmal davon überzeugt hat, dass es eine gute Idee ist, stundenlang durch die Social-Media-Profile von Ex-Partner:innen zu scrollen. Gefühle wie Angst können wiederum rational sein. Wer einem knurrenden, geifernden Hund begegnet, fürchtet sich – vernünftigerweise. Der Neurowissenschaflter Antonio Damasio erklärte in den 1990er Jahren nach langjährigen Studien an Patient:innen mit Hirnschäden: In jedem gesunden Gehirn sind Emotionen Teil des Denkens.
Wie sollte eine krasse Trennung von Fühlen und Denken auch funktionieren? Wenn ich fühle, dass ich jemanden liebe, denke ich es dann nicht auch? Welche Gefühle haben den britischen Mathematiker Alan Turing angetrieben, wenn er über Künstliche Intelligenz nachdachte, wie viel analytische Überlegungen stecken in Beethovens Musik?
Das berühmte Bauchgefühl ist gar keins
Jeder Mensch hat Gefühle. Aber die wenigsten könnten sie so beschreiben wie die Emotionsforscherin Carlotta Welding in einem Interview mit der Zeit: „Wissenschaftlich betrachtet sind Gefühle die Bewusstwerdung körperlicher Vorgänge, die affektiv begründet sind. Schwitzende Hände zum Beispiel sind der Vorläufer eines Gefühls. An ihnen spürt man Aufregung. Die Bewusstwerdung dieser Emotion hat dann wiederum Rückwirkung auf die körperlichen Prozesse. Das heißt, der eine wird in so einem Moment noch aufgeregter, bei dem anderen sinkt die Anspannung. Und genau diese Verbindung zwischen Geist und Körper oder, sagen wir, Kopf und Bauch, kann man sich bewusst und schließlich zunutze machen.“
Es ist also ein bisschen komplizierter als das, was Coaches auf Instagram verkünden: „Raus auf dem Kopf, rein in den Körper.“ Ich will ja nicht nerven, aber inwiefern ist das Gehirn nicht Teil des Körpers?
„Du fühlst mit dem Gehirn, du siehst mit dem Gehirn, du hörst mit dem Gehirn. Wenn du spürst, dass dein Magen gluckert, nimmt dein Gehirn das wahr“, sagt die Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett. „Der Körper sendet Informationen, das Gehirn bestimmt, was sie bedeuten.“
Für das Gehirn ist der Körper nur ein weiterer Teil der Welt, den es interpretieren muss. So wie es einem lauten Knall in der Nähe sofort eine mögliche Bedeutung zuweist, interpretiert es die Signale, die deine Organe ihm senden. Entscheidend ist also nicht, ob wir mit dem Kopf oder dem Bauch denken, sondern wie Kopf und Bauch miteinander kommunizieren. Das berühmte Bauchgefühl sitzt gar nicht nur im Bauch.
Wie künstlich die Trennungen zwischen Gefühlen und Vernunft, zwischen Kopf und Körper sind, sieht man auch daran, dass es Kulturen gibt, die sie gar nicht kennen, wie Feldman Barrett in ihrem Buch „Siebeneinhalb Lektionen über das Gehirn“ erklärt. Das gilt etwa für die balinesische Kultur, die Ilongot-Kultur auf den Philippinen und bis zu einem gewissen Grad für Kulturen, die sich nach der buddhistischen Philosophie ausrichten. Sie unterscheiden nicht streng zwischen Denken und Fühlen und haben Wörter für etwas, das wir als eine Mischung aus Denken und Fühlen bezeichnen würden.
Wenn wir die Wichtigkeit von Gefühlen überbetonen, missverstehen wir, was Gefühle sind. Sie sind nicht das Gegenteil von Vernunft. Und sie sind keine alternative Wahrheit. Sie sind Teil der Wahrheit. Ja, eine persönliche Bestzeit ist ein Gefühl, aber es ist auch eine Zahl.
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger