Am dritten Tag meines neuen Lebens wache ich um 5.30 Uhr auf, weil eine Ringeltaube im Morgengrauen auf meinem Balkon Platz nimmt und penetrante Schreie ausstößt. „Hau ab!“, rufe ich und reiße die Tür auf. Sie flattert panisch weg. Ich schaue hinterher und denke: So gestresst wie diese Taube fühle ich mich, seit der KI-Assistent in meinem Nacken sitzt.
Seit ich dreizehn bin, wünsche ich mir Personal. Am liebsten einen Butler, der mir langweilige Aufgaben abnimmt. Diese Woche hoffte ich, meinem Traum endlich näher zu kommen. Ich teste eine App namens Motion. Sie nutzt Künstliche Intelligenz, um Aufgaben, Meetings und Projekte zu planen. Das tut sie für 19 Dollar im Monat (wenn man für ein Jahr im Voraus bezahlt, sonst sind es monatlich 34 Dollar). Erwartungsvoll registriere ich mich für die siebentägige kostenlose Probeversion. Meinen KI-Assistenten taufe ich Morton, wie den Chauffeur in der Kinderbuchserie „Die drei ???“. Morton ist Engländer, fährt einen goldbeschlagenen Rolls-Royce und sagt immer „Sehr wohl, die Herrschaften“, sogar wenn er mit Kindern spricht.
Allein vom Zusehen fühle ich mich optimiert
So höflich ist die App nicht. Dennoch bin ich ziemlich beeindruckt davon, was sie kann: Ich muss nur meine Termine und To-Dos in sie eingeben und wie viel Zeit ich für jede dieser Aufgaben brauche. Außerdem gebe ich an, wie zeitnah meine Aufgaben erledigt werden müssen und welche Deadline sie haben („hart“ für Dinge, die termingemäß fertig werden müssen oder „weich” für Aufgaben, die ich auch an einem anderen Tag abarbeiten kann). Schließlich kann ich noch eintragen, wann ich meine To-Dos erledigen will: während meiner Arbeitszeit, abends oder „irgendwann“. Die Lernkurve ist flach. Wer einen digitalen Kalender handhaben kann, kommt auch mit dieser App klar.
Anschließend erstellt mein KI-Assistent einen Terminkalender und eine To-Do Liste für mich. Dabei berücksichtigt sie die Termine, die bereits in meinem Google-Kalender stehen. Die App legt sogar Wert auf meine Work-Life-Balance: Von sich aus schlägt sie mir vor, jeden Tag morgens eine Meditation einzuplanen, zudem eine Mittagspause und regelmäßig Sport. Zugegeben: Natürlich braucht kein Mensch eine KI, um einen solchen Kalender zu erstellen. Jede einigermaßen organisierte Person schafft das allein. Der Clou an Morton ist, dass er wie ein echter Assistent meinen Kalender selbstständig umsortiert, wenn sich etwas ändert. Es ist sehr befriedigend, ihm dabei zuzusehen: Wenn ich für eine Aufgabe länger brauche, sie lösche oder einen neuen Termin eintrage, verschiebt eine magische Hand die Einträge in meinem Kalender. Nichts geht verloren, Morton findet für alles ein sinnvolles Zeitfenster. Allein vom Zusehen fühle ich mich optimiert.
Nach meinem ersten Arbeitstag mit Morton bin ich entsprechend euphorisch. Die Zukunft, die uns alle KI-Enthusiast:innen versprochen haben, ist tatsächlich da! Eine künstliche Intelligenz nimmt mir Aufgaben ab, die ich mühsam und langweilig finde, sodass ich mich auf Wichtigeres konzentrieren kann. Jetzt schon denke ich ernsthaft darüber nach, mir am Ende der Testphase ein Jahresabo zu kaufen. Was sind schon monatlich 19 Dollar, wenn ich mir damit mehr Zeit für die schönen und interessanten Dinge im Leben kaufen kann?
Ein Kollege, dem ich davon erzähle, ist skeptisch. Er fragt: „Hast du nicht Angst um deine Autonomie?“ Fast breche ich in schallendes Gelächter aus. Die App kann mich ja nicht dazu zwingen, den Terminkalender einzuhalten, wovor sollte ich mich fürchten?
Ich mache keine Pausen mehr
Nach zwei Tagen mit Morton stelle ich fest: Vermutlich war mein Leben noch nie so perfekt durchgetaktet. Tatsächlich war ich in den letzten 48 Stunden ziemlich produktiv. Zumindest fühlt es sich so an. Ich habe in diesen Tagen alles abgearbeitet, was Morton mir vorgelegt hat, alles andere hat einen sinnvollen neuen Platz in meinem Zeitplan gefunden. Allerdings fällt mir auf, dass die KI ein bisschen zu perfekt plant. Es gibt keine Lücken mehr in meinen Tag. Keine Zeiten, in denen ich rumwurschtele, in die Luft starre oder ziellos lesend im Internet herumklicke. Kein Spaziergang am Nachmittag, wenn ich mich erschöpft fühle und nicht mehr denken kann. Mein Kalender ist voll. Nichts ist mehr dem Zufall überlassen.
Wenn ich etwas nicht innerhalb meiner Arbeitszeit schaffe, klicke ich „Irgendwann erledigen“ an und Morton schiebt die Aufgabe in meinen Feierabend oder ins Wochenende. Wenn ich nicht genug Zeit für eine Aufgabe habe, die länger dauert, zum Beispiel eine Recherche, macht Morton aus 90 Minuten zwei 45-Minuten Blöcke und klemmt sie in meinen Zeitplan. Irgendwo ist immer Platz. Vor allem, weil außer der Mittagspause keine Freiräume vorgesehen sind.
