Collage: Die Mondphasen und die Wipfel eines Waldes bei Nacht.

Mark Tegethoff, naraa .in.ub/Unsplash

Sinn und Konsum

Wie moderne Hexen hexen

Hexentum ist eine moderne Religion. Ich hielt das für spirituellen Blödsinn – bis ich mit einer Hexe gesprochen habe.

Profilbild von Isolde Ruhdorfer
Reporterin für Außenpolitik

Machst du dir gerade Sorgen um die Zukunft? Wie wär’s mit einmal Kaffeesatz-Lesen? Kostet nur 25 Euro auf Kleinanzeigen, Zahlung per Paypal oder Online-Banking. Oder möchtest du gleich selbst hexen? Dann könntest du eine Hexenschule besuchen, inklusive Abschlussprüfung und Zertifikat mit Noten.

Natürlich kannst du das jetzt als eine Kuriosität abtun. Aber Hexerei ist mehr als nur die Spinnerei von Einzelnen.

Esoterik boomt seit Jahren, und das merke ich in meinem Umfeld. Vor allem die Gen Z – meine Generation – schiebt schlechten Schlaf gerne auf den Vollmond oder versucht, Geld und Erfolg zu manifestieren. Meine kleine Schwester gehört auch dazu: Sie fragt jede:n (wirklich jede:n!) nach dem Sternzeichen, legt Tarotkarten und hat einen Handlese-Workshop besucht. Eine besonders beliebte Spielart der Esoterik unter jungen Menschen ist die Hexerei.

In Deutschland bezeichnen sich zehntausende Personen als Hexe. Ihre Reichweite, nicht nur in Deutschland, ist enorm. Auf TikTok hat der Hashtag #WitchTok 47 Milliarden Aufrufe, auf Instagram sind unter #witch fast 20 Millionen Beiträge zu finden. In der Popkultur sind Hexen beliebt, zum Beispiel treten die Sängerinnen Dua Lipa und Megan Thee Stallion in dem Musikvideo von „Sweetest Pie“ als sexy Hexen auf, die zwei Männer im Kessel kochen.

Ich verstehe nicht, warum Menschen an Hokuspokus glauben

Eigentlich wollte ich einen Text darüber schreiben, warum mich der Hexen-Trend provoziert und irritiert. Denn für mich ist es schwer zu begreifen, warum Menschen an Hokuspokus glauben: Es ist schlichtweg irrational, Personen bestimmte Charaktereigenschaften zuzuschreiben, nur weil sie im Monat Juli geboren wurden. Außerdem macht es passiv und unpolitisch, auf magische Kräfte zu hoffen.

Mehr zum Thema

Doch je länger ich für diesen Text recherchierte, desto mehr habe ich mich mit der Hexerei versöhnt. Ich habe gelernt, warum Hexen politisch sein können und die Welt um sich herum verändern wollen. Ich habe erfahren, wie Hexerei und Feminismus zusammenhängen. Und ich habe gemerkt, dass auch in mir ein kleines bisschen Hexe steckt.

Die Hexen von heute praktizieren ihren Glauben unterschiedlich: Sie verbrennen Kräuter, singen Lieder, legen Tarotkarten, spielen Legenden nach oder meditieren mit Kristallen. „Jede Person kann sich als Hexe verstehen“, sagt mir Victoria Hegner, Kulturanthropologin und Autorin des Buchs „Hexen der Großstadt“. Manche würden sich selbst nicht einmal Hexe nennen, „ordnen sich aber trotzdem in diese Tradition ein.“

Eine einheitliche Lehre gibt es nicht, aber die bekannteste Strömung aus dem Hexentum heißt Wicca. Das ist eine neureligiöse Bewegung, die verschiedene Weltbilder zu einer Art moderner Naturreligion verbindet. Wicca geht zurück auf den Hobby-Anthropologen Gerald Gardner. Er veröffentlichte 1954 das Buch „Witchcraft Today“, in dem er die Grundlagen der Wicca-Religion entwarf. Die Anhänger:innen von Wicca – sie nennen sich selbst Hexen – sind in Gruppen, sogenannten coven organisiert. Sie verehren einen Gott und eine Göttin und glauben, dass alles mit allem verbunden und von einer universellen Energie durchdrungen ist.

Hexerei ist Realitätsflucht für Großstadtmenschen

Die Verbundenheit mit der Natur spielt für die meisten Hexen eine wichtige Rolle. Zum Beispiel orientieren sich die Feiern der Wicca-Bewegung am Mondzyklus und an den Jahreszeiten. TikTok-Hexen hexen meistens im Wald oder arbeiten für ihre Rituale mit Materialien aus der Natur: Knochen, Blüten oder Kieselsteine.

Ein kleines Beispiel des Accounts „wiccamysticlife“. In dem Video erklärt die Hexe, wie man „Protection Moon Water“ herstellt: Einfach Mondwasser (Wasser, das über Nacht im Mondlicht stand) in eine Sprühflasche füllen, rosa Salz, Lavendel, Rosmarin und eine Zimtstange hinzufügen – fertig. Das Wasser, so empfiehlt es die TikTok-Hexe, könne man zu Hause versprühen, wenn man das Gefühl habe, „mehr Schutz zu brauchen“. Die Nutzer:innen fragen in den Kommentaren nach Details, ob man frischen Lavendel und Rosmarin durch getrocknete Kräuter ersetzen könne oder wie lange das Wässerchen haltbar sei. Das Video hat mehr als 40.000 Aufrufe und ist eines von unzähligen solcher Videos mit Tipps und Anleitungen für „Anfängerhexen“.

Die Naturverbundenheit moderner Hexen ist kein Zufall, erklärt die Kulturanthropologin Victoria Hegner. „Mitte des 19. Jahrhunderts etablierten sich die modernen Wissenschaften und veränderten die Weltsicht“, sagt sie. Es begann das, was der Ökonom und Soziologe Max Weber die „Entzauberung der Welt“ nannte. Rationales Denken war angesagt, Magie und Zauberei waren out – zumindest oberflächlich. „Gleichzeitig gab es eine Rückwendung zur Spiritualität und zur Vorstellung, dass es noch ein Quantum mehr gibt, als die Wissenschaft erklären kann“, sagt Hegner. Kein Wunder, dass Hexenreligionen in London ihre Anfänge hatten. London war damals die größte Stadt der Welt, in der die Industrialisierung voranschritt. Kein besonders magischer Ort. Gerade deshalb sehnten sich die Menschen nach Magie.

So funktionieren Rituale (sie sind nicht so gruselig, wie es klingt)

Ich will besser verstehen, wie Hexerei das persönliche Leben von Menschen beeinflusst und rufe bei KR-Mitglied Sara an. Sie ist 38, arbeitet in der IT und hat sich auf meinen Aufruf in der Krautreporter-Community-Post gemeldet. Sara heißt eigentlich anders, möchte aber nicht mit ihrem echten Namen und in Verbindung mit dem Thema Hexen in einem Artikel auftauchen. Denn, so sagt sie es mir, sie spreche fast nie mit jemandem über dieses Thema. Teilweise aus Angst vor negativen Reaktionen, teilweise weil sie ihren Glauben nicht so offen vor sich hertragen wolle. Sie bezeichnet sich selbst zwar nicht als Hexe, trotzdem spielt das Hexentum eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Sie war zum Beispiel schon mit 18 Mitglied in einer feministischen Hexengruppe und absolvierte verschiedene Kurse.

Viele moderne Hexen würden von sich selbst wahrscheinlich nicht sagen, dass sie hexen. Was sie praktizieren, nennt sich Ritual. Die meisten Rituale beginnen mit einem Kreis, dem Schutzkreis. Er kann aus Blättern, Kräutern oder Wassertropfen bestehen. Diese TikTok-Hexe zieht mit einem Kristall einen imaginären Kreis um sich. KR-Mitglied Sara trifft sich regelmäßig per Telefon mit einer kleinen Gruppe, sie stellen sich den Kreis dann einfach vor. In diesem geschützten Raum – schließlich haben Hexen keinen geweihten Ort, wie etwa eine Kirche – kann jede Person ihr Ritual individuell gestalten, allein oder mit anderen. Manche basteln einen Talisman, andere meditieren, verbrennen Weihrauch oder setzen sich bewusst Ziele für die kommende Zeit. „Ritual, das klingt immer so crazy“, sagt Sara. „Aber im Christentum gibt es auch Rituale, die man zu einer bestimmten Zeit durchführt und die auf Nicht-Christen seltsam wirken können.“

Ein kleines Alltagsritual aus Saras Leben: Jeden Morgen, wenn sie am Waschbecken steht und sich wäscht, malt sie sich mit Wasser ein bestimmtes Symbol auf die Stirn und sagt ein Gebet dazu auf. Welches Symbol genau und wie die Worte lauten, will sie mir nicht sagen. „Das ist geheim“. In Zeiten des Internets habe es eine andere Qualität, die Details ihres Rituals für sich zu behalten.

Wie generell in der Esoterik, ist es auch bei der Hexerei schwierig, allgemeine Aussagen zu treffen. Es gibt unzählige Spielarten und jede Hexe versteht etwas anderes unter ihrem Glauben. Doch mir war vorher nicht klar, dass Hexentum mehr sein kann, als ein Ritual auf TikTok. Wicca gilt als Religion und die Kulturanthropologin Victoria Hegner schreibt in ihrem Buch von der modernen „Hexenreligion“. Auch Sara vergleicht in unserem Gespräch ihren Glauben ständig mit dem Christentum – wie um zu beweisen, dass sich Hexentum und Christentum im Weltbild und in der Praxis ähnlich sind. Natürlich können auch Religionen wie das Christentum ziemlich kritikwürdig sein. Aber für mich hat der Vergleich bewirkt, dass ich Hexen und ihren Glauben ein bisschen ernster nehme.

Feministisch, lesbisch und hexisch – das gehört zusammen

Unter Feministinnen und lesbischen Frauen ist das Motiv der Hexe beliebt – und das schon seit den 70er Jahren. „Die Hexe war die Personifizierung der femininen Revolte gegen das Patriarchat“, sagt Kulturanthropologin Hegner. Als prägendes Ereignis gelten die Demonstrationen in Italien im Jahr 1977. Ein römisches Gericht hatte Jugendliche, die eine Frau vergewaltigt hatten, zu Bagatellstrafen verurteilt. Daraufhin gingen Italienerinnen auf die Straße mit dem Spruch: „Zittert, zittert, die Hexen sind wieder da!“

Seitdem greifen Feministinnen und Lesben immer wieder auf das Motiv der Hexe zurück. Das erste nur von Frauen besetzte Haus in Berlin-Kreuzberg heißt „Hexenhaus“. Die Frauen, die zuerst dort lebten, waren lesbisch. Und die erste Lesbenkneipe in den 70ern des damaligen West-Berlins hieß „Blocksberg“. „Damals war die Idee: Feminismus ist die Theorie, Lesbianismus ist die Praxis“, sagt Hegner. „Und da die Hexe bereits eine relevante Figur war, ist es logisch, dieses Dreiergespann aus Feministinnen, Lesben und Hexen immer zusammen zu denken.“

Hexe, das ist einerseits eine Beleidigung, mit der sich vor allem mächtige Frauen konfrontiert sehen. Zum Beispiel bekam Hillary Clinton während der US-Präsidentschaftswahlen 2016 von ihren Gegner:innen den Titel „Böse Hexe der Linken“ verpasst. In den sozialen Medien tauchten Bilder von Clinton auf, wie sie mit Hexenhut auf einem Besen reitet oder mit grüner Haut böse kichert. Andererseits greifen Frauen genau aus diesem Grund auf das Bild der Hexe zurück.

Eine Hexe, das ist eine starke und unabhängige Frau. Eine, die übernatürliche Kräfte und deshalb Macht über andere hat. Es ist das Gegenteil von der Machtlosigkeit, die viele Frauen in der Gesellschaft empfinden. Klar, dass sich auch heute vor allem Frauen vom Hexen-Trend angezogen fühlen.

Eine historische Anekdote illustriert besonders gut, warum Hexen ein Sinnbild für emanzipierte Frauen sind. Bis ungefähr zum Jahr 1500 war Bierbrauen Frauenarbeit. Die Äbtissin Hildegard von Bingen etwa wurde schon zu Lebzeiten im 12. Jahrhundert als Gelehrte verehrt und ist berühmt für ihre Erkenntnisse über Hopfen. Die Bierbrauerinnen von damals trugen häufig spitze Hüte, um auf dem vollen Marktplatz schnell erkannt zu werden. Sie besaßen große Kessel, in denen sie ihr Bier brauten. Und viele hielten sich Katzen, um das Getreide, das sie zum Brauen brauchten, mäusefrei zu halten. Spitze Hüte, Kessel, Katzen – Symbole, die wir heute mit Hexen verbinden, könnten mit den Bierbrauerinnen des Mittelalters, also mit arbeitenden, unabhängigen Frauen zu tun haben.

Hexerei ist nicht nur eine Glaube, es ist ein Lifestyle

Beim Hexen-Trend spielt auch die „Hexen-Ästhetik“ eine Rolle. Gepresste Blüten, Kerzenschein, Runen. Das sieht gut aus auf Instagram-Fotos und TikTok-Videos. Hexe sein ist für manche ein Lifestyle, der die Hobbys betrifft, aber auch Kleidung, Frisur und Make-up beeinflusst. In den sozialen Medien teilen junge Frauen Tipps, wie man sich wie eine #modernwitch kleiden kann. Oft tragen sie Röcke in den Farben schwarz und grün, Ketten mit Mondsymbolen und flechten sich Perlen in die Haare. Und während ich diesen Text schreibe, höre ich eine Playlist namens „Lof-fi for witches“.

Problematisch wird es dann, wenn sich die Hexen-Ästhetik mit handfestem Quatsch vermischt. Wie zum Beispiel in diesem Video bei gedimmtem Licht und Kerzenschein. Das Video zeigt ein Ritual für mehr Geld. Das ist so ähnlich wie der Trend des Manifestierens. In dieser Vorstellung muss man nur fest genug an viel Geld denken, um reich zu werden. Das ist nicht nur Blödsinn, es hält meiner Meinung nach Leute davon ab, etwas an ihrer realen Lage zu verändern. Es lenkt die Aufmerksamkeit von strukturellen Ungleichheiten ab und schiebt Einzelnen die Verantwortung zu, nach dem Motto: Wenn du nicht genug Geld hast, musst du es dir eben mehr wünschen – oder herbeihexen.

KR-Mitglied Sara sieht das ganz anders. „Wenn du dich naturverbunden fühlst, musst du auch politisch etwas unternehmen, zum Beispiel Ökostrom beziehen oder weniger Fleisch essen.“ Sie leide unter Klimaangst, also der Angst vor der Klimakatastrophe und ihren Folgen. „Was mir im Christentum völlig fehlt, ist eine Antwort auf den Klimawandel“, sagt Sara. „Wie sollen wir uns benehmen in der Welt?“ Indigene Religionen hätten darauf oft bessere Antworten, zum Beispiel gebe es bei den Maori in Neuseeland eine Regel, von manchen Pflanzen nur eine bestimmte Anzahl Blätter abzuschneiden.

Auch die Kulturanthropologin Hegner sagt, dass verschiedene Hexen-Gruppierungen, je nach Ausrichtung, „hochgradig politisch“ sein können. Ein gutes Beispiel dafür ist die Gruppe „Reclaiming“, die aus San Francisco kommt, aber auch in Deutschland vertreten ist. Nach eigener Aussage zielen die Rituale von „Reclaiming“ darauf ab, „Empowerment“ zu entwickeln. Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit seien zentrale Werte in ihrer Tradition.

Es ist verwerflich, wenn Hexen mit ihren Pseudo-Künsten Geld verdienen. Kaffeesatzlesen für 25 Euro auf Kleinanzeigen oder teure Kristalle – es gibt unzählige Möglichkeiten, Menschen in verletzlichen Situationen ausnutzen und ihnen mit magischen Versprechungen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ein häufiges Angebot ist der „Ex Zurück Liebeszauber“, auf den vermutlich einige verzweifelte Menschen mit Liebeskummer hereinfallen.

Aber Hexerei geht weit über Kaffeesatzlesen hinaus. Jede:r kann Hexe sein – auch ich. Denn dafür reicht es, sich Hexe zu nennen, einen imaginären Schutzkreis um sich zu ziehen und ein individuelles Ritual durchzuführen. Zwar muss ich mich nicht selbst Hexe nennen, um Natur genießen zu können, mich mit der Klimakatastrophe zu beschäftigen oder mich für Feminismus zu engagieren. Doch ich kann verstehen, wenn es Menschen wie Sara ein gutes Gefühl gibt, sich als Teil eines größeren Ganzen zu begreifen. Um sich in dieser Welt am richtigen Platz zu fühlen, brauchen manche Menschen eben ein bisschen Magie.


Redaktion: Rico Grimm und Rebecca Kelber, Schlussredaktion: Bent Freiwald, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger

Wie moderne Hexen hexen

0:00 0:00

Einfach unterwegs hören mit der KR-Audio-App