Vor Kurzem schlenderte ich über den Wochenmarkt. Neben mir bestellte ein älterer Herr sein Gemüse, ich kenne seinen Namen nicht, ich nenne ihn Wilhelm. Er trug braune Clarks Wallabees, eine gerade geschnittene, grüne Cordhose, eine Wachsjacke im Braunton der Schuhe und einen kräftig blauen Strickschal. Wilhelm ist mir schon häufiger in der Innenstadt über den Weg gelaufen und jedes Mal beeindruckte mich sein Outfit. Dabei wirkt er nie verkleidet, es passt zu ihm. Wilhelm hat Stil.
Ich glaube, bei den meisten Menschen ist ihr eigener Stil irgendwann, irgendwie passiert. Bei mir selbst war das auch so: In den vergangenen zwei, drei Jahren habe ich ihn langsam gefunden und heute weiß ich, welche Farben, Schnitte, Stoffe und Silhouetten ich mag. Und mein Kleiderschrank spiegelt all das auch halbwegs wider. Ich weiß nur nicht, wie genau ich eigentlich an diesen Punkt gelangt bin.
So sehr man sich auch dagegen wehrt, man beurteilt Menschen zuerst nach dem Aussehen. Und Kleidung ist wesentlicher Bestandteil des ersten Eindrucks. Wenn man sich dann kennenlernt, wird einem schnell egal, was das Gegenüber für Kleidung trägt. Entweder man mag sich oder eben nicht. Aber dein T-Shirt, deine Jacke, dein Kleid oder deine Froschschuhe von J.W. Anderson vermitteln eben einen Eindruck von dir als Person.
Deshalb habe ich die Krautreporter-Community gefragt, wie zufrieden sie mit ihrem Stil sind: 47,5 Prozent sind mal zufrieden und mal nicht und 8,7 Prozent sind unzufrieden. Die (teilweise) Unzufriedenen fühlen sich unwohl in ihren Outfits, vermissen Abwechslung, sie fühlen sich uncool oder Teile, die ihnen gefallen, sind zu teuer. Ein KR-Mitglied schreibt: „Meine Kleidung stammt aus verschiedenen Lebensabschnitten und passt nicht immer zusammen. Alles ist eher funktional als stilvoll und mir fehlen die Zeit, die Lust und das Geld, mich intensiv damit auseinanderzusetzen.“
Na gut, könnte ich jetzt sagen. Dann halt nicht. Das Mitglied fügt aber noch hinzu: „Trotzdem hätte ich gerne Stil.“ Andere Teilnehmer:innen berichten mir davon, dass sie zu- oder abgenommen haben und Kleidungsstücke nun nicht mehr passen oder sie nicht wissen, welche Kleidung vorteilhaft für ihren Körper ist. Außerdem stört viele, dass nicht alle Teile zusammenpassen und kein klarer Stil zu erkennen ist.
Wer unzufrieden mit seinem Stil ist, ist potenziell unzufrieden mit dem ersten Eindruck, den er oder sie hinterlässt. Das muss aber nicht so bleiben. Stil liegt nicht in den Genen, man kann ihn finden. Nur wie? Ich habe Tiktoker:innen, einen Stylisten und die KR-Mitglieder gefragt. Ihr Wissen passt in sechs einfache Schritte.
Schritt 1: Denk über deine Kleidung nach
Der erste Schritt in Richtung eigener Stil ist nachzudenken. Das klingt trivial. Was ich damit meine, erklärt Xenia Wahl. Sie zeigt und erklärt auf Tiktok regelmäßig, wie sie ihre Outfits zusammenstellt. Sie hat ein Faible für Sachen, an denen ich im Laden vorbeilaufen würde. Am Ende kommen dabei Outfits heraus, die eigen und nie langweilig sind – ich bin großer Fan.
Sie selbst beschreibt ihren Stil so: „Ich habe keine feste Stilrichtung. Ich trage Kleidungsstücke, die mir gefallen. Ich baue meine Outfits um ein Kleidungsstück herum. Und ich schaue immer, in welchem Outfit ich mich am wohlsten fühle.“
Sie empfiehlt, bei der Suche nach dem eigenen Stil systematisch vorzugehen und erst einmal in den eigenen Kleiderschrank zu schauen und sich zu fragen: Welche Teile mag ich wirklich besonders gerne? Und warum? Mag ich sie wegen der Farbe? Mag ich sie wegen des Schnitts? Sie sagt: „Wenn ich einen Schnitt mag, kann ich darauf aufbauen und sagen: Ah, dann mag ich vielleicht auch ähnliche Schnitte.“ Darüber hinaus könne es sich lohnen zu überlegen, was man ausprobieren wolle: „Welche Farben, Stoffe, Schnitte mag ich, die ich noch nicht in meinem Schrank habe?“
Wer anfängt, über die eigene Kleidung nachzudenken, ist schon einen entscheidenden Schritt weitergekommen. Wenn dir auffällt, dass du deinen Lieblingshoodie vor allem wegen seines perfekten Oversized-Schnitts magst, kann dir das sehr weiterhelfen. Du stehst dann nicht mehr ziellos vor dem riesigen Berg der Kleidungsoptionen.
Schritt 2: Probiere dich aus
Musonda Chota ist Stylist. Das wichtigste Mittel, um den eigenen Stil zu finden, heißt seiner Meinung nach trial and error: „Probiere aus, was dir steht, tauche ein in die Mode. Habe keine Angst, Sachen auszuprobieren.“ Rückblickend betrachtet war das wohl auch für meinen eigenen Stil der wichtigste Schritt. Ich habe Dinge ausprobiert und geschaut, wie ich mich damit fühle. Ich fand zum Beispiel bauchfreie Oberteile in Kombination mit weiter geschnittenen Hosen immer cool an anderen. Irgendwann habe ich ein altes T-Shirt von mir gekürzt. Und siehe da: Ich mag die Silhouette, also den Umriss des Outfits an meinem Körper, auch an mir und fühle mich wohl darin.
Wenn du neue Teile ausprobieren möchtest, solltest du deinen eigenen Kleiderschrank im Hinterkopf behalten. Überlege, wie du ein neues Teil mit Kleidungsstücken, die du schon hast, kombinieren kannst. Wenn du schon weißt, welche Kleidung du als Nächstes kaufen möchtest, frage dich: Passt das Teil dazu? Umgekehrt kannst du auch etwas kaufen, das dir gefällt, aber nicht zum Rest passt. Das kann die Entwicklung deines Kleiderschranks weiter vorantreiben, da du gezwungen wirst, Kleidung zu finden, die damit harmoniert. Musonda Chota empfiehlt, nicht zu verkopft an die Sache zu gehen: „Gehe einfach los, sei unvoreingenommen, probiere alles an, was du anprobieren kannst. Schließe nichts von vornherein aus.“
Xenia Wahl, die Tiktokerin, empfiehlt, Kleidungsstücke anders zu kombinieren, als man es sonst tut. Vor ein paar Monaten habe ich zum Beispiel mal ein Hemd über eine Trainingsjacke angezogen und werde das jetzt definitiv häufiger tun. Außerdem kannst du dir auch überlegen, wie man Kleidungsstücke anders als eigentlich vorgesehen nutzen kann. Hier knüpft Xenia Wahl zwei Hemden zu einem Riesenhemd mit vier Ärmeln zusammen. Die Möglichkeiten sind endlos: Trage Röcke über Hosen, T-Shirts über Pullovern, Röcke als Oberteile oder stecke mit Klammern und Sicherheitsnadeln Sachen ab, sodass sich neue Silhouetten ergeben.
Schritt 3: Laufe nicht Trends hinterher
Eine gute Möglichkeit, nachhaltig und einigermaßen günstig neue Kleidung zu kaufen, sind Secondhandläden, Online-Plattformen wie Vinted oder der gute alte Flohmarkt. Ein Vorteil: Dort eröffnet sich eine Welt der Mode abseits von aktuellen Trends. Du wirst mit Kleidung konfrontiert, die vor 50, 15 oder noch nie modern war und kannst eine große Vielfalt an Schnitten, Materialien und Farben und Formen ausprobieren. Ich bekomme hier regelmäßig neue Ideen. So habe ich zum Beispiel auch meine Liebe zu blau-weiß gestreiften Hemden entdeckt. Accessoires sind eine weitere günstige Möglichkeit, seinen Stil weiterzuentwickeln: Ein weißes Shirt mit Jeans und schwarzen Schuhen wirkt gleich anders, wenn noch eine Tasche, Schmuck und eine Cap dazu kombiniert werden.
Einfach nur blind Trends zu folgen und alles mitzumachen, ist nicht die beste und nachhaltigste Möglichkeit, seinen Stil zu finden. Fühlst du dich wirklich wohl in deiner Kleidung oder machst du das nur, weil alle anderen es auch machen? Außerdem ändern sich Trends so schnell, dass du jedes Jahr einen neuen Kleiderschrank bräuchtest. Sie bieten aber eine gute Möglichkeit, neue Sachen auszuprobieren. Dabei solltest du überlegen, wie du sie sinnvoll in den eigenen Kleiderschrank integrieren kannst: „Wenn du auf Trends aufspringst, versuche, sie zu deinen eigenen zu machen“, rät Musonda Chota. Dann werden die Kleidungsstücke vermutlich auch dort bleiben, wenn der Trend vorbei ist, weil sie wirklich zu dir passen. Dabei kann es helfen, Kleinigkeiten zu ändern, sodass sich die Trends besser einfügen. Wenn du dir also, wie jede dritte Person gerade, Adidas Samba oder Gazelle holst, könntest du Schnürsenkel in einer Farbe benutzen, die sich oft in deinen Outfits wiederfindet.
Schritt 4: Finde Inspiration bei anderen
„Die meisten Menschen, die ich kenne, finden ihre Vorbilder, was Stil angeht, in der Popkultur. Zum Beispiel, wenn du James Bond siehst und denkst: Wie gut kann man denn in einem Anzug aussehen?“, erklärt Ben Bernschneider. Er zeigt wie Xenia Wahl auf Tiktok und Instagram seine Outfits. Dabei beschwört er meist ein fiktives Szenario herauf, für das er sich heute anziehen möchte. Hier begibt er sich in die Rolle eines Showmasters bei einem texanischen Lokalsender und hier leitet er eine archäologische Ausgrabung am südlichen Ende des Euphrat.
Soziale Medien und Popkultur sind die perfekten Orte der Inspiration. Hier präsentieren unzählige Leute ihre Outfits, beschäftigen sich mit Mode im Allgemeinen oder haben einfach coole Kleidung an (Musiker:innen in Musikvideos zum Beispiel). Auch Filme, Serien und Manga haben mich schon inspiriert. Und den wirklich Modebegeisterten empfehle ich es sowieso, sich Runway-Shows von Designer:innen anzuschauen. Auch ohne die gezeigte Kleidung zu kaufen, kann man sich dort immer wieder Ideen für sein Styling abgucken.
Ab und zu mache ich es so wie Ben Bernschneider. Dann denke ich mir: „Heute möchte ich aussehen wie A$AP Rocky“, und versuche, mich dem mit meiner eigenen Kleidung anzunähern. So kombiniere ich Teile anders als sonst und probiere Neues aus. KR-Leserin Ronja geht noch einen Schritt weiter und sucht sich gleich ein Vorbild für ihren gesamten Stil: „Ich würde gern aussehen, als hätte ich Rennpferde – et voilà.“
Man kann sich auch in der realen Welt inspirieren lassen: „Als Stylist beobachte ich immer, was um mich herum passiert. Es gibt immer etwas, was man sich abgucken kann, egal wer egal was trägt“, erzählt Musonda Chota. Bei unserem Interview sitzen wir in einem Café in Kreuzberg. Ihm gefällt die Cap der Person am Nachbartisch. In einem Café zu sitzen und Leute zu beobachten, ist also nicht nur einer der besten Zeitvertreibe, er bringt unter Umständen auch noch deinen Stil weiter.
Schritt 5: Höre nicht auf die anderen
Einige Teilnehmer:innen meiner Umfrage schreiben, dass sie sich nicht trauen, Neues auszuprobieren, weil sie fürchten, von anderen beurteilt zu werden. „Daran muss man sich gewöhnen“, sagt Xenia Wahl. „Manchmal bekomme ich auch Kommentare: ‚Ich würde mich nie trauen, aber ich finde es toll, dass du es machst.“ Dabei habe sie sich früher auch nicht getraut, so auf die Straße zu gehen.
Vielleicht steht am Ende eine Abwägung: Möchte ich mich unwohl in meiner Kleidung und unzufrieden mit meinem Stil fühlen und dafür vielleicht nicht schief angeguckt werden. Oder fühle ich mich wohl und ernte vielleicht Blicke? Viele dieser möglichen schrägen Blicke liegen sicherlich in gesellschaftlichen Normen begründet. Aber: Warum zum Beispiel sollten Männer keine Röcke tragen können? Manchmal ist das leider auch eine Sicherheitsfrage. Fühle ich mich in meinem Outfit an einem bestimmten Ort sicher?
KR-Leserin Marieke sagt in meiner Umfrage: „Ich glaube, ich ziehe mich viel für den Male Gaze an, aber das ist so tief in mir drin, davon komme ich gar nicht los.“ Unter Male Gaze versteht man den heterosexuellen, männlichen, sexualisierenden Blick darauf, wie Frauen sich geben sollen, um den Bedürfnissen des männlichen Betrachters zu genügen. Diese Erfahrung hat Xenia Wahl auch gemacht. Sie habe sich, vor allem als sie jünger war, sehr danach gerichtet. Irgendwann habe sie dann begonnen zu reflektieren. „Wenn ich mich nach diesem Male Gaze richte, sollte ich mich deswegen nicht fertigmachen. Das nicht mehr zu tun, ist ein Prozess, das geht nicht von heute auf morgen. Dafür haben wir viel zu viele Jahre im Patriarchat gelebt und sind darin aufgewachsen.“ Wenn man das aber ändern möchte, könne man sich fragen: Was macht mir eigentlich Spaß? Was will ich anziehen? Das hieße ja nicht automatisch, dass man nicht auch Skinny Jeans tragen, sich die Nägel machen lassen oder schminken könne.
Schritt 6: Lasse dir Zeit
Ben Bernschneider gehört anders als Musonda Chota, Xenia Wahl und ich nicht der sogenannten Generation Z an. Er sagt: „Mein Interesse für Mode hat sich über 47 Jahre verteilt. Ich glaube, ein Stil findet sich ganz organisch und harmonisch, ich erinnere mich nicht daran, großartig darüber nachgedacht zu haben.“ Auch in der Umfrage geben viele an, ihren Stil mit der Zeit entwickelt und gefunden zu haben.
„Was wir nicht vergessen dürfen: Mode ist ja nicht überlebensnotwendig. Das ist ein unfassbar schönes, weites Feld, auf dem man sich austoben kann. Und es ist eine Bereicherung für jede Lebensphase“, sagt Ben Bernschneider. Mir ist im Verlaufe der Recherche für diesen Artikel klar geworden, dass ich unbewusst genau diese sechs Schritte durchlaufen habe bzw. sie noch immer durchlaufe. Ich lasse mich überall inspirieren, probiere Sachen aus, denke darüber nach, was mir gefällt und versuche mich nicht allzu sehr von der Meinung anderer beeinflussen zu lassen. Dabei bin ich oft ungeduldig, aber mir gefällt, dass dieser Prozess nie endet.
Vielen Dank an die KR-Leser:innen, die an meiner Umfrage teilgenommen haben!
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert