Wann warst du zuletzt richtig wütend? Wenn du es nicht mehr weißt, könnte es eine gute Idee sein, das Gerät, auf dem du diesen Text liest, wegzulegen, auszumachen oder besser noch, mit allem Zorn, zu dem du fähig bist, an die Wand zu werfen – aber so richtig mit Karacho! Es sollten schon Teile fliegen!
Warum? Es gibt so viele Gründe, wütend zu sein! Das Umfragehoch der AfD. Dass der Frühling gefühlt nur drei Minuten gedauert hat. Dass Schnittkäse dieses Jahr 59 Prozent mehr kostet als 2022. Oder Putin! 38 Grad Hitze! Ach, und Typen wie Elon Musk und Mark Zuckerberg, die sich vor ein paar Wochen öffentlich Schwanzvergleiche und Käfigkämpfe vorschlugen, also ungefähr die emotionale Reife von Zwölfjährigen haben, aber leider nach wie vor zu den mächtigsten Menschen der Welt gehören.
Du könntest sogar auf mich wütend sein, schließlich stelle ich gerade unsinnige Forderungen, während du einfach nur einen Artikel lesen willst, für den du gutes Geld bezahlt hast.
Ich habe Wut für ein hässliches Gefühl gehalten
Liebe:r Leser:in, deine Wut hätte ich verdient. Natürlich ist es Quatsch, zum Erleben eines Gefühls aufgefordert zu werden. Ehrlich gesagt versuche ich, deine Aufmerksamkeit für ein Gefühl zu gewinnen, das mich bis vor Kurzem überhaupt nicht interessiert hat – und das ich jetzt für sehr wichtig halte. Nicht zuletzt deswegen, weil ich viele Nachrichten aus der KR-Community dazu bekommen habe.
Sie haben meine Perspektive verändert. Früher hielt ich Wut für ein primitives Gefühl, eines, das sich nicht verhindern lässt – ähnlich wie Blähungen nach der Bohnensuppe. Aber bei beidem ist es besser, andere Menschen damit nicht zu belästigen. Ich habe Wut mit den hässlichsten Phänomenen dieser Zeit verbunden, etwa mit rechten Wählervereinigungen wie den „Bürgern in Wut“ in Bremen oder Menschen, die auf Social Media wegen Klimaaktivist:innen ausrasten. Wut, dachte ich, ist ein Gefühl der Anmaßung derer, die meinen, die Welt habe nach ihren Wünschen zu laufen.
Was ich über Wut gelernt habe
Laut des Lexikons der Psychologie von Spektrum tritt Wut „gehäuft bei Kindern im Trotzalter von ca. zwei Jahren auf (,terrible two‘); eine intensivere Variante des Erlebens von Ärger kann auf höherem Erregungsniveau mit aggressiven Impulsen gekoppelt sein.“
Das entspricht ungefähr meiner früheren Vorstellung von Wut. Wut ist kindisch, schien mir, sie hilft niemandem, sie vereinfacht die Welt in schwarz-weiß, ruiniert Gespräche und vergiftet Beziehungen. Mit wütenden Menschen zu reden, ist eine Zumutung. Wut kann den Klimawandel nicht stoppen, Sexismus nicht beseitigen und das Artensterben nicht aufhalten. Sie steht sinnvollem Engagement nur im Weg, dachte ich, sie macht uns blind, simplifiziert die Dinge. Wenn Frauen und anderen gesellschaftlich benachteiligten Gruppen geraten wird, wütend zu sein und sich über ungerechte Strukturen zu empören, habe ich das immer als herablassend empfunden.
Jetzt glaube ich, dass Wut eines der wichtigsten Gefühle ist, die wir heute brauchen – besonders in einer Kultur, in der alles ausdiskutiert und besprochen werden soll, wenn man zu den Guten gehören möchte, den konstruktiven Menschen, die aufbauen, nicht zerstören. Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass es durchaus eine positive Eigenschaft ist, richtig wütend sein zu können.
Das wurde mir klar, als ich über mehrere Wochen über Wut grübelte und immer wieder Fragen an die Krautreporter-Community stellte. „Wann ist Wut wirklich nützlich?“, fragte ich, „hat sie dir schon einmal wirklich geholfen?“ Selten habe ich so viele Antworten und E-Mails zu einem Thema bekommen. Hier sind die wichtigsten Erkenntnisse, die mir die Community vermittelt hat und was ich darüber hinaus herausgefunden habe. Als Bonus gibt es noch eine Wut-Playlist mit den Songs und Musikstücken, die KR-Leser:innen hören, wenn sie wütend sind.
Depressionen sind die Wut der Höflichen
Leser:innen, ich sage es ehrlich: Ich bin jahrelang einem Missverständnis aufgesessen. Nämlich dem, dass ich kein wütender Mensch bin. Die meisten Menschen, die mich kennen, würden mich wahrscheinlich für ziemlich friedlich halten. Selbst wenn ich im Streit ausraste, dauert das nicht länger als zehn Minuten und hinterher tut es mir sehr leid. Der aggressivste körperliche Akt, den ich einem anderen Wesen zugefügt habe, war, dass ich einmal meine Katze zurückgebissen habe.
Dafür habe ich eine starke Neigung zur Schwermut. Zwei Jahre lang hat meine Therapeutin versucht, mich davon zu überzeugen, dass ich doch wütend werden sollte. Über all die miesen Erfahrungen meiner Schulzeit etwa, die ihrer Meinung nach ein Grund dafür waren, dass ich mit einer Depressionsdiagnose in ihrem Behandlungszimmer saß. Aber ich weigerte mich hartnäckig, mich Jahrzehnte später noch über vergangene Dinge aufzuregen, die ich nicht mehr ändern konnte.
Wozu in eine Opferidentität hineinsteigern?
Klar, mit zwölf Jahren hatte ich eine Frisur wie ein aufgeplatztes Sofakissen, weil in den Neunzigern kein einziger deutscher Friseur wusste, wie er Locken bändigen sollte. Ja, ich batikte meine eigenen Klamotten, mit lila Farbe auch noch, was beides leider erst circa dreißig Jahre später wieder cool wurde. Wer so herumläuft, ist eine Zielscheibe für schlecht gelaunte Bullys. Natürlich war das alles andere als schön, aber im Nachhinein lässt es sich nicht ändern. Meine Therapeutin, schien mir, wollte, dass ich mich in eine Art Opferidentität hineinsteigerte, mit der ich mich noch schlechter fühlte als vorher.
Mittlerweile verstehe ich ein bisschen besser, warum sie mich in Rage bringen wollte. Es gibt tatsächlich einen Zusammenhang zwischen unterdrückter Wut und Depressionen. Wie KR-Leserin Katrin mir schrieb: „Ich habe seit meiner Jugend viele Jahre unter Depressionen gelitten. In einer langjährigen Psychotherapie habe ich in sehr langsamen Schritten gelernt, meine Wut zu spüren und zuzulassen und gegebenenfalls rauszulassen. Es geht mir viel besser und ich habe keine Depressionen mehr. Wichtig war auch zu lernen, dass ich nicht nur ein Opfer bin, sondern auch Täter und meine Aggressivität immer da ist, auch wenn ich sie nicht aktiv zulasse.“
Ich finde das großartig. Und wünschte, meine Therapeutin hätte mir das genau so erklärt und mir gesagt, wie hilfreich Wut sein kann! KR-Leserin Marianne sagte mir, die Wut hätte ihr geholfen, ihren toxischen Ex-Mann zu verlassen. „Ohne sie wäre das jahrelang eingetrichterte ‚Das schaffst du nicht‘, ,wer soll dich denn dann noch wollen’, zu übermächtig gewesen. Die Wut ist nach der Aktion, in dem Fall Verlassen des toxischen Partners, auch wieder abgeklungen. Ich hasse ihn ja nicht. Er ist der Vater meiner Kinder“, schrieb sie mir.
Wie und ob wir Wut zulassen oder sogar zum Ausdruck bringen, ist nicht nur eine Frage der Kultur, die uns umgibt, sondern auch eine Frage der Erziehung. „So gibt es viele Menschen, die beispielsweise gelernt haben, dass sie gar keine Wut erleben dürfen. Diese schildern mir dann ein Ereignis, bei dem sie zunächst traurig werden, während ich gegenübersitze und vor Wut koche“, sagte mir KR-Leserin Sarah, die als psychologische Psychotherapeutin arbeitet.
Man kann Wut mit Traurigkeit verwechseln
Es gibt dazu ein Zitat über Wut, an das ich seit Jahren immer wieder denke. Mein Kollege Martin hat es vor Jahren gehört, als er wegen Depressionen in der Psychiatrie war. „Herr Gommel, nutzen sie die Wut, solange sie klein ist“, forderte ihn eine Therapeutin auf. Dieser Satz, meint Martin, war einer der wichtigsten, die er im Verlauf seiner Krankheit gehört hat. Weil die Worte der Therapeutin ihm klarmachten, dass Wut erst dann toxisch wird, wenn man zu lange wartet, sie in sich wachsen lässt. „Deshalb ist es so wichtig, frühzeitig zu erkennen: Was hat mich gerade wütend gemacht?“, sagt Martin.
Wie sehr Wut und Traurigkeit miteinander verschränkt sind, und dass das eine Gefühl das andere verdecken kann, ist eine der wichtigsten Erkenntnisse, die ich in meiner Recherche gewonnen habe. „Trauer kommt zum Vorschein, wenn die Wut nicht gehört wird, wenn man nichts oder kaum etwas verändern kann, der Handlungsspielraum immer kleiner wird. Man nicht gesehen und gehört wird“, schreibt die Philosophin und Autorin Amani Abuzahra in ihrem Buch „Ein Ort namens Wut“.
Eine andere KR-Leserin verdichtete das in einem Satz: „Depressionen sind die Wut der Höflichen.“ Ich würde mir das gerne auf ein T-Shirt drucken, als Erinnerung für mich selbst, wann immer ich schwermütig in den Spiegel sehe.
Wut setzt Grenzen
„Wut in kleinen Dosen sagt uns: ‚Hier stimmt etwas nicht, ich möchte etwas anders haben.“ So steht es in einem Artikel, den KR-Leser Sebastian geschrieben hat und in dem es darum geht, wie man mit Wut am Arbeitsplatz umgehen kann. Den Text kann ich von Herzen allen empfehlen, die bei der Arbeit gelegentlich gern in ein Kissen schreien würden. Zunächst einmal war ich aber skeptisch. Sebastian schreibt, Wut zeige einem an, dass eine Grenze überschritten wurde.
„Wut ist eine Deckelemotion“, glaubt auch Amani Abuzahra. „Sie ist die erste, unverblümte Reaktion des Körpers, der Seele auf Kränkungen, Ungerechtigkeiten, Grenzüberschreitungen. Darunter liegt eine Emotion mit einer Botschaft: Es wurde eine Verletzung zugefügt. ‚Unangenehme‘ Gefühle sind Ausdruck unerfüllter oder ‚falsch‘ erfüllter Bedürfnisse. Unter der Wut liegen unerfüllte Bedürfnisse.“
Ich kenne diese Perspektive. Sie hat mich immer provoziert. Vielleicht machte sie mich sogar ein bisschen wütend. Denn ich weiß genau, dass ich selbst sehr häufig aus bescheuerten Gründen wütend werde – und nicht, weil jemand tatsächlich meine Grenze überschritten hat. Zum Beispiel heute Morgen, als mein Mann sich beschwerte, weil ich den Haufen aus zerknüllten Kassenzetteln, Magen-Darm-Entspannungstabletten und alten Batterien vom Esstisch geräumt hatte. Das nervte mich ungemein, aber es wäre lächerlich, meine Wut hier als Zeichen einer Grenzüberschreitung zu sehen. Und das ist ein harmloses Beispiel. Ich bin mir sicher, Donald Trump, ein Mann, der so wütend ist, dass ein ganzes Buch über seine Präsidentschaft den Titel „Rage“ trägt, findet seine drohende Anklage wegen des Sturms aufs Kapitol am 6. Januar 2021 total grenzüberschreitend.
Diese Idee, dass Wut immer ein Zeichen dafür ist, dass uns jemand Unrecht getan hat, finde ich also ziemlich irreführend. Sie führt dazu, sich selbst viel zu wenig infrage zu stellen. Dann ist Wut anmaßend.
Das stimmt auch, wenn man die Wut als Wahrheit versteht, nicht als Signal. Sebastian schrieb mir: „Ich würde sagen, die Wut ist hier wie ein Warnlicht im Auto: Sie sagt mir, dass ich mal nachschauen muss, ob ein Problem vorliegt und was gegebenenfalls die Ursachen sind. Sie sagt mir nicht, dass die andere Person etwas objektiv Falsches getan hat.“
Wut ist Energie
„Es sind die Situationen, die ich nicht ändern kann, in denen ich Wut habe: Wenn ich mich vom Ex-Mann provoziert fühle oder meine Mutter wieder einen Aufruf zur Querdenker-Demo mit dem Logo der Freien Sachsen postet oder sich nicht mehr um ihre Eltern kümmert, nachdem diese sich gegen Covid-19 haben impfen lassen. Dann, wenn ich keine Kontrolle habe, ich es nicht ändern kann und mich hilflos fühle, dann ist die Wut bei mir am größten. Und sie bleibt.“
KR-Leserin Jana schrieb mir das. Beim Lesen ihrer Nachricht fühlte ich mich sehr verstanden. Es wird zunehmend schwieriger, das Verhalten eines großen Teils der Menschheit respektieren zu können. Rechtspopulistische Strömungen gewinnen an Zustimmung, die Klimakrise wird von manchen als harmloser Wetterbericht abgetan, und Internet-Coaches versprechen verzweifelten Seelen das Blaue vom Himmel. Aber gerade deswegen ist Wut heute ein so wichtiges Gefühl. Ja, mein unmittelbarer Instinkt, wenn ich die Nachrichten gelesen habe, ist es manchmal, mich auf dem Sofa zusammenzurollen und in eine Schale Kekse zu weinen. Aber das hilft niemandem. Und es ist schade um die Kekse.
Besser ist es, Wut zu spüren, denn sie ist rohe Energie. Sie ist groß und umfassend. Ich habe mir vorgenommen, in Zukunft besser mit meiner Wut umzugehen. Sie nicht verrauchen zu lassen wie ein Feuer, das niemand braucht. Unsere Wut, liebe:r Leser:in, kann sehr wertvoll sein. Wut ist Energie. Und es gibt so viele Gründe, wütend zu sein.
Die Wut-Playlist der KR-Community
Mad – Solange
St. Anger – Metallica
Shout – Tears for Fears
Run The World – Beyoncé
How do you feel – H-Blockx
I Hate You – The Stranglers
Killing in the Name – Rage Against the Machine
Hengstin – Jennifer Rostock
Ich Muss Gar Nichts – Antje Schomaker
In The End – Linkin Park
Refused – New Noise
Toccata und Fuge in D-Moll – Johann Sebastin Bach
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Esther Göbel, Audioversion: Iris Hochberger