Mir fällt auf, dass ich durch dieses nahtlose Zeitmanagement kaum noch innehalte. Theoretisch könnte ich es tun, aber da Pausen nicht Teil des Systems sind, muss ich sie entweder als „Aufgaben“ eingeben, mit harter Deadline, damit Morton sie nicht wieder verschiebt, oder als „Termin“. Das kommt mir albern vor. Ich fange an, mich müde zu fühlen und gelangweilt.
Mechanisch arbeite ich Mortons Zeitplan ab. Für Spontanität ist kein Platz, wenn ich länger mit Kolleg:innen telefoniere, muss ich die KI bitten, meine anderen Aufgaben zu verschieben. Das mag sie nicht. Sie schickt mir gelbe und rote Warnungen, dass es „Deadline-Konflikte“ in meinem Zeitplan gibt. Dann muss ich entscheiden, welche Aufgaben sie verschieben soll. Jedes Mal bekomme ich ein schlechtes Gewissen.
Ich merke, dass mein KI-Assistent mich bei einer Schwäche meiner Psyche packt, die mir nicht bewusst war: Wenn ich einen perfekt geplanten Zeitplan habe, möchte ich ihn abarbeiten. Denn offensichtlich liegt es ja nicht an zu wenig Zeit, wenn ich meine Aufgaben nicht schaffe. Sondern an mir.
Die Maschine hat gewonnen
Mich erinnert dieses Dilemma daran, wie ich mein Smartphone und mein Tablet nutze: Die Technologie an sich ist eigentlich nicht schädlich, das Problem ist, wie ich damit umgehe. Theoretisch könnte ich zwei Stunden vor dem Schlafengehen alle meine Bildschirme abschalten. De facto gucke ich aber lieber bis nach Mitternacht im Bett auf meinem Tablet Videos wie das hier, in dem zwei Engländer mit einem 160 Jahre alten Rezept Entenpastete zubereiten. Am nächsten Tag bin ich müde und habe brennende Augen. Was nicht nur an meiner schlechten Selbstdisziplin liegt. Sondern auch daran, dass Tech-Konzerne gezielt die Schwächen der menschlichen Psyche ausnutzen, wenn sie ihre Produkte designen (meine Kollegin Lea Scholz hat hier beschrieben, wie sie es endlich geschafft hat, weniger an ihrem Handy zu hängen).
Die Krise kommt am dritten Tag. Es ist ein Mittwoch, und Morton löscht mir nichts, dir nichts, meine Mittagspause, um mehr Platz für anstehende Aufgaben zu schaffen. Mein Tag ist nun von 9 bis 17:30 Uhr komplett durchgetaktet. Nur um 12:45 und um 15:00 Uhr ist jeweils eine Viertelstunde Luft. Nicht, weil Morton möchte, dass ich Pausen mache, denke ich grimmig, sondern weil er keine 15-minütigen Aufgaben in diese Lücken stopfen kann. An diesem Punkt bin ich bereits ziemlich demotiviert und habe das unangenehme Gefühl, dass nicht Morton mir assistiert, sondern ich für eine KI arbeite. Es ist meine eigene kleine Version der Dystopie, vor der Science-Fiction-Autor:innen und KI-Skeptiker:innen seit Jahren warnen: Die Maschine hat gewonnen.
Ich brauche keine KI, die mich anbrüllt
Glücklicherweise hat sie das nicht wirklich. Denn bei meiner Mittagspause verstehe ich keinen Spaß. Will Morton mich zum Workaholic machen? Wütend erstelle ich einen Termin „Mittagspause“ und schiebe ihn in meinen Kalender. Sofort schickt mir die App eine rote Warnung, es gäbe nun „Deadline-Konflikte“. Jetzt reicht es mir. Die KI sollte mein Leben leichter machen. Stattdessen will sie, dass ich wie eine Maschine arbeite.
Was Morton nicht wissen kann: Motivation zum Arbeiten ist für Menschen nicht selbstverständlich. Denn das Leben ergibt ja keinen offensichtlichen Sinn. Jede:r von uns wird mit seiner Geburt ungefragt auf einen Planeten im Nichts geschmissen, ohne jede Erklärung oder Gebrauchsanweisung für das Leben, dafür aber mit der hundertprozentigen Aussicht, alles, was man liebt und wichtig findet, im Laufe der Jahre zu verlieren – inklusive eines völlig unkontrollierbaren Enddatums der eigenen Existenz. Wenn man es angesichts dieser Tatsache schafft, sich morgens ohne Panikattacke ein Brötchen zu schmieren, finde ich das eine bemerkenswerte Leistung. Wer es darüber hinaus noch hinkriegt, zur Arbeit zu gehen, ist schon fast ein Held.
Das ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Aber ich brauche definitiv keine Maschine, die mich aufgrund von Deadline-Konflikten in meinem Terminkalender anbrüllt, weil ich mittags in Ruhe einen Salat essen will.
Natürlich ist es sinnlos, wütend auf ein Programm zu sein. Gut möglich, dass ich die App nicht smart genug nutze. Aber nach drei Tagen habe ich genug. Morton fragt drängend, was er mit den Terminen machen soll, die durch meine Mittagspause wegfallen. „Sehr wohl, die Herrschaften“, murmele ich. Und schließe diesen Kalender des Terrors.
Redaktion: Andrea Walter, Schlussredaktion: Rico Grimm, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert