Seit einigen Monaten sehe ich auf Tiktok immer wieder Schuhe, die ich eigentlich für ausgestorben hielt: Ballerinas. Das sind diese flachen, kleinen Schuhe, die wie eine Mischung aus Gymnastikschläppchen und tiefergelegten High Heels aussehen und Anfang bis Mitte der 2010er wirklich überall waren.
Der Trend rund um diese Schuhe begann etwa vor einem Jahr. In der Herbst/Winterkollektion 2022 der Luxusmarke Miu Miu waren sie erstmals wieder auf dem Laufsteg zu sehen. Wenig später begegneten sie mir überall, vor allem auch auf Tiktok. Parallel entwickelte sich dort nämlich der Trend „Balletcore“, der es bis in die jetzigen Herbstkollektionen geschafft hat.
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Warum aber kommen Ballerinas gerade wieder und was hat Tiktok damit zu tun?
Modetrends auf Tiktok bilden sich oft als Mikroästhetiken und sogenannte Cores. Ballerinas sind nur ein Beispiel von vielen (dazu kommen wir noch). Die Mikroästhetiken bedienen sich einer spezifischen ästhetischen Idee, auf der dann ein ganzer Style aufgebaut wird. Oft hängt jemand noch das englische core an – und fertig. Für Balletcore bedeutet das: sich anziehen wie ein:e Balletttänzer:in. Als Inspirationsquelle dienen sowohl Trainings- als auch Bühnenoutfits, also Beinstulpen, Leggings, Cardigans, fließende Stoffe, Tüllröcke, Bodys und eben Ballerinas. Umgemünzt auf Streetstyle sieht das dann zum Beispiel so aus:
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Die Mikroästhetiken sind Ausdruck davon, wie sich der Trendzyklus durch Tiktok und Social Media insgesamt verändert hat: Während bis vor nicht allzu langer Zeit Trends vor allem von oben, also durch Designer:innen oder Prominente gesetzt wurden, ermöglicht es Social Media jeder Person, Trends zu setzen. Menschen finden Gefallen an einer bestimmten Ästhetik, posten das, was ihnen gefällt, andere schließen sich an – und ein neuer Core ist geboren. Tiktok beschleunigt diesen Mechanismus dank seines Algorithmus’ noch einmal wesentlich. Dauerte es früher etwa 30 Jahre, bis bestimmte Kleidungsstücke wieder in Mode kamen, dauert es heute nur noch zehn. Was nichts anderes bedeutet als: Trends kommen und gehen schneller als früher.
Ich nutze Tiktok seit ziemlich genau zwei Jahren. In dieser Zeit sind mir unzählige Cores und Ästhetiken über den Weg gelaufen, hier eine unvollständige Liste: Blokecore, Cottagecore, Gorpcore, Coastal Grandmother, Old Money, Tomato Girl, Fairy Core, Dark Academia, Barbie Core, Subversive Basics, Cyber Y2K, Business Core. Viele davon waren gleichzeitig im Trend, obwohl sie ungefähr so viel miteinander gemein haben wie der deutsche Rapper Haftbefehl mit der US-amerikanischen Popsängerin Taylor Swift.
Wie Fast-Fashion-Riesen von Tiktok profitieren
Der Trendzyklus wird also immer schnelllebiger. Und dank der Vielzahl an Styles, die gleichzeitig trenden, auch immer undurchsichtiger. Ein Trend wird sich auf Tiktok nicht sehr lange halten, weil die Nutzer:innen aufgrund der Masse an Videos schnell übersättigt sind und immer Neues sehen wollen.
Um bei dieser Geschwindigkeit mithalten zu können, müsste man entweder sehr reich sein oder seinen ganzen Kleiderschrank nur mit Fast Fashion bestücken. Tiktok spielt damit Ultra-Fast-Fashion-Riesen wie Shein in die Hände, die es als einzige schaffen, mit dem schnellen Trendzyklus mitzuhalten: Trendet ein Kleidungsstück, dauert es nur wenige Tage vom ersten Entwurf des Teils, bis du es dann kaufen kannst. Die jährlichen Einnahmen von Shein sind von 2016 bis 2021 um das 26-Fache gewachsen. Wenn ich wollte, könnte ich mir dort für sieben Euro Ballerinas bestellen. Die fallen vermutlich nach einem Mal Tragen auseinander, aber hey, ich hätte den Trend mitgenommen, ein Tiktok-Reel gedreht und könnte weiter zum nächsten ziehen.
Was soll schlimm daran sein, könntest du jetzt einwenden. Soll doch jede:r machen, wie sie oder er will. Gerade beim Thema Mode. Da hast du recht, denn dass Tiktok einen Raum bietet, in dem sich ästhetische Communitys zusammenfinden und wachsen können, ist erstmal eine gute Sache. Auch, dass der Algorithmus ästhetische Nischen mehr Leuten vorschlägt, die sich möglicherweise dafür interessieren könnten. Aber: Tiktok hilft leider auch dabei, ästhetische Subkulturen auszuhöhlen.
Was macht ein Pink-Floyd-Fanshirt bei H&M?
Früher bildeten sich modische Subkulturen um eine bestimmte Fan-Identität herum. Musik ist dafür ein gutes Beispiel. Punks hatten ihren eigenen Stil, Rap-Fans auch. Manchmal wurde ein:e Designer:in auf solche Subkulturen aufmerksam und ließ sich davon inspirieren. So wurde eine Subkultur einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich und dann von der Modeindustrie unter Umständen zu Geld gemacht. Das lässt sich zum Beispiel gut bei Bandshirts beobachten, die früher nur von Fans getragen wurden. Heute laufen Zwölfjährige mit Pink-Floyd-T-Shirts von H&M durch die Gegend, die wahrscheinlich nicht einmal wissen, dass es sich dabei um ein Bandshirt handelt.
Mit Tiktok verändert sich dieser Prozess radikal. Denn Subkulturen bilden sich auf der Social-Media-Plattform nicht erst einmal aus sich selbst heraus und werden anschließend von der Modeindustrie entdeckt, sondern sie werden von ihr mit geschaffen. Die Vermarktung beginnt schon bei der Entstehung. So wird verhindert, dass die Subkultur eine wirkliche Identität ausbilden kann. Wer heute Balletcore trägt, liegt im Trend. Er oder sie trägt nur leider nicht viel mehr als eine inhaltslose modische Hülle, die sich auch noch wunderbar als Content weiter vermarkten lässt, entweder direkt oder über Influencer, die zeigen, wo sie sich das perfekte Balletcore-Outfit gekauft haben. Subkultur wird so auf ein bloßes Bündel ästhetischer Komponenten reduziert, deren Teil du mit den richtigen Kleidungsstücken von Shein und Co. werden kannst. Am Ende ist Subkultur, wie alles andere auch, nur noch eine konsumierbare Ware.
Aber nicht nur Subkulturen leiden unter dieser Entwicklung. Ich glaube, der Tiktok-Trendzyklus ist auch schlecht für deinen persönlichen Stil. Wer sich ständig in neue Mikroästhetiken einkauft, diese aber schnell wieder für den nächsten Trend verlässt, hat weder Zeit, wirklich Teil der Subkultur zu werden, noch hat die Person genug Zeit mit diesem Stil verbracht, um ihn sich wirklich anzueignen und zu einem Teil der eigenen Persönlichkeit zu machen. Wie man seinen eigenen Stil finden kann und was Stil eigentlich ist, habe ich übrigens in diesem Text erklärt.
Der Umsatz von Fast Fashion wird weiter steigen. Auch, weil Mode ein Statussymbol ist
Wo wird das alles hinführen? Wird sich der Trendzyklus vielleicht immer schneller drehen und irgendwann auflösen, sodass es gar keine Trends mehr gibt?
Der Markt für Fast Fashion wird bis 2031 bis auf einen Wert von 240 Milliarden US-Dollar wachsen. Zum Vergleich: 2021 betrug der Marktwert noch 91 Milliarden US-Dollar. Auch die Zahl der Tiktok-Nutzer:innen wird weiter steigen. Die Modeindustrie scheint also noch nicht an ihre Grenzen gestoßen zu sein. In der näheren Zukunft wird sich wohl nichts daran ändern, wie die Trendmaschinerie Tiktok funktioniert.
Das liegt vor allem daran, dass Trends zentraler Bestandteil von Mode sind. Sie sind Statussymbole. Die Personen, die zum Beispiel als erste Ballerinas trugen im Herbst 2022, als der Rest der Welt noch schief guckte, nennt man Trendsetter und Early Adopters. Sie entscheiden mit darüber, was die breite Masse ein paar Monate später bei Zara kaufen wird. Wer dem Hype folgt, signalisiert, er oder sie verfügt über das nötige Wissen, Teil des Trends zu sein und wertet damit das eigene kulturelle Kapital auf.
Wenn dann zu viele Menschen auf den Trend aufgesprungen sind, muss man weiter zum nächsten, um den eigenen Status zu erhalten. So erhöht der nicht enden wollende Strom inkonsequenter Trends natürlich den Druck auf Social-Media-Nutzer:innen, sich ständig neue Kleidung kaufen zu müssen, um mithalten zu können.
Um Trends irrelevant werden zu lassen, müsste also die Funktion von Mode als Statussymbol wegfallen. Wie das aber funktionieren soll, geschweige denn in einer kapitalistischen Welt, ist mir schleierhaft. Vor allem mit einer Modeindustrie, der es in großen Teilen nicht darum geht, qualitative und kreative Kleidung herzustellen, sondern so viel Gewinn wie möglich zu generieren.
Lass dich nicht aus der Ruhe bringen. Persönlicher Stil ist zeitlos
Wer das Gefühl hat, sich ständig neue Klamotten kaufen zu müssen, um nicht alt auszusehen, sollte sich eins klar machen: Der Trendzyklus, wie ich ihn in diesem Text erklärt habe, ist ein Phänomen, das in erster Linie online stattfindet. Viele Trends verlassen Tiktok niemals wirklich, wie in diesem Video sehr gut veranschaulicht wird.
Als ich im Sommer durch Berlin lief, fielen mir selten Leute in einem kompletten Blokecore-Outfit auf, obwohl ich auf Tiktok gefühlt nichts anderes gesehen habe. Am gesündesten ist es wohl, den absurden Trendzyklus als Inspirationsquelle zu nutzen und sich hie und da die Sachen herauszusuchen, die einem gefallen. Verrückt machen lassen solltest du dich allerdings nicht. Sondern Trends und Mode spielerisch sehen. Immerhin wirst du so mit einer Vielzahl von Styles konfrontiert, die du vorher vielleicht noch nicht kanntest oder die du wiederentdecken kannst – wie zum Beispiel Ballerinas oder dein Pink-Floyd-Shirt.
Redaktion: Esther Göbel, Bildredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert