Eine Wurst auf einer Gabel

Yasin Arıbuğa/Unsplash

Sinn und Konsum

Ein bisschen weniger Wurst ist ganz schön viel

Immer mehr Menschen bemühen sich, weniger Fleisch zu essen. Dafür kriegen sie wenig Anerkennung. Es ist an der Zeit, sie mit Konfetti zu bewerfen.

Profilbild von Theresa Bäuerlein
Reporterin für Sinn und Konsum

Es gibt eine Frage, die ich mir seit gut zehn Jahren stelle, also seit ich über Ernährung schreibe. Wenn in den sozialen Medien darüber diskutiert wird, ob Menschen vielleicht etwas weniger Fleisch essen könnten als die durchschnittlich knapp 70 Kilo, die in den entwickelten Ländern üblich sind, gibt es immer diesen einen Typen. Nennen wir ihn Jens.

Jens postet mitten in die Diskussion ein Bild von einem riesigen Steak hinein und schreibt dazu: „Mein Abendessen“. Jedes Mal, wenn das passiert, starre ich auf das Foto und frage mich: Was hat er davon?

Ich versuche, die Logik zu verstehen. Sagen wir, es geht um ein anderes Thema, vielleicht Waldspaziergänge. Posten Typen wie Jens dann ein Bild von einer Autobahn? Oder man diskutiert über Diabetes-Prävention. Laden sie ein Bild von einem Karamellbrownie hoch?

Das Gegenstück zu den Steak-Postern wie Jens sind die Reaktionen auf eine Frage, die meine Krautreporter-Kolleg:innen vor ein paar Wochen auf Facebook gestellt haben: „Liebe Veganer, was ist passiert, als ihr wieder angefangen habt, Fleisch zu essen?“ Es kamen 931 Kommentare. So viele haben wir auf Facebook selten bekommen. Aber Hunderte haben die Frage überhaupt nicht beantwortet. Stattdessen fanden sie es angemessen, ihre unerschütterliche Hingabe an eine komplett tierfreie Ernährung zu bekräftigen. Zum Beispiel so: „Keine Ahnung, wie das sein könnte. Ich bin seit fast 10 Jahren vegan, mir geht es hervorragend, meine Blutwerte sind top und ich kenne keinen Grund, warum ich das ändern sollte. #govegan“.

Sie hätten auch ein Bild von einer Gurke posten können.

Wer will schon an seinem Geburtstag an sein Testament denken

Das wäre lustig. Überhaupt nicht witzig ist hingegen, wie kaputt die Diskussionen zu einem so wichtigen Thema wie Fleischkonsum sind. Und zwar in allen Richtungen. Dabei helfen weder die Kommentare von Jens noch die der Veganer:innen auf Facebook. Im Gegenteil: Sie zeigen, wie sehr sie sich in ihren Lagern verbarrikadieren. Und wie schwierig es für sie ist, entspannt miteinander umzugehen.

Ich fürchte, ich habe selbst ein wenig zum Problem beigetragen. Ausgerechnet zu Weihnachten habe ich immer wieder Artikel geschrieben, die sich kritisch mit Fleischkonsum auseinandersetzen, zum Beispiel diesen hier: „Werden wir in 30 Jahren noch Tiere essen?“ oder „Die Fleisch-Debatte“. Warum zu den Festtagen? Weil sehr viele Deutsche an diesen Tagen Würstchen mit Kartoffelsalat oder Braten essen.

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Wenn viele Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt die gleichen Dinge tun, nennen Journalist:innen das einen guten Anlass, um ein Thema anzusprechen. In diesem Fall war das blöd. Wie wenn jemand Geburtstag feiert und man ihn ermahnt, endlich an sein Testament zu denken. Man hat ja recht, aber es ist nicht der richtige Zeitpunkt. Das Weihnachtsessen ist ein emotional hoch aufgeladener Moment, den manche lieben, andere fürchten. Es braucht nicht noch mehr Ballast.

Dieses Jahr mache ich es anders. Ich glaube, es gibt zu diesem Thema zu dieser Zeit des Jahres eigentlich nur eine nützliche Haltung. Es geht dabei nicht um die Frage, ob es okay ist, Tiere zu essen oder nicht. Sondern darum, Menschen, die versuchen weniger Fleisch zu essen, endlich dafür zu feiern. Ihre Anstrengungen sind wichtig – und könnten in der Summe mehr bewirken als die nur langsam steigende Zahl der Vegetarier:innen und Veganer:innen.

Die Mütter und Großmütter des Schweins, auf dem ich herumkaute

Auf die Idee brachte mich Brian Kateman. Er ist Mitgründer der Reducetarian Foundation, einer gemeinnützigen Organisation, die sich dafür einsetzt, dass Menschen und Institutionen weniger tierische Produkte konsumieren. Eigentlich hatte ich mit Kateman telefoniert, weil ich meinen alljährlichen staatstragenden Artikel über den Sinn und Unsinn von Fleisch an den Festtagen schreiben wollte. Dann aber sagte Kateman: „Ich denke, die Feiertage sind die schlechteste Zeit, um sich auf dieses Thema zu konzentrieren.“

Kateman ist Aktivist, er will, dass Menschen weniger Fleisch essen. Man könnte meinen, dass er jede Gelegenheit nutzt, um über seine Agenda zu sprechen. Das stimmt auch, aber die richtige Zeit und der richtige Ort sind ihm wichtig. Und zwar gerade, weil er weiß, wie man Menschen erreicht, denen Fleischverzicht total fremd ist. Er ist in Staten Island aufgewachsen, mit der üblichen fleischlastigen amerikanischen Ernährung: jede Menge McDonald’s und Kentucky Fried Chicken. Erst am College fing er an, sich Gedanken darüber zu machen, welche ethischen und ökologischen Konsequenzen es hat, wenn Menschen Tiere essen. Er zog die Konsequenzen daraus und reduzierte seinen Fleischkonsum drastisch.

Dann bemerkte er etwas Merkwürdiges. Wenn er doch einmal an Thanksgiving ein Stück Truthahn aß oder einen Salat mit Huhn bestellte, reagierten seine Freund:innen und Verwandten überrascht oder fragten spöttisch: „Bist du also doch kein Vegetarier?“ Für sein Bemühen, weniger Fleisch zu essen, bekam er kaum Anerkennung.

Wer stellt sich stolz hin und sagt: „Ich bin Flexitarier“?

Diese Logik ist weit verbreitet, aber ziemlich sinnlos. Beim Thema Tierprodukte haben viele einen absoluten Anspruch: Ein Mensch kann sich 364 Tage im Jahr rein pflanzlich ernähren, aber wenn er ab und zu im Zug einen Kaffee mit Kuhmilch trinkt oder ein Brötchen mit Salami isst, darf er sich nicht mehr Veganer nennen. Merkwürdig ist, wie viel kulanter wir bei anderen Bemühungen sind: Du fährst dein Auto nur noch am Wochenende und nimmst den Rest der Zeit das Fahrrad? Super! Du stellst deinen Stromvertrag auf Ökostrom um? Richtig was geleistet! Aber eine Frau, die an zwei statt sieben Tagen in der Woche Fleisch isst, kann kaum Beifall erwarten. Sie darf sich höchstens „Flexitarierin“ nennen. Ein komplett glamourfreier Titel. Wer stellt sich stolz hin und sagt: „Ich bin Flexitarier“? Sowieso, sind Flexitarier:innen nicht eigentlich inkonsequente Vegetarier:innen? Und sind Vegetarier:innen nicht Möchtegern-Veganer:innen, die es nicht schaffen, auf Käse zu verzichten?

Vielleicht denken Jens und seine Geistesverwandten, dass Gutmenschen und Vegetarier:innen sich entsetzt mit einem Bund Grünkohl Luft zufächeln, wenn sie sein Steak sehen. Da müsste ich zumindest ihn enttäuschen. Wenn mir im Sommer der Geruch von Grillfleisch in die Nase weht, ist mein erster Impuls nicht wegzulaufen, sondern rein zu beißen. Dennoch kann ich an einer Hand abzählen, wie oft ich in den letzten 13 Jahren Fleisch gegessen habe. Immer geschah es aus Versehen. Das letzte Mal war im Frühjahr, ich hatte ein Zwiebelbrötchen gekauft und mich gewundert, weil es gut schmeckte. Die Erklärung war einfach: Es lag an den Speckstückchen im Teig. Ich aß das Brötchen trotzdem auf. Die Mütter und Großmütter des Schweins, auf dessen Bauchfleisch ich herumkaute, waberten dabei vorwurfsvoll vor meinem inneren Auge herum. Auch für mich ist es schwer, von der Alles-oder-nichts-Haltung beim Fleischessen herunterzukommen. Wenn es darum geht, den Fleischkonsum in den Industrieländern herunterzufahren, schadet diese Haltung aber eher dem Ziel. Weil die Schwelle zum Totalverzicht für viele Menschen viel zu hoch ist.

Konfetti werfen für 22 Gramm weniger Schinken

1979 veröffentlichte der heute weltbekannte australische Moralphilosoph Peter Singer das Buch „Animal Liberation“, das die moderne Tierrechtsbewegung stark geprägt hat. Singer schreibt darin, unsere Behandlung von Tieren sei ethisch nicht zu rechtfertigen. Das ist jetzt 45 Jahre her. Mittlerweile musste er zugeben: Wir haben die Tiere nicht befreit. Zwar sei Vegetarismus so populär wie noch nie, dennoch würden die Menschen mehr Fleisch essen als je zuvor.

Zum Teil liegt das am Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum und daran, dass mehr Menschen sich heute Fleisch leisten können. Doch auch in den USA verbrauchen die Bürger:innen mehr Hühner, Puten, Rinder und Schweine als je zuvor, fast ein Viertel mehr als 1975. In Europa sieht es etwas anders aus. Obwohl die EU weltweit der größte Fleischerzeuger ist, sinkt der Verbrauch allmählich. Die Deutschen aßen 2022 im Schnitt 52 Kilo Fleisch pro Kopf und Jahr, fünf Jahre zuvor waren es noch acht Kilo mehr. Jede Person hat 2022 damit täglich knapp 22 Gramm weniger Fleisch gegessen als 2017. Das entspricht etwa einer Scheibe Schinken.

Nicht gerade eine Kraftanstrengung. Man kann das aber auch positiv sehen: Wenn alle täglich noch eine Scheibe Schinken mehr weglassen, sparen wir schon doppelt so viel Fleisch ein. Wie einfach das wäre!

Auf diesem Denken basiert die Reducetarier-Bewegung, die Brian Kateman mitbegründet hat: Sie will den Wert der kleinen Schritte zeigen. „Die meisten Menschen haben kein Interesse daran, Vegetarier oder Flexitarier zu sein“, sagte er mir. „Sie haben das Gefühl, dass es wertlos ist, wenn sie sich nur ein bisschen bemühen. Das ist aber nicht wahr. Wenn es jemandem gelingt, zehn oder zwanzig Prozent weniger Fleisch zu essen, schafft er mehr als die meisten Menschen. Wir sollten das feiern! lch möchte Konfetti werfen, wenn ich so etwas höre.“

Verrückt, ein schlechtes Gewissen zu haben

Der auf Deutsch etwas sperrige Begriff „Reducetarier“, den Kateman und ein Freund sich 2014 ausgedacht haben, soll diese Bemühungen wertschätzen. Das ist auch deswegen wichtig, weil das Kaufverhalten der Verbraucher:innen im Supermarkt weniger schwer wiegt als die politischen Veränderungen, auf die wir uns einigen können.

Studien und Umfragen zeigen zum Beispiel immer wieder, dass bis zu 80 Prozent der Deutschen eine bessere Tierhaltung wichtig finden. Nur ein paar schmale Prozent kaufen deswegen aber Biofleisch – auch wenn viel mehr es sich leisten könnten. Nur 3,9 Prozent des gekauften Fleischs in Deutschland stammte 2022 aus biologischer Erzeugung.

Man kann das schlimm und egoistisch finden. Das bringt aber nichts außer mehr sinnlose Kommentare in sozialen Medien und wütende Diskussionen mit Menschen, mit denen man eigentlich nur Abendessen wollte. Es gibt eine Alternative: Mitgefühl für Menschen, die oft gute Gründe für ihr Ernährungsverhalten haben.

Ein Beispiel ist die Anthropologin Barbara J. King, die über die Emotionen von Tieren forscht. Als ich ein Interview mit ihr führte, erwähnte King, dass sie für Veganismus ist, sich selbst aber nicht rein pflanzlich ernährt. Weil sie eine schwere Krebserkrankung hinter sich hat und seit der Chemotherapie viele Lebensmittel nicht mehr verträgt.

Auch in meiner Umfrage unter KR-Leser:innen, die sich eine Zeit lang vegetarisch oder vegan ernährt haben, gab ein Drittel der 149 Teilnehmenden an, dass sie aus Gesundheitsgründen wieder angefangen haben, Fleisch zu essen (bei den Gründen waren mehrere Nennungen möglich, hier die Ergebnisse). Manche hatten Heißhunger auf Eier und Speck, als sie schwanger waren, andere kämpften um ihre mentale Gesundheit. „Ich hatte keine Kapazitäten, mich darum zu kümmern, was ich esse. Hauptsache, ich esse überhaupt irgendwas einigermaßen Gesundes“, schreibt KR-Leserin Franziska.

Unter dem Interview mit Barbara King schreibt eine Leserin, die größtenteils vegan lebt: „Manchmal möchte ich auch Mitgefühl mit mir selbst leben und dann wird es eben die Pizza Margherita oder das plant-based Schnitzel mit der Champignon-Rahmsoße.“

Ich finde: Es wäre verrückt, wenn sie deswegen ein schlechtes Gewissen haben müsste.

Wer die Würstchen wirklich zahlt

Es gibt weitere Gründe für dieses Mitgefühl. Oft wird so getan, als wäre Fleischverzicht eine reine Frage der Willenskraft. Das ist aber Unsinn. Erstens ist aus neurowissenschaftlicher Sicht die Existenz der Willenskraft ohnehin eher ein Mythos, wie der Psychiater Judson Brewer mir in diesem Interview erklärt. Zweitens verlangt es von Menschen sehr viel, sich einem ganzen System zu widersetzen, das auf Fleischkonsum ausgerichtet ist.

Fleisch ist auch deshalb verführerisch billig, weil Fleischproduzenten und Einzelhändler die tatsächlichen Kosten ihrer Waren erfolgreich externalisiert haben. Nicht sie, sondern die Allgemeinheit zahlt, um die Belastungen für Umwelt, Klima, Wasser, Böden und Gesundheit zu beheben, die bei der industriellen Tierhaltung entstehen. Der Discounter Penny hat im Sommer 2023 – in Zusammenarbeit mit der Universität Greifswald und der Technischen Hochschule Nürnberg – vorgemacht, wie die echten Preise aussehen müssten: Auf den Preisschildern in Penny-Märkten war eine Zeit lang der günstigere Preis durchgestrichen, daneben stand einer, der die tatsächlichen Kosten der Lebensmittel abbildete, inklusive der Kosten für Umwelt: Würstchen für 6,01 Euro statt 3,19 Euro, Mozzarella 1,55 Euro statt 89 Cent.

Hinzu kommt, dass Fleisch hervorragend vermarktet wird. Der Herstellungsprozess und die Lieferketten sind bei Fleisch aus dem Supermarkt für Verbraucher:innen fast völlig verborgen und intransparent. Die wenigsten Deutschen waren schon einmal in einem Schlachthof (ich hingegen schon, und es hat mir den Appetit nachhaltig verdorben.

Und schließlich sind wir in unserer Kultur daran gewöhnt, überall Fleisch und Fisch auf den Speisekarten und im Mittelpunkt gemeinsamer Mahlzeiten zu sehen. Selbstverständlich stehen auf fast allen Speisekarten Fleischgerichte, natürlich wird es uns im Flugzeug serviert, im Bordbistro der Deutschen Bahn und ist Teil des Caterings der Weihnachtsfeier. Fleisch ist außerdem einfach zuzubereiten, schmeckt den meisten und macht satt. Besonders für Menschen, die sich neben dem Abendessen auch um Kinder und Verwandte kümmern müssen, einen stressigen Job haben oder anders belastet sind, sind das wichtige Faktoren.

Es ist erstaunlich, wenn Menschen es schaffen, sich all dem zu widersetzen und weniger Fleisch essen. Sie verdienen Anerkennung.

Auf einmal sind Vegetarier und Fleischesser vereint

Auf einer Rede der „Reducetarian Summit“, einer jährlichen Konferenz für die Anhänger der Bewegung, hat Brian Kateman immer wieder vor dem „Narzissmus der kleinen Differenzen“ gewarnt. Der Begriff geht auf Sigmund Freud zurück und bezeichnet das Phänomen, dass Menschen, die sich eigentlich sehr ähnlich oder gleiche Ziele anstreben, einander aufgrund kleiner Unterschiede als Gegner sehen. Statt strikte Trennlinien zwischen Vegetarier:innen, Veganer:innen, Flexitarier:innen und Fleischfans zu ziehen, könnten wir Gemeinsamkeiten finden: Wer sich aktiv bemüht, weniger Tierprodukte zu verbrauchen, um Umwelt, Klima, Tiere oder die eigene Gesundheit zu schützen, leistet einen Beitrag.

Der Gedanke ist größer, als es vielleicht auf den ersten Blick klingt: Auf einmal gibt es dann nicht mehr einander kritisierende Gruppen, sondern ein Spektrum von Menschen, die mit der modernen Tierhaltung und ihren Folgen nicht einverstanden sind und Konsequenzen daraus ziehen – jede:r, wie er oder sie kann.


Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Astrid Probst, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger.

Ein bisschen weniger Wurst ist ganz schön viel

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