Collage: Zwei Frauen. Die linke fasst der rechten an die Brust. Neben der linken steht eine Sprechblase mit einem Fragezeichen, neben der rechten steht eine Sprechblase mit einem Ausrufezeichen.

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Sinn und Konsum

Interview: „Viele Menschen sind beim Sex heute total überfordert“

Im Internet steht alles, was wir über Sex wissen müssen. Deshalb machen wir Rückschritte bei der Aufklärung, sagt der Sexualtherapeut Carsten Müller.

Profilbild von Von Tarek Barkouni und Theresa Bäuerlein

Warum haben wir eigentlich manchmal schlechten Sex? Weil wir zu wenig darüber wissen, sagt Carsten Müller. Er ist Sozial- und Sexualpädagoge sowie Sexual- und Paartherapeut und hat eine eigene Praxis in Duisburg. Er ist Koautor zweier Aufklärungsbücher für Familien, die lernen wollen, über Sexualität genauso offen zu sprechen wie über Brokkoli: „Von wegen Bienchen und Blümchen“ und „Sex ist wie Brokkoli, nur anders“. Außerdem schreibt er eine Kolumne über Sexualität für das Magazin „Spektrum der Wissenschaft“.


Herr Müller, im Internet findet man alles, was man sich zum Thema Sex wünschen kann. Jeder Mensch mit Fußfetisch in einem Dorf im Nirgendwo findet online Gleichgesinnte. Müssten wir nicht alle längst sexuell befreit sein?

Schön wärs. Ich glaube manchmal sogar, dass wir Rückschritte machen. Dass bei aller Offenheit die Kommunikationsfähigkeit und die sexuelle Aufklärung nicht zunehmen, weil die Menschen meinen, sie wüssten eigentlich alles.

Wir machen Rückschritte bei der Aufklärung?

Ja, ich glaube, an vielen Stellen braucht es mehr Aufklärung denn je: gerade weil sexuelle Inhalte digital so leicht zu finden sind und wir so viel mehr über alle möglichen sexuellen Spielarten wissen als früher. Ich finde das ja gut. Als ich mein erstes Pornoheft kaufen wollte, bin ich mit dem Fahrrad 25 Kilometer in die andere Stadt zur Tankstelle gefahren, weil ich gehofft habe, dass mich da keiner sieht. Heute kann man komplett anonym mit der VR-Brille auf dem Sofa Pornos gucken. Das ist ein sehr großer Vorteil. Alle möglichen Informationen und Zugänge zu haben, heißt aber nicht, dass ich sexuell kompetent bin.

Sexuell kompetent: Das heißt sicher nicht, besonders gut im Bett zu sein, oder?

Sexuelle Kompetenz meint zum Beispiel die Fähigkeit, die eigene Sexualität und die eigenen Bedürfnisse konkret für sich benennen und umsetzen zu können. Das ist noch viel wichtiger heute, weil so viele Einflüsse auf uns einströmen. Möchte ich mich wirklich komplett rasieren? Möchte ich Analsex haben? Habe ich Lust auf einen Dreier? Will ich eine offene Beziehung? Ich glaube, dass viele Menschen mit den Antworten überfordert sind. Ist es meine bewusste Entscheidung, wenn ich zu diesen Dingen ja sage oder glaube ich, das gehört heute dazu? Auch, weil es eine solche Vielfalt an Möglichkeiten für sexuelle Aktivitäten gibt. Eigentlich bräuchten wir heute Kurse für sexuelle Bildung für Erwachsene an der Volkshochschule.

Was sollten wir denn dort lernen?

Erst einmal sollten wir lernen, wie wir unsere Sexualität bewusst reflektieren können. Dafür muss ich mich mit mir auseinandersetzen, meiner Biografie, meiner Sozialisation, meiner Erziehung, meinem Körperbild, meinen Beziehungserfahrungen.

Das ist aber ein hoher Anspruch.

Ich sage nicht, dass es einfach ist. Aber es ist wichtig für eine gelungene Sexualität. Viele von uns haben als Kind Fragen zur Sexualität nicht beantwortet bekommen oder wie wir Zugang zu unseren eigenen sexuellen Gefühlen finden. Wir müssen das also später nachholen. Auch Körperwissen wäre ein Thema für so einen Volkshochschulkurs. Wie funktioniert ein Körper? Wie ist das mit den vaginalem und klitoralem Orgasmus? Wie groß ist die Klitoris? Kann ein Mann auch einen Orgasmus haben, wenn er keine Erektion hat?

Kann er?

Ja, der läuft genauso ab wie ein Orgasmus mit Erektion, inklusive Ejakulation. Der Trick ist, nicht mit der sexuellen Aktivität aufzuhören, nur weil die Erektion weg ist.

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Nun gibt es ja keine sexuelle Bildung an der Volkshochschule. Was kann ich sonst tun, wenn ich mich sexuell bilden möchte?

Es gibt zum Beispiel ein Buch namens „Kommt gut“, das ich oft empfehle. Darin geht es wirklich um sehr konkrete Anleitungen. Zum Beispiel: Wie kann Oralsex gut funktionieren? Was soll man dabei mit der Zunge machen – ist es besser, viel zu sabbern oder nicht? Oder wie wird etwas zu einer erogenen Zone?

Moment, sind erogene Zonen nicht bei jedem Menschen einfach vorhanden?

Natürlich, aber das Bewusstsein und die Kommunikation darüber fehlen. Ich muss eine erogene Zone ja für mich erstmal als eine solche wahrnehmen. Selbst wenn ich merke, ich finde es schön am Anus geleckt zu werden, muss ich mir zugestehen, dass das eine erogene Zone ist. Und das dann wirklich akzeptieren und kommunizieren. Nur, weil ich etwas fühle, heißt es lange noch nicht, dass ich es mir auch eingestehe und ich es gut finde, dass ich so fühle. Die Prostata ist ja auch so ein schambesetztes Thema.

Carsten Müller steht vor einem Backsteingebäude und lächelt in die Kamera.

Carsten Müller glaubt, dass viele Menschen eine grundlegende Fähigkeit für guten Sex nicht gelernt haben: Miteinander reden. Bild: Amanda Dahms

Können gute Sexbildungsangebote auch pornografisch sein? Also, kann man sich sozusagen mit einem Bildungsangebot einen Orgasmus verschaffen?

Klar dürfen Bildungsangebote auch Lust machen, ich bin mir sicher, Menschen nutzen sie auch dafür. Klassische Pornos wiederum sind eigentlich keine sexuelle Bildung. Auch wenn viele sie nutzen, um etwas über Sex zu lernen. Pornos zeigen aber vorwiegend die gleichen Abläufe. Sex bedeutet zum Beispiel fast immer Penetration und endet mit dem Orgasmus. Diese Bilder prägen uns alle. Wenn ich den Leuten, die zu mir in die Praxis kommen, den Vorschlag mache, dass Sex nicht gleich Penetration sein muss oder auch ohne Orgasmus schön sein kann, machen viele erst mal große Augen. Ich arbeite auch mit Jugendlichen in Workshops, in denen es um Pornografie geht und ich merke, welche Vorstellungen sie sich schon angeeignet haben. Zum Beispiel, wenn es darum geht, welche Spermamengen normal sind. Eine Übung ist also, dass wir zusammen Kunstsperma anrühren.

Was ist da drin?

Man nimmt Eiweiß und Puderzucker, vielleicht ein bisschen Wasser. Dann sollen die Jugendlichen in Reagenzgläser die Menge an Kunstsperma füllen, die sie für eine durchschnittliche Ejakulation normal halten. Sie schütten die Gläser meist viel zu voll, weil sie von dem ausgehen, was sie aus der Pornografie gelernt haben. Penisgrößen sind auch so ein Thema, darüber rede ich mit den Jugendlichen mithilfe von Bananen und Gurken. So etwas durchbricht auch Sprachbarrieren. Sprechfähig zu werden, ist ein ganz wichtiges Thema. Sexuelle Bildung ist auch Vokabeltraining.

Oh, guter Punkt. Was sind ihre Lieblingswörter für Geschlechtsteile?

Ich würde in fachlichen Kontexten immer von Vulva, Vagina, Klitoris und Penis sprechen. Und auch, wenn es um die Aufklärung von Kindern geht. Die müssen Begriffe kennen, die alle verstehen. Und da wären wir dann bei den oben genannten Begriffen. Ansonsten würde ich die Menschen fragen, was sie gut finden. Es kann bei einem Paar auch einen sprachlichen Unterschied geben, wenn sie ein ruhiges Gespräch beim Frühstück führen oder gerade total Bock aufeinander haben und richtig in der sexuellen Aktivität sind. Was wären dann Begriffe, die sie nutzen dürfen oder auch nutzen möchten?

Wenn eine sagt: „Jetzt besorg es mir mal richtig hart und leck meine Fotze“, ist das dann okay, oder ist das eben nicht okay? Ich würde nie pauschalisieren und sagen, dies oder jenes sind gute Begriffe. Wenn wir sexuelle Selbstbestimmung wirklich so verstehen, dass der Mensch bewusst Entscheidungen trifft, dann müssen wir dem Menschen auch zugestehen, für sich passende Begriffe im Rahmen zu finden und mit anderen auszuhandeln.

In den Drogerien in Deutschland stehen mittlerweile standardmäßig Sexspielzeuge, gleich neben dem Regal mit den Bio-Lebensmitteln. Wer heute kein Sexspielzeug zu Hause hat, scheint nicht mehr Teil der Normalität zu sein. Trägt das dazu bei, dass Menschen sich heutzutage sexuell überfordert fühlen?

Ich bin froh, dass es solche niedrigschwelligen Angebote gibt, dass man nicht mehr in den Sexshop gehen muss, um einen Vibrator zu kaufen. Trotzdem frage ich mich: Woher sollen die Menschen wissen, wie man mit diesen Spielzeugen umgeht? Wie man sie sauber macht? Wie man Kondome und Gleitmittel damit benutzt? Das wird in Pornos nicht gezeigt. Im klassischen Aufklärungsunterricht in Schulen wird so etwas auch extrem selten erklärt. Und auch Erwachsene haben ein Recht auf Bildungsangebote, die diese Themen behandeln. Wer fühlt sich verantwortlich für die Bildung der Menschen in Bezug auf Liebe, Partnerschaft und Sexualität?

Wir! Deswegen machen wir dieses Interview.

Genau. Aber dann ist ja auch wieder die Frage: Welche Menschen erreicht ihr als Krautreporter mit diesem Interview? Wie erreicht ihr die Leute außerhalb der Bubble eurer Leser:innen?

Das Interesse müsste da sein. Nur ungefähr jede:r sechste Deutsche ist laut einer Umfrage zufrieden mit dem eigenen Sexualleben.

Das Problembewusstsein der Menschen ist in den vergangenen Jahren definitiv gewachsen. Menschen sind auch eher gewillt, sich zum Thema Sex beraten zu lassen. Sexual- und Paartherapie sind ein bisschen hipper geworden, auch durch Serien wie „Sex Education“. Ich merke das an den Menschen, die im Rahmen von Sexual- und Paarberatung in meine Praxis kommen. Da sind mittlerweile wirklich alle Altersschichten, alle sozialen Gruppen, alle Girokontostände dabei. Die Menschen hinterfragen ihre Sexualität heute mehr.

Ein schwieriges Thema für viele ist dennoch das Thema Konsens. Also beispielsweise „Stopp“ zu sagen, wenn sich Partner:innen etwas wünschen, worauf man keine Lust hat.

Es ist manchmal okay, seinen Partner:innen zuliebe im Bett Dinge zu machen, die man vielleicht selbst nicht so aufregend findet. Das tut man ja auch in anderen Lebensbereichen. Wenn meine Frau unbedingt asiatisch essen gehen möchte und ich aber eigentlich lieber italienisch mag, kann es auch mal einen Abend geben, wo ich sage ja, okay, heute gehen wir ins vietnamesische Restaurant. Das darf bei Sexualität auch so sein.

Das klingt in Ordnung, wenn es nur um Wünsche geht, die nicht beide gleich spannend finden. Aber es kann ja nicht sein, dass man seinen Partner:innen zuliebe Dinge tut, die man wirklich nicht will.

Wenn man etwas gar nicht will und das vorher weiß, macht man das auf keinen Fall. Aber ich finde schon, dass man dem Partner zuliebe Dinge machen darf. Gleichzeitig sollte man sehr sensibel mit sich selbst sein und sich fragen: Wo ist meine Grenze?

Es gehört auch dazu, dem Partner oder der Partnerin klar zu kommunizieren: „Ich mache das jetzt, weil ich das Gefühl habe, es ist dir wichtig.“ Dann muss die Partner:in aushalten, dass es ihm oder ihr zuliebe getan wird und nicht, weil die andere Person auch total darauf steht.

Irgendwie schwierig, sich das vorzustellen. Sagen wir, man lässt sich seine:r Partner:in zuliebe auf einen Dreier ein und merkt, dass es sich ganz schrecklich anfühlt. Wie kommt man da raus?

Also die Exitstrategie kann natürlich erst mal ganz klassisch sein, man sagt einfach „Stopp“. So etwas kann man vorher besprechen, auch zu dritt. Dann ist die Frage, wie machen wir nach dem „Stopp“ weiter? Exit muss nicht bedeuten, dass die sexuelle Aktivität aufhört und man von Tempo 100 direkt auf den Boden knallt. Das geht auch sanfter. Man beendet die Situation, trotzdem bleibt man im „wir“. Man könnte zum Beispiel erst mal einfach kuscheln und gleichzeitig schauen, wohin die Reise weitergeht.

Das klingt so einfach.

Es ist nicht unbedingt einfach. Aber es muss auch nicht immer alles perfekt sein. Ich denke, dass es sehr viel Druck erzeugt, wenn das Thema Sex eine so große Bedeutung hat. Sexualität hat natürlich durch die Intimität und die körperliche Nähe ein Riesenpotenzial, grenzverletzend zu sein. Nackter als beim Sex – und damit verletzlicher – kann man kaum sein. Dementsprechend fühlt man sich angreifbarer. Aber man darf in intimen Situationen auch Fehler machen. Das lässt sich nicht komplett vermeiden. Die Frage ist, wie gehe ich damit um, wenn ich Fehler mache? Ermögliche ich meinen Partner:innen, mich auch im Nachgang darauf hinzuweisen? Nehme ich es ernst, entschuldige ich mich? Für all das muss man erst einmal sprechfähig sein. Alle wollen sexuelle Selbstbestimmung. Aber die Frage ist doch: Wie kommen wir überhaupt dahin, sexuell selbstbestimmt sein zu können?

Haben Sie einen Tipp?

Super wichtig ist die Frage, wie wir mit unseren Partner:innen über Konsens ins Gespräch kommen. Viele Menschen wissen nicht, dass es dabei nicht nur um Ja und Nein geht. Wenn ich Konsens nur als etwas verstehe, wo ich ja oder nein sagen kann oder muss, ist das eine sehr schwerwiegende Frage für die Person, die entscheiden soll. Sie muss dann klar wissen, ob sie etwas mag oder nicht. Wenn ich mir unsicher bin, sage ich womöglich lieber gleich nein. Aber ein „Vielleicht” kann es mir ermöglichen, in der sexuellen Aktivität erstmal zu schauen, was passiert. Und in einem Rahmen von Vertrauen auch sagen zu können: „Ich merke, dass ich das jetzt doch nicht mehr will.“ Konsens ist auch, wenn im Nachgang die Menschen sagen: „Ich möchte das nicht mehr. Das war doof.“

Das funktioniert in längeren Beziehungen vermutlich besser, als wenn ich in einer Bar jemanden kennenlerne und wir gemeinsam nach Hause gehen.

Solche Auseinandersetzungen sollten immer Teil von Sexualität sein. Auch bei einem One-Night-Stand kann man schon vorher über das Später sprechen und sagen: „Hey, ich möchte mit dir darüber sprechen, weil ich mit dir Sex haben möchte, weil ich Lust auf dich habe.“ Manche Fragen kann man dann schon klären: „Wie gehen wir dann nachher übrigens auseinander? Und wann gehen wir auseinander?“ Die Fragen sind sehr wichtig und geben Sicherheit, um das, was passiert, auch genießen zu können. Wenn solche Fragen geklärt sind, ist das Potenzial viel größer, dass man einen richtig guten Abend hat.

Diese ganzen Aushandlungen könnte man sich natürlich sparen, wenn man in Zukunft nur noch digitalen Sex hat. Was bald viel attraktiver sein wird, wenn die Technologie von zum Beispiel VR-Brillen besser wird. Brauchen wir dann überhaupt noch echte Sexualität?

Das Attraktive an digitaler Sexualität und vor allem Pornografie ist, dass ich alles selbst in der Hand habe: Wann und wie ich ihn sehe, wie die Menschen aussehen, die darin vorkommen. Ich kann auf Pause klicken, zurückspulen, langsamer oder schneller machen. Mehr Selbstbestimmung in der Sexualität geht ja gar nicht. Ich glaube aber, Sexualität hat nicht nur Orgasmen und sexuelle Lust als Ziel, es geht auch um Verbundenheit und dafür brauchen wir echten Hautkontakt. Ich glaube an den realen Sex zwischen Menschen, der verbindet. Sex ist etwas Tolles und sollte immer auch analog sein. Aber vielleicht ist das romantisiert. Menschen sind anstrengend. Und Sexualität mit realen Menschen wird in den kommenden Jahrzehnten anstrengender sein als digitaler Sex.


Dieser Text ist Teil des Zusammenhangs Digitaler Sex: Was du noch lernen kannst. Danke an alle KR-Leser:innen, die sich an der Umfrage dazu beteiligt haben! Wer mag, kann hier noch teilnehmen: Welche Fragen hast du zu digitalem Sex?

Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

„Viele Menschen sind beim Sex heute total überfordert“

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