Wie ein Synchronschwimmer, jedoch ohne dessen olympische Grazie, kippe ich in Zeitlupe nach hinten. Fängt mich jemand auf und führt mich zu einer sanften Landung? Nein. Unsanft lande ich mit dem Hinterkopf auf dem Boden. Erschüttert von der Wucht des Schlags, bleibe ich erstmal liegen. Eine Frage schießt mir durch den Kopf: Wie bin ich um Himmels Willen in diese Situation geraten?
Es ist 1998, ich befinde mich in Karlsruhe. Fünf Minuten zuvor saß ich noch in der vorletzten Reihe eines Heilungsgottesdienstes einer Freikirche, gemeinsam mit mehreren tausend Menschen. Sie alle wollen einen amerikanischen Pastor hören, der über Totenauferweckungen spricht. Angeblich hat er sie auf seinen Missionsreisen in Mexiko erlebt. Gott hätte durch ihn blinden Kindern das Augenlicht geschenkt, erzählt er und blickt selbst feurig in die Menge.
Menschen habe er vor dem Teufel gerettet und sie mit dem Heiligen Geist berührt. Immer wieder ruft er in die Menge: „Fuego de dios!“, und die Übersetzerin neben ihm folgt wie ein Echo: „Feuer Gottes!“ Damit meint der Pastor die sogenannte Kraft des Heiligen Geistes.
Zum Ende der Predigt lädt er die Besucher ein, nach vorn zu treten, um das Feuer Gottes zu empfangen. Ich sehe, wie der Pastor Leuten die Hände auflegt und für sie betet. Einige fallen rückwärts um, andere Gläubige fangen sie auf. Ich bin beeindruckt. Dieser Mann muss wirklich die Kraft Gottes haben! Ich trete nach vorn und stellte mich in die Reihe. Doch dann wirft mich nicht Gottes Kraft, sondern die Wucht der flachen Hand des Pastors auf meiner Brust zu Boden. Und da liege ich nun. Er hat mich tatsächlich geschlagen!
Wie mir antichristliche Black-Metal-Musik das Leben erleichterte
Acht Jahre zuvor konnte ich mit diesem wilden Christentum noch nicht viel anfangen. Als Jugendlicher trug ich schwarze Shirts, schwarze Jeans und schwarze Schuhe. Lange, zu einem Zopf gebundene Haare mit Undercut rahmten mein Gesicht. Aus meinen schaumstoffgepolsterten Kopfhörern dröhnte Black Metal – so satanisch, dass selbst der Teufel sich die Ohren zugehalten hätte. Mit umgedrehten Kruzifixen und Pentagrammen auf den Albumcovern standen diese Bands für den Hass auf Kirche, Gott und Gesellschaft. Und diesen Hass teilte ich. Aus gutem Grund.
Jahrelang mobbten mich Mitschüler:innen auf dem Pausenhof und im Klassenzimmer. Spuckten mir ins Gesicht, lachten mich aus und prügelten auf mich ein. Meinen Nachnamen „Gommel“ benutzten sie als Schimpfwort. „GOMMEL, GOMMEL“, riefen sie mir ständig hinterher. Und ich schämte mich. Dazu kam: Während andere Mitschüler:innen nachmittags auf dem Fußballplatz ausgelassen kickten, bekam ich zu Hause von einer erwachsenen Person Prügel, unterstrichen vom Schlag einer Gürtelschnalle.
Im Alter von zwölf wollte ich mit Menschen nichts mehr zu tun haben, weil niemand etwas mit mir zu tun haben wollte. Stattdessen fand ich Zuflucht im Black Metal, der härtesten Variante des Metal-Genres. Der kreischende Gesang, die düster klirrenden Gitarren und die rasanten Drums von Dimmu Borgir, Emperor und Cradle of Filth gaben mir das Gefühl, Verbündete zu haben. Satanisten zündeten Kirchen an, drehten Kreuze um, und ich dachte: Am liebsten würde ich meinem ganzen Heimatdorf die Hölle heiß machen und die verdammte Schule abfackeln.
Dann kam Gottes Liebe dazwischen
In den darauffolgenden Jahren begann ich, E-Bass zu spielen. Ich nahm Unterricht beim besten Basslehrer im Umkreis. Zu Hause übte ich stundenlang die Songs meiner Lieblingsbands. Hausaufgaben machte ich kaum noch. Gelegentlich kamen Musiker-Kids bei mir vorbei, um mir zuzuhören. So sprach sich mein Bass-Talent herum. Eines Tages lud mich die beliebteste Alternative-Band im Landkreis zur Probe ein – und nahm mich als neuen Bassisten auf. Diese Leute sprachen mich nicht mit „Gommel“ an, sondern mit „Martin“ – und der Schlagzeuger, nennen wir ihn Michael, wurde mein bester Freund.
Christian, der Gitarrist, hatte braune Locken und war stets gut gelaunt. Er strahlte besonders, wenn er uns im versifften Probenraum bei einer Marlboro-Zigarette von der Zuneigung Jesu erzählte. Gott, sagte er, hätte uns Menschen geschaffen und würde jeden einzelnen von uns ewig lieben. Obwohl ich mit dem Jesus-Thema wenig anfangen konnte, ließen mir Christians positive Gott-Vibes keine Ruhe. Bitte was? Woher nahm er diesen Enthusiasmus, diese unerschütterliche Zuversicht und Lebensfreude?
Ich musste es herausfinden. Wir trafen uns im Medici, unserer Lieblingsbar in Baden-Baden, und Christian beantwortete meine Fragen. Tausend Prozent davon überzeugt, dass Jesus am Kreuz für mich gestorben sei, erzählte er mir eine Liebesgeschichte, von der ich noch nie gehört hatte – der Liebe zwischen Gott und mir. Es fühlte sich an wie eine wohlig warme Dusche nach einem ewig langen Marsch durch die Antarktis. Doch ich zweifelte. „Christian“, sagte ich, „wenn Gott mich so liebt, wieso spüre ich davon nichts?“ Christian lächelte weise in den Zigarettenqualm: „Du musst Gott dein Leben übergeben“, sagte er. „Und um die Vergebung deiner Sünden bitten musst du auch.“
Tagelang grübelte ich wie ein Philosoph vor einer leeren Weinflasche. Noch hatte ich Zweifel, doch die Entscheidung, von Christ:innen auch „Bekehrung“ genannt, lag nun bei mir. Mir war unklar, warum ich Gott mein Leben anvertrauen sollte, wenn er mich ohnehin erschaffen hatte. Vor allem wusste ich nicht, was mit „Sünde“ gemeint war. Zählte dazu auch, dass ich so oft Zigaretten im Schlecker-Markt klaute, wie andere Leute Sport machten? War gelegentliches Kiffen auch eine Sünde?
Ein paar Tage später, ich stand gerade morgens an der Bushaltestelle, war ich so weit. Was hatte ich schon zu verlieren? Nichts, dachte ich. Eigentlich konnte es nur besser werden. Ich schob meine Zweifel beiseite, zog meine Jacke zu und sagte laut zu mir selbst: „Jesus, ich übergebe dir jetzt mein Leben.“ Und dann wartete ich. Eine göttliche Erscheinung kam nicht, dafür der Bus.
Gott saß wie Gandalf auf einem Mittelalter-Thron
Christian lud mich in einen sogenannten Bibelkreis ein, in dem sein Lehrer mit Schüler:innen in „Gottes Wort“ las. So nannten sie die Bibel. Jeden Mittwochabend saßen wir in Haralds Wohnzimmer bei Apfelschorle und Chips, lasen einen Absatz aus dem Neuen Testament und beteten gemeinsam.
Harald, Christian und die anderen sprachen Gott mit „Vater“ an und duzten ihn. Es war, als ob sie mit einem sympathischen Vorgesetzten sprächen. Statt um eine Lohnerhöhung baten sie um seinen „reichen Segen“. „Vater, wir loben und preisen dich“, betete Hans. „Es ist so schön, dass du jetzt hier unter uns bist.“ Auch ich begann, mit Gott zu reden. Es fühlte sich erfrischend an, mit einer solchen Macht per Du zu sein.
Ich stellte mir Gott als einen alten Mann vor. In meinem Kopf ähnelte er Gandalf aus dem „Herrn der Ringe“. Er saß auf einem mittelalterlichen Thron, trug ein langes, weißes Gewand, das Jesus neidisch machen würde, und eine Krone mit roten Rubinen. Dabei strahlte er wie eine Discokugel und schaute mich liebevoll an.
Im Bibelkreis wurde auch die Rolle Satans thematisiert. Vor dem sollte ich mich hüten, da er meine Gedanken beeinflussen und mich zum Sündigen verleiten könne. „Bis zu deiner Bekehrung hat dich der Teufel komplett kontrolliert, doch jetzt ist Gott der Herr deines Lebens“, sagte Harald. Mit „Herr“ war weniger das Geschlecht, sondern die Autorität Gottes gemeint. Ich hinterfragte diese Glaubenssätze – und so manche Widersprüchlichkeiten – nicht. Stattdessen entsorgte ich meine Black-Metal-CDs und drehte mein Kruzifix so, dass Jesus nicht mehr mit dem Kopf nach unten hing.
Später lud mich Christian zu einem freikirchlichen Gottesdienst ein. Wir betraten einen Saal, in dem schon ungefähr 50 Menschen in langen Kleidern, Hemd und Krawatte versammelt waren. Sie sangen deutsche und englische Lieder, die Texte warf ein Tageslichtprojektor an die Wand. Viele hoben die Hände gen Himmel und brummelten unverständliches Kauderwelsch, das selbst Google Translate nicht übersetzen könnte. Sie wirkten, als wären sie in Trance – oder hätten zumindest eine Tüte zu viel geraucht. Manche weinten sogar. Andere lachten, die Augen geschlossen.
„Wo bin ich denn HIER gelandet?“, dachte ich. Früher hätte ich sofort den Ausgang gesucht, doch Christian hatte mich vorbereitet. „Das wird am Anfang etwas komisch, aber keine Angst, das sind alles tolle Leute, die Gott wirklich lieben!“ Ich blieb. Über Monate kam ich immer wieder. Und sang sogar die Lieder inbrünstig mit.
Du bist der Herr, der mein Haupt erhebt,
du bist die Kraft, die mein Herz belebt.
Du bist die Stimme, die mich ruft,
du gibst mir Rückenwind.
Du flößt mir Vertrauen ein, treibst meine Ängste aus,
Du glaubst an mich, traust mir was zu, forderst mich heraus.
Deine Liebe ist ein Wasserfall auf meinen Wüstensand.
Und wenn ich mir nicht sicher bin, führt mich Deine Hand.
Der Pastor legte mir die Hand auf und ich hielt mir die Nase zu
Uns Neubekehrten wurde vom Pastor der Gemeinde immer wieder eine Taufe nahegelegt. Ich sei doch schon katholisch getauft, entgegnete ich. „Aber damals warst du ein Baby und hast dich nicht bewusst für Jesus entschieden“, sagte er. Mit einer Taufe würde ich ein Zeichen setzen, dass ich jetzt wirklich ein Christ sei. Ein Zeichen an Gott, an die Gemeinde und, Trommelwirbel, auch an Satan. Wieder hatte ich Zweifel. „Erst muss ich Gott mein Leben geben und dann tauchen gehen, damit auch der Teufel kapiert, dass ich voll und ganz dabei bin?“
Nach nur wenigen Wochen sagte ich mir wieder: Was habe ich schon zu verlieren? Ich überging meine Zweifel, denn sie wurden, wie der Bibelkreislehrer sagte, von Satan gesät. Gleichzeitig wollte ich unbedingt dazugehören und stellte mir die Taufe wie ein Upgrade für mein Christsein vor. Premium-Christ statt nur dabei.
Vier Wochen später stand ich sonntagnachmittags in einem Schwimmbecken, das im Untergeschoss des Gemeindehauses eingerichtet war. Am Beckenrand tirilierten die Gemeindemitglieder: „Satan ist besiegt.“ Der Pastor legte mir die Hand auf, ich hielt die Nase zu und lehnte mich rückwärts ins Wasser. Als ich mithilfe des Pastors wieder auftauchte, fühlte ich mich wie ein Kind mit Seepferdchen-Abzeichen. Jetzt war ich ein richtiger Christ!
Alles ist erlaubt, aber die Hosen bleiben an!
Für nicht-verheiratete Christen galt ein Gebot, das nicht gebrochen werden durfte. Kein Sex vor der Ehe. Die Idee dahinter war, dass Sex eine Art heiliger Superkleber zwischen Menschen ist, den man nur mit dem zukünftigen Ehepartner teilen sollte. Meine Freundin verstand sich damals auch als Christin und wir bemühten uns nach Kräften, dieses Gebot einzuhalten. Die Fünfzigerjahre waren offiziell zurück.
Obwohl wir bis zum Ende unserer Beziehung nicht ein einziges Mal miteinander Geschlechtsverkehr hatten, rangen wir mit der Frage, wo Sex beginnen und wo er aufhören würde. Also dachten wir uns eine Grenze aus: Alles ist erlaubt, aber die Hosen bleiben an, die Reißverschlüsse zu.
In unseren Köpfen versteckte sich jedoch eine andere, unausgesprochene Grenze: Nicht mehr als küssen. Und jedes Mal, wenn wir uns auch nur ein bisschen näherkamen, fühlten wir uns danach so schuldig, dass wir beteten, als hätten wir gerade einen Banküberfall geplant. Jedes. Verdammte. Mal. Eins kann ich dir sagen: Unser Sexualleben war damit ruiniert.
Davon bekam die Mutter meiner Freundin Wind und legte mir eines Tages beiläufig ans Herz, doch mit ihrer Tochter zu schlafen. Es mit dem Glauben nicht zu genau zu nehmen. Für ihre Tochter sei ich der richtige Mann und würde sie ohnehin eines Tages heiraten. Na super.
Ich brannte für verlorene Seelen
Irgendwann wurde ich selbst zum Missionar. Die Menschen um mich herum glaubten, dass nach dem Tod nur in den Himmel käme, wer sich zu Lebzeiten für Jesus entscheide, also bekehrt wird. Alle anderen seien für immer verdammt. Das Ziel eines jeden Christen sei, möglichst viele Menschen zu retten, vom Glauben zu überzeugen. Ich nahm das persönlich. Meinen Vater, Freund:innen und Mitschüler:innen textete ich mit der Liebe Gottes zu und machte unmissverständlich klar, dass sie sich möglichst bald für ihn entscheiden müssten, da sie sonst in die Hölle kämen. Nett, oder?
Je mehr ich eine Person mochte, desto unerbittlicher versuchte ich, sie zu überzeugen. Dieses „Brennen für die verlorenen Seelen“ genoss in christlichen Kreisen hohes Ansehen. In einem Gottesdienst sollten wir sogar aufschreiben, wie viele Seelen wir im nächsten Jahr „retten“ wollten. Ich fühlte mich wie ein Versicherungsfuzzi, der seine Quartalsziele erreichen muss.
Durch meinen missionarischen Drang bekam ich regelmäßig Streit mit meinem Vater. Er begeisterte sich für Kathedralen und Bach, aber beim Thema Himmel und Hölle endete unsere Freundschaft. Er sagte einen Satz, den ich nie vergessen werde: „Ich glaube an keinen Gott, der seinen Sohn ans Kreuz nageln lässt.“ Aus diesen Worten sprach nicht nur Skepsis, sondern auch, wie ich heute verstehe, die Liebe meines Vaters zu mir.
Auch der Schlagzeuger unserer Band kam mit meiner Veränderung nicht klar und damit, dass ich ständig über Gott reden wollte. Er hatte mich als jemanden kennengelernt, der lauten Black Metal hört und sich für Musik und coole Klamotten interessiert. Doch nach meiner Bekehrung sprach ich nur noch vom Heiligen Geist und der barmherzigen Liebe Jesu. Ich erinnere mich an ein Treffen in einem Café. Michael saß mir gegenüber und weinte. „Ich kann mit dir nichts mehr anfangen, Martin, du hast dich zu krass verändert!“ So richtig erholte sich unsere Freundschaft nie wieder.
Sind Freikirchen wie Sekten? Das hängt von der jeweiligen Gemeinschaft ab. Sekten zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihren Mitgliedern bestimmte Freiheiten vorenthalten, strenge Regeln für alle Lebensbereiche aufstellen und Mitglieder bestrafen, die diese Vorgaben nicht befolgen. In manchen Freikirchen ist das der Fall.
Wie konservativ sind Freikirchen? Viele freikirchliche Gemeinschaften haben festgelegte Vorstellungen von Familie und Sexualität. Sex vor der Ehe ist tabu, Schwangerschaftsabbrüche gelten als Teufelszeug. Und einige Freikirchen sichern sich den Anspruch, dass ihre Art des Glaubens der einzig wahre Weg zur Erlösung ist.
Was geschieht, wenn man gegen ihre Lehren verstößt? Die Konsequenzen variieren je nach Gemeinschaft. Bei einigen kann es zu Ausschlüssen kommen, wenn Mitglieder den vorgegebenen moralischen Richtlinien nicht entsprechen: queer leben, die Bibel liberaler interpretieren oder sich nach einer Trennung neu verlieben. Auch öffentliche Kritik und Differenzen mit Führungspersonen können zum Ausschluss führen.
Wie viele Mitglieder gibt es in Deutschland? Über Freikirchen in Deutschland gibt es keine offizielle Statistik, da die Mitgliederzahlen variieren können. Das größte Netzwerk, die Vereinigung Evangelischer Freikirchen, hat derzeit ungefähr 300.000 Mitglieder.
Die Strafe Gottes
Ich war 20 Jahre alt. Kurz vor den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 wechselte ich zu einer jüngeren, meiner Meinung nach moderneren, evangelischen Freikirche in einer benachbarten Ortschaft. An einem Sonntag nach 9/11 verkündete ein Gastprediger eine für mich undenkbare Interpretation der Ereignisse: „Die Anschläge sind Gottes Strafe für die Sünden der Amerikaner, weil Homosexuelle dort offen ihr Begehren ausleben.“
Im selben Gottesdienst verurteilte er den muslimischen Glauben. Der Islam sei die „falsche Religion“, weil nur die Bibel das Wort Gottes enthalte, nicht der Koran. Dieser offene Rassismus und die Homofeindlichkeit irritierten mich. Aber ich hatte niemanden, mit dem ich darüber reden konnte. Erst Jahre später wurde mir klar, wie gefährlich diese Sätze waren. Heute kann ich selbst nicht mehr verstehen, warum diese Menschenfeindlichkeit für mich kein Weckruf war.
Anstatt sofort auszutreten, wie ich es hätte tun sollen, traf ich in den Gottesdiensten junge Erwachsene, mit denen ich mich anfreundete – und Sascha. Ich mochte ihn augenblicklich. Samstags und sonntags spielten wir Billard und unter der Woche beteten wir per SMS füreinander. „Martin, ich segne dich“, schrieb mir Sascha. Ich zurück: „Und ich bete, dass du Gott heute begegnest!!!“ Außerdem schauten wir begeistert Filme über Heilungsgottesdienste amerikanischer Evangelisten wie Benny Hinn und Kenneth Copeland.
Eine Antwort, so verletzend wie eine Dornenkrone
In den folgenden Monaten wurden meine Zweifel dennoch stärker. Im Sonntagsgottesdienst fiel mit etwas auf, das mich beunruhigte. Ich hatte den Eindruck, dass die Lobpreis-Band, die uns zum Singen anleitete, nicht mit dem Herzen dabei war. Für mich war die Anbetung Gottes etwas Heiliges, Persönliches. Die englischen Lieder, die von „Come, now is the time to worship“ bis „Blessed be the name“ reichten, wirkten auf mich jedoch wie eine seelenlose, perfekt inszenierte Show. Zu perfekt. Die Songs waren astrein gemischt, der Schlagzeuger kam keine Millisekunde aus dem Takt und die Sängerin klang wie Superstar Mariah Carey, mit Scheinwerferlicht auf ihrem Gesicht. Da ich dem Pastor und Gemeindeleiter vertraute, verabredete ich mich mit ihm in seinem Büro und legte meine Bedenken offen dar.
Seine Antwort war so verletzend wie eine Krone aus Dornen: „Das hat dir der Satan gesagt.“ Ich war sprachlos. „Du bist für die Gemeinde nicht mehr tragbar“, fuhr er fort, als würde er ein Urteil verkünden. Ich müsse sämtliche Freundschaften beenden, die ich in der Gemeinde geschlossen hatte. Mit finsterem Blick legte er nach: „Und wehe, du sagst auch nur EIN schlechtes Wort über diese Gemeinde.“
Ich verließ das Büro im Schock, konnte kaum glauben, was ich gerade gehört hatte. Zu meinem Entsetzen meldete sich Sascha nie wieder, und auch die anderen „Freunde“ waren auf einmal keine mehr. Die blinde Obrigkeitshörigkeit entfachte in mir Wut, die auch gegen mich selbst gerichtet war: Wie konnte ich nur so doof gewesen sein? Wie hatte ich glauben können, in dieser Gemeinde echte Freunde zu finden? Alle, wirklich alle, außer Saskia, die zu meinen „Freunden“ gehörte, wandten sich ab. Nachdem der Pastor die Gemeinde über meinen Ausschluss informiert hatte, rief sie mich sofort an. Ihre Worte berühren mich bis heute: „Ich sehe keinen Grund, den Kontakt zu dir abzubrechen“, sagte sie.
Wie mir progressive Christ:innen ein neues Zuhause gaben
Nachdem ich mit traditionellen Gemeinden nichts mehr zu tun haben wollte, fand ich in einer Großstadt Anschluss bei den cooleren Christen und blieb in dieser Gemeinde zehn Jahre lang. Sie trugen Docs, tief sitzende Jeans und schwarz gefärbte Emo-Frisuren. Ihre Gottesdienste wurden mit Triphop unterlegt, die Predigten waren bodenständig und die selbst geschriebenen Lieder klangen wie „geile Mucke“, wie wir damals sagten.
All das hatte mit dem beengenden Gefühl der Freikirchen nichts mehr zu tun. Wir zerpflückten das überkommene Himmel-Hölle-Narrativ und schmissen viele freikirchliche Dogmen über Bord. Wir waren mehr an sozialer Gerechtigkeit interessiert als an der Frage, was Sex vor der Ehe ist und was nicht. Wir gründeten Bands, schrieben unzählige neue Songs und erfanden jeden Gottesdienst neu.
Ein halbes Jahr nach der Trennung von meiner Frau verliebte ich mich neu. Als meine Freund:innen davon erfuhren, schrieben sie mir gehässige Nachrichten, in denen klar wurde: Wir möchten dich hier nicht mehr haben. Es war, als hätte ich die ungeschriebene Regel gebrochen, dass man nach einer Trennung mindestens ein Jahr lang trauern muss, bevor man wieder glücklich sein darf. Das hätte ich von meiner neuen Gemeinde nie erwartet.
Schon wieder wurde ich aus meinem Umfeld geworfen, das ich mir über die Jahre aufgebaut hatte. Daran zerbrachen nicht nur Freundschaften, sondern auch ich. Ein halbes Jahr später fand ich mich in der Psychiatrie wieder, wo ich elf Wochen bleiben sollte. Danach kehrte ich dem Christentum endgültig den Rücken zu. Ich suchte mir keine neue Gemeinschaft, warf meine Bibel in den Müll. Den Glauben an Gott habe ich irgendwo auf der Strecke verloren.
Mein Hass hat sich in Kritik verwandelt
Anfang September 2023 saß ich adrett in Hemd und Krawatte gekleidet in der zweiten Reihe eines Gottesdienstes. Nein, kein Heilungsgottesdienst mit Klatsch auf die Brust. Ich war Trauzeuge von Daniel, einem meiner besten Freunde. Er ist Christ, aber der Glaube steht nicht zwischen uns. Was Daniel auszeichnet, ist sein Verständnis für meine Lebensgeschichte. Er mischt sich nicht ungefragt in mein Leben ein und versucht nicht, meine Ansichten zu ändern. Und ich nicht die seinen.
Gelegentlich necken wir uns in freundschaftlicher Manier. „NUR DER HERR JESUS“, pruste ich dann heraus. Damit spiele ich darauf an, dass viele Christen davon ausgehen, dass man nur durch Jesus vor der Hölle gerettet wird. „Tja, dann kommst du halt nicht in den Himmel“, erwidert er. Und dann lachen wir drei Minuten lang.
Heute höre ich wieder satanischen Black Metal und trage gerne schwarz. So erinnere ich mich an die Zeit vor dem Glauben an Gott. An meine Jugend und an das, was mir die Musik damals gegeben hatte: Halt. Diesen fühle ich noch heute. Mein einstiger Hass auf die Gesellschaft hat sich verwandelt. Ich kritisiere sie jetzt lieber, als Journalist.
Für meinen nächsten Text suche ich einen Gemeindepastor, der mir sagen kann, wie es nach dem Tod mit mir weitergeht – jetzt, wo ich mich vom Christentum verabschiedet habe. Kennst du einen? Schreibe mir: martin@krautreporter.de. Wenn du nichts verpassen willst, abonniere gerne meinen Newsletter „Die Wochendosis“.
Redaktion: Theresa Bäuerlein und Franziska Schindler, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert