Letztens habe ich etwas gelesen, das mir zu denken gegeben hat. Es ist ein Zitat von Ed Yong, einem Wissenschaftsjournalisten, und geht so:
„Es gibt seit Langem eine Verbindung zwischen Produktivität und Wert. Einer der Menschen, mit denen ich sprach, sagte zu mir: ‚Müdigkeit ist zutiefst antikapitalistisch‘“.
Das schreibt er in einem Artikel über Erschöpfung als Krankheit. Vielleicht hast du davon schon als ME/CFS gehört, oder die gängigeren Bezeichnungen „chronisches Erschöpfungsyndrom“ beziehungsweise „chronisches Fatigue Syndrom“.
Yong hat sich intensiv mit diesem Thema beschäftigt, die medizinischen Hintergründe recherchiert und mit Betroffenen gesprochen. Dabei lernte er Menschen kennen, die ernsthaft abwägen müssen, ob sie ein Glas Wasser trinken können – weil sie nicht wissen, ob sie später genug Energie haben werden, um zur Toilette zu gehen. So schlimm kann diese Erschöpfung sein.
Nicht nur müde, sondern völlig kaputt
Normalerweise schreibe ich in diesem Newsletter übers Arbeiten (und hin und wieder über meine neuen Texte). Erschöpfung hat nicht direkt mit Arbeit zu tun, aber indirekt natürlich schon, weil sie Arbeiten enorm schwer macht. Auch deswegen habe ich in den letzten Monaten viel über Erschöpfung nachgedacht. Weil ich den Eindruck hatte, dass in meiner Umgebung ständig jemand einen Burnout hat oder sonst wie an einen Punkt kam, an dem sie oder er einfach nicht mehr konnte. Aber ich habe unterschätzt, wie groß das Problem chronischer Erschöpfung ist. Sie hat nichts mit normaler Müdigkeit zu tun, und ist auch kein Burnout, sondern eine schwere neuroimmunologische Erkrankung – gegen die auch nicht die gleichen Mittel helfen, wie bei anderen Erschöpfungszuständen, also Ausruhen und Bewegung zum Beispiel.
Mehr noch: Ich habe begriffen, wie schwierig es sein muss, Hilfe oder Anerkennung zu kriegen, wenn man unter chronischer Erschöpfung leidet – weil selbst viele Ärzt:innen zu wenig darüber wissen oder das Leiden der Patientin oder des Patienten einfach nicht so ernst nehmen.
Kann ich es mir leisten, ein Glas Wasser zu trinken?
Was vielleicht auch daran liegt, dass chronische Erschöpfung öfter Frauen betrifft als Männer, und Krankheiten, die Frauen haben, oft ein bisschen abgetan werden. Weil man davon ausgeht, dass vermutlich irgendwas psychisches dahintersteckt. Damit will ich nicht kleinreden, was Männer durchmachen, die chronisch erschöpft sind.
Von ihrem Umfeld bekommen Betroffene leider oft Reaktionen, die sie wie Hochstapler behandeln (wenn sie bei Ärzt:innen oder Krankenkassen Hilfe suchen), oder sie als wehleidig abstempeln. Das schreibt auch Anna Mayr in der Wochenzeitung Die Zeit. Menschen mit Depressionen kennen das Muster: Man nimmt sie nicht ernst, weil andere meinen, das Problem sei normal – weil ja jede:r schon mal erschöpft war, beziehungsweise traurig. Und sind krankhafte Erschöpfung oder Depressionen nicht nur besonders starke Versionen von normaler Müdigkeit oder Traurigkeit?
Erschöpfung gilt als Schwäche
Sind sie natürlich nicht. Aber das muss man Freund:innen und Arbeitgeber:innen erstmal glaubhaft vermitteln können. Bei krankhafter Erschöpfung ist es vielleicht noch schwieriger, weil Erschöpfung als Schwäche gilt und das Problem weniger bekannt ist – auch wenn in Deutschland eine halbe Million Menschen unter ME/CFS leiden. Ein Auslöser dafür ist unter anderem Long Covid. Davon haben vermutlich mehr Menschen gehört als von ME/CFS, aber wer mag heute schon über Covid reden? Dafür müssten wir ja anerkennen, dass das Virus und seine Folgen noch längst nicht aus der Welt sind. Auf dieses Gespräch haben derzeit viele einfach keine Lust. Corona soll vorbei sein. Was ich durchaus verstehen kann, aber es hilft ja nichts.
Covid ist auch nicht der einzige Auslöser, unterschiedliche Virusinfektionen können hinter ME/CFS stecken. Allerdings hat sich die Zahl der laut ZEIT durch Corona erhöht: 2018 und 2019 waren es etwa 400.000 Betroffene, inzwischen sind es 500.000.
Wie leere Batterien oder Gift im Körper
Was genau die Krankheit verursacht, weiß man nicht. Und bisher auch nicht, wie man sie heilen kann. Bekannt sind immerhin mindestens zwei körperliche Mechanismen, die Betroffene erleben, schreibt Ed Yong:
Zum einen sind das Probleme mit dem autonomen Nervensystem, das Herzschlag, Atmung, Schlaf, Hormonausschüttung und andere Körperfunktionen steuert, die wir nicht bewusst kontrollieren.
„Wenn dieses System gestört ist – ein Zustand, der als „Dysautonomie“ bezeichnet wird – können Hormone wie Adrenalin zu unpassenden Zeitpunkten ausgeschüttet werden, was zu dem Gefühl führt, dass man unter Strom steht, aber müde ist. Menschen können sich plötzlich schläfrig fühlen, als würden sie abschalten. Die Blutgefäße dehnen sich in den entscheidenden Momenten nicht aus, sodass aktive Muskeln und Organe keinen Sauerstoff und keinen Treibstoff mehr erhalten; zu diesen Organen kann auch das Gehirn gehören, was zu kognitiven Störungen wie Hirnnebel führt.
Zweitens haben viele Menschen mit Long Covid und ME/CFS Probleme mit der Energiegewinnung. Wenn Viren in den Körper eindringen, schlägt das Immunsystem zurück und löst einen Entzündungszustand aus. Sowohl Infektionen als auch Entzündungen können die Mitochondrien schädigen – die bohnenförmigen Batterien, die unsere Zellen mit Energie versorgen. Wenn die Mitochondrien nicht mehr richtig funktionieren, produzieren sie heftige Chemikalien, sogenannte „reaktive Sauerstoffspezies“ (ROS), die die Zellen noch mehr schädigen. Entzündungen lösen auch eine Umstellung des Stoffwechsels auf schnelle, aber ineffiziente Methoden der Energiegewinnung aus, die den Zellen den Brennstoff entziehen und sie mit Milchsäure überschwemmen.“
Deswegen beschreiben Betroffene oft, dass sie sich fühlen, als wären ihre Batterien leer, oder als hätten sie Gift im Körper.
Aufraffen und Durchbeißen macht die Krankheit schlimmer
Ich bin froh, dass ich das jetzt weiß. Denn ich gebe zu, auch ich dachte, jede Art Erschöpfung ließe sich mit einer ordentlichen Mütze Schlaf oder einem Spaziergang zumindest lindern. Jetzt weiß ich es besser.
Ich habe eine Freundin, die drei Kinder hat und die seit dem letzten Herbst tausende Euro aus eigener Tasche bezahlen musste, um von teuren Privatärzt:innen eine Diagnose ihrer Krankheit und eine Krankschreibung zu bekommen. Weil ihr Hausarzt meinte, sie solle sich nicht so anstellen.
Wer unter krankhafter Erschöpfung leidet, stellt sich aber nicht an. Er oder sie möchte nichts lieber, als wieder aktiv am Leben teilnehmen, kann es aber einfach nicht. Mehr noch: Wer sich anstrengt, schadet sich sogar. Das ist besonders dann tragisch, wenn Ärzt:innen Betroffenen Bewegung empfehlen. Verständlich, weil das bei normaler Erschöpfung hilft, bei krankhaft erschöpften Menschen kann das Krankheitsbild sich aber verschlimmern, wenn sie sich anstrengen.
Anna Mayr schreibt:
„Standardmäßig fordern zum Beispiel die meisten Krankenkassen Patienten dazu auf, dass sie eine Reha machen, wenn sie eine Zeit lang Krankengeld bezogen haben. Das ist eine Sparmaßnahme, denn wenn eine Reha abgebrochen wird oder scheitert und folglich keine Hoffnung auf Heilung besteht, dann muss die Krankenkasse danach kein Krankengeld mehr zahlen. Die kranke Person muss stattdessen Rente beziehen, sogenannte Erwerbsminderungsrente. Aber Rehas bedeuten meistens Bewegung, und Bewegung bedeutet bei ME/CFS meistens Verschlechterung.“
Redaktion: Esther Göbel, Bildredaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Esther Göbel, Audioversion: Christian Melchert