An einem Nachmittag im April beschließe ich, ein guter Schenker zu werden. Das ist ein großer Satz, auch für mich, einen 37-Jährigen, der für eine gewisse Vollmundigkeit nicht unbekannt ist. Aber die Scham, die sich über drei Jahrzehnte entwickelt hat, ist mittlerweile so groß, dass ich mich zum Handeln gezwungen sehe. Das Problem war, ich hatte nie einen Lösungsansatz. Ich dachte, ich bin ein schlechter Schenker, einer, der es praktisch in den Genen trägt, keine schönen Ideen zu haben. Und manchmal braucht die Wahrheit nur jemanden, der sie ausspricht. In diesem Fall an einem Apriltag, als ich mit den Händen in den Taschen vor einem Geschenkeladen stehe, ein Spruch im Schaufenster: „Ein Geschenk ist nur so viel wert wie die Zeit, die man mit seiner Suche verbracht hat.“ Und da wird mir alles klar.
Bei mir verläuft das Verschenken in vier Phasen. Phase 1 ist die Ankündigung eines drohenden Feiertages. Geburtstag, runder Geburtstag, Hochzeiten, am schlimmsten: Weihnachten. In dieser Phase wird mir bewusst, dass ein Geschenk nötig wäre, am besten rechtzeitig. Wobei ich die ersten Tage damit zubringe, das zu tun, was man in diesem Land tut, wenn wichtige Entscheidungen anstehen: nämlich gar nichts.
Phase 2 beginnt praktisch mit der Suche, wobei Suche völlig übertrieben ist. Lustloses Rumgeklicke, Verwerfen irgendwelcher fixen Ideen, die oft am Geld oder an ihrer Verfügbarkeit scheitern, beispielsweise Luxus-Kreuzfahrten oder Trekkingtouren zum 40. Geburtstag. Während die Uhr erbarmungslos die Zeit runtertickt, neigt sich diese Phase langsam dem Ende zu und treibt mich die Panik aus dem Haus.
Anschließend beginnt die Phase des überdrehten Aktivismus. Wobei ich in der Phase feststelle, dass auch andere Termine dringend sind und mich nicht entscheiden kann: Haushalt, Bankgeschäfte oder ein zwingender Termin beim Friseur, den ich anschließend auch wahrnehme und meinen Kopf absenke, wobei mich das Friseurbecken mit entspannt-warmem Wasser entgegennimmt.
Da das mit der Panik ist wie mit dem Hund, den man einmal vom Tisch gefüttert hat, kommt sie zurück und dieses Mal mit Nachdruck. Ich nenne dies die Phase des „kopflosen Herumgeisterns“. Ich renne also – grundsätzlich bis wenige Minuten vor Übergabe – durch Innenstädte, stehe mit tellergroßen Augen unter der Heißluft-Klimaanlage in der Warteschlange bei Ehemals-Karstadt, wobei ich exakt jeden verfluche, außer mich selbst: den Kapitalismus, die konsumfördernden Feiertage, die morschen Kontinentalplatten. Die Leute mit ihrer ständigen Gier, denen die eigenen Wünsche bald aus den Mündern quellen wie Watte aus den Schornsteinen der kleinen Eisenbahnen in der Vorweihnachtszeit. Aber eigentlich, ja eigentlich hasse ich nur mich selbst.
Das Gefühl, ein Geschenk zu überreichen, das man umständlich erklären muss, weil es zum Beschenkten so gar nicht passen will, ist zu unangenehm. Noch viel schlimmer ist im Prinzip der Moment unmittelbar vor der Übergabe, wenn jemand ein tolles Geschenk verteilt und ich an der Reihe bin.
Dieses Jahr, denke ich vor dem Schaufenster an diesem Nachmittag im April, werde ich das ändern. Ein für alle Mal.
Mein Plan: Ich investiere mehr Zeit und besiege meinen Schweinehund. Ich würde mit einer einfachen Formel versuchen, zu schenken. Zeit nehmen. Für jedes Geschenk. Mindestens Wochen, besser Monate. Was bedeutet, ich plane schon jetzt für den Winter.
Die Geheimoperation ist eine Mischung aus „Ich werde es euch allen beweisen“ und „Kann man einen Eindruck revidieren, der einen seit der Kindheit verfolgt, wie ein alter Fluch“.
Bei uns gibt es gute und schlechte Schenker
Seit ich ein Kind bin, bin ich ein schlechter Schenker. Ich meine: ein wirklich schlechter. Meine Familie teilt sich diesbezüglich in Blöcke auf: in die sehr guten und die schlechten Schenker.
Mein Vater verschenkt jedes Jahr grundsätzlich Kulinarisches. Da werden keine Experimente gemacht. Zumeist sind es Gewürze aus aller Welt, die er von seinen Reisen mitgebracht hat. Mittlerweile hat sich in den Gewürzregalen meiner Familie eine einschüchternde Armee von Gewürzgläschen aufgereiht, wobei man hinten wieder mit dem Aussortieren anfängt.
Zu den schlechten Schenkern gehört auch meine Mutter. Sie schmeißt eher Geld auf Dinge, damit sie endlich von der Liste kommen. Wenn sie Geschenke verpackt, tut sie dies in der Regel wenige Minuten vor Übergabe, indem sie sich unter fadenscheinigen Begründungen in einen Raum einschließt. Die Pakete enthalten deshalb meist Spuren eines großen Kampfes.
Der beste Schenker der Familie ist mein Bruder. Er hatte zeitweise kein Geld und verschenkte daher überwiegend Dinge mit Herz. Mir hat er beispielsweise mal den schönsten Schal meines Lebens mitgebracht, den er in Irland einem Bauern abgekauft hatte. Er war aus reiner Schafwolle, grau und dunkelgrün, mit dezenten Streifen. Ich trug ihn mit Stolz, so elegant war er. Bis ich ihn zwei Wochen nach Weihnachten verlor und seither Fragen nach dem Schal ausweichen muss. Heute hat mein Bruder Geld, was heißt, der soziale Druck ist enorm. Er verfügt mittlerweile über das Herz und die Ressourcen. Als Schenker ist er der Maßstab aller Dinge.
Weihnachten ist mein Endgegner
Um endlich ein guter Schenker zu werden, nehme ich als Vorbereitungsfenster den Geburtstag meiner Freundin, dann den meines Vaters, anschließend Nikolaus für meine Kinder – und final: Weihnachten. Der Endgegner, vor dem ich mich am meisten und seit vielen Jahren fürchtete. Es würde der Showdown werden mit meiner Familie, an dessen Ende ich als strahlender Sieger vom Platz ginge. Die Glückwünsche annehmend, mich für den Erfolg entschuldigend, nein, ist doch kein Thema, mache ich gerne. Ich hab das auch nur gesehen und einfach an dich gedacht. Jedem wäre also geholfen.
Zunächst muss ich mich mit den Geistern der Vergangenheit auseinandersetzen. Was ist das – ein gutes Geschenk, das sich von dem gut gemeinten unterscheidet? Worin besteht dieser Unterschied?
Beispielsweise habe ich meiner Ex-Frau mal ein Computerspiel geschenkt. Also eigentlich nur die Hülle. Das Computerspiel habe ich unglücklicherweise nicht mehr rechtzeitig bekommen. Als sie es auspackte, im Kreise ihrer Familie, war die Enttäuschung greifbar. Ich dachte damals, sie mag das Spiel. Das Problem war vielleicht auch der Umstand, dass da gar kein Spiel drin gewesen war. Mir war wieder die Zeit ausgegangen. Ich will nicht mehr mit halb leeren Händen dastehen.
Was auch wichtig ist: eine gewisse Beiläufigkeit. Das berühmte „Ich wollte dir gar nichts schenken, aber dann habe ich das gesehen, und na ja, da musste ich ja!“ So ist meine Mutter mal an ihre Apple-Watch gekommen, als mein Bruder in Spendierlaune war. Während ich daneben saß, zittrig einen weiteren Gutschein oder auch wahlweise gar nichts in der Hand. Wie man also merkt: Der Weihnachtsschock sitzt tief. Ich möchte nicht das inflationär benutzte Wort Trauma verwenden, aber an viele Weihnachten kann ich mich gar nicht erinnern. Sie scheinen wie hinter Nebel zu liegen.
Wer beobachtet, findet die besten Geschenke
Ich beginne also mit meiner Freundin. Wir sind noch nicht allzu lange zusammen, erst wenige Monate, da wäre doch ein gutes Geschenk zum Verfestigen einer doch hoffnungsvollen Bekanntschaft ratsam. Ich gebe mir vier Wochen. In dieser Zeit will ich ein Kleidungsstück finden, das so gut ist, dass sie es selbst nicht gefunden hätte. Es sollte fair sein, aber gleichzeitig nicht ein Vermögen kosten. Die erste Woche schiebe ich die Suche missmutig beiseite.
Die letzten beiden Wochen werde ich ein wenig hektisch, aber es sind noch zwei Wochen. Ich reiße mich zusammen und beginne tatsächlich mit einer umfangreichen Recherche, die im Prinzip bei der Erfindung der Schafwolle beginnt. Ich beschäftige mich mit Pullovern, wie nie zuvor in meinem Leben. Da meine Freundin unter anderem als Sängerin auftritt, soll es etwas Anständiges sein. Wenn es kalt ist, soll sie der Pullover warm halten und gleichzeitig lässig aussehen lassen, nicht wie diese Norddeutschen in ihren Windbreaker-Jacken.
Ich finde einen petrolfarbenen Oversized-Pullover aus Baumwolle, made in EU, unter dem locker die Mikrofonverkabelung verschwindet. Ich kaufe ihn und als sie ihn auspackt, gellt ein spitzer Schrei durch die Wohnung. Farbe getroffen, Größe getroffen, Geschmack übertroffen. Sie drückt ihn im Badezimmerspiegel an sich und kurz darauf mich. Ich blinzle nervös und bin mit derartigen Gefühlen total überfordert. Ein warmes, wohliges Gefühl im Bauch breitet sich aus wie kurz nach einem heftigen Grog.
Wenig später kopiere ich diesen Trick, in dem ich meine Kinder über Wochen genau beobachtete wie ein Vogelkundler. Wenn sie gedankenverloren und still durch den Spielwarenladen streifen, eine Hand an den Kartons. Wo blieben sie stehen? Was sind die Dinge, für die sie sich scheinbar wortlos interessieren?
Zu Nikolaus schenke ich ihnen zwei nicht sehr teure Pokémon-Plüschtiere, klein und verhältnismäßig unscheinbar. Meine Ex-Frau hat andere Dinge auf dem Zettel, aber ich war mir sicher. Glumanda und Pikachu. Meine Kinder lassen sie bis zum heutigen Tag nicht mehr los – und fragen sogar: „Papa, woher weißt du das?“ Ich bin so stolz.
Ich träume vom Triumph
Als Nächster ist mein Vater dran. Zu seinem Geburtstag, vier Wochen vor Weihnachten, schenke ich ihm, da er ja Essen liebt und Spanien, eine Baum-Patenschaft für einen spanischen Orangenbaum, von einem Bio-Bauern, per Crowdfunding. »Damit du in deinem Alter bei Kräften und Vitaminen bleibst«, sage ich beiläufig. Mein Vater ist so begeistert, wie ich ihn nie zuvor gesehen habe. Er nimmt sogar Kontakt mit dem Bauern auf und kündigt an, ihn in den nächsten Monaten besuchen zu kommen, um persönlich seinen Baum anzusehen. Ich gewinne eindeutig Selbstvertrauen. Selbst meine Familie rätselt schon und spricht nur noch hinter vorgehaltener Hand von mir.
Meine Familie scheint sich zunehmend zu fragen, was das hier wird. Immerhin bin ich doch von Kindesbeinen an der schlechteste Schenker. Ob ich überhaupt je etwas anderes geschenkt hätte als Gutscheine über praktische Haushaltsdienstleistungen, fragen sie.
Zwei Wochen später stehe ich auf dem Weihnachtsmarkt. Die Weihnachtseinkäufe in der Hand, „Last Christmas“ läuft, nippe ich am Glühwein, als eine Whatsapp-Nachricht von meiner Familie kommt: Dieses Jahr werden wir uns nichts schenken. Dann habe auch keiner Stress mit den Einkäufen und dem dauernden Herumgehetze. Ob jeder einverstanden sei. Ich schreibe: „Nein“.
Und ich stehe da wie schockgefroren und blicke auf meine Einkäufe und auf mein Telefon und denke: Wie bitte? Warum ausgerechnet jetzt? Es wird die Bitte ausgesprochen, sich daran zu halten, sonst stünde jemand mit leeren Händen da und das wolle man nicht. Alles vergeht wie in Zeitlupe.
Gut, denke ich. Fein. Macht doch, was ihr wollt. Geschenke gekauft, bis weit in 2025 hinein. Super. Ich habe vom Triumph geträumt. Aber zum allerersten Mal fühle ich mich nicht komplett allein. Allein mit dem schlechtesten Geschenk in der Hand. Und ich habe auch keine Angst mehr. Der Druck ist weg. Ich stecke lächelnd das Handy weg und bestelle mit der Einkaufstüte in der Hand noch einen Glühwein. „Last Christmas“ schallt über den Weihnachtsmarkt, „I gave you my heart but the very next day you gave it away …“ Ja, ich freue mich tatsächlich auf Weihnachten. Auf dieses und alle anderen irgendwie auch.
Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos