Hier eine kurze Liste einiger Gründe, warum ich manchmal eine anstrengende Partnerin bin:
- Ich habe kein Problem damit, an öffentlichen Orten laut zu streiten oder in Tränen auszubrechen.
- Abends werde ich oft grundlos ängstlich. Mein Mann muss mir dann gut zureden.
- In jedem Bett beanspruche ich mindestens siebzig Prozent der Fläche.
- Ich haare schlimmer als ein Rudel Katzen.
- Mein Gehirn scheitert immer wieder an einfachen Aufgaben. Neulich habe ich mir die Hände mit Zahnpasta gewaschen.
In diesem Text geht es darum, warum romantische Liebe als Glücksprinzip bescheuert ist. Es ist vielleicht nicht offensichtlich, warum ich dafür mit dieser Liste meiner Eigenheiten anfange. Dafür gibt es jedoch einen guten Grund: einen Vortrag des britisch-schweizerischen Philosophen Alain de Botton. De Botton schimpft darin ziemlich energisch über die Idee der romantischen Liebe. Zu dem Thema hat er auch einen Artikel geschrieben, dieser war 2016 der meistgelesene Text der New York Times. Offenbar haben sich viele Menschen darin wiedergefunden. Unter anderem kritisiert de Botton die Vorstellung, man könne einen Menschen lieben, bevor man ihn richtig kennt.
Menschen, meint er, wirken nur normal, solange man sie nicht richtig kennt. In Wirklichkeit spinnen die meisten von uns, die einen mehr, die anderen weniger. Wie verrückt jemand ist, merkt man erst, wenn man als Partner:innen zusammenlebt. Das ist das zweifelhafte Privileg langer Beziehungen.
Da hat er natürlich recht. Die eine kann laute Kaugeräusche nicht ertragen, der andere hat ein zwanghaftes Verhältnis zu seiner Kuscheldecke, ein dritter kann nicht ohne seine To-do-Listen, eine vierte grundsätzlich nicht allein sein. Und das sind nur die harmlosen Beispiele. Eigentlich, meint de Botton, müsste man daher bei seinen ersten Dates gleich abfragen: „Und wie verrückt bist du?“
Nicht die Liebe machte mich naiv
So kam ich auf die Idee mit der Liste, also die, mit der ich diesen Text begonnen habe. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn ich sie meinem Mann tatsächlich nach unserem ersten Kuss vor dreizehn Jahren überreicht hätte. Jetzt ist es zu spät. Er weiß das alles schon.
Ich bin in nichts so naiv hineingegangen wie in meine Ehe. Jedes Dokument in meinem Leben, das ich unterschrieben habe, habe ich vorher bis ins kleinste Detail durchgelesen. Ein einziges Mal tat ich genau das nicht: auf dem Standesamt. Ich wusste noch nicht einmal genau, was ich da unterschrieb und welche rechtlichen Konsequenzen meine Signatur hatte.
Es fühlte sich sehr romantisch an, sich so bedingungslos zu binden. Im Nachhinein weiß ich allerdings, dass es nicht die Liebe war, die mich so naiv handeln ließ. Sondern die Vorstellung, wahre Liebe dürfe, ja, müsse unvernünftig sein, weil sie sich beweist, indem sie dich einfach mitreißt, den Kopf ausschaltet.
Das war schön, aber ehrlich gesagt war mein Handeln auch die Konsequenz einer vor circa 250 Jahren erfundenen Vorstellung von Liebe: die romantische Annahme, es würde da draußen den einen, den „richtigen“ Partner geben, mit dem wir für immer zusammenbleiben sollten, wenn wir ihn gefunden haben, dessen Liebe uns vollständig und glücklich macht und Einsamkeit für immer beendet. Eine fixe Idee, die sich bis heute in jedem Happy End einer Liebeskomödie, jeder Promi-Hochzeit und mit jeder Valentinstag-Schokobox wiederholt.
Eine Beziehung ist „Arbeit“? Das passt zu einer von Arbeit besessenen Gesellschaft
Ich glaube, mir wäre viel erspart geblieben, wenn ich damals auf dem Standesamt weniger romantisch gedacht hätte. Nicht, weil ich meine Ehe bereue; ich bin mit meinem Mann noch immer sehr gerne zusammen. Und ich bin ernsthaft jeden Abend sehr glücklich darüber, ihm beim Atmen zuzuhören, wenn er einschläft. Obwohl er mich eine Stunde davor noch wahnsinnig gemacht hat, weil er jedes Lied, das er liebt, mindestens zwei Monate lang in Dauerschleife hört. Im Moment ist es „Corner Of My Eye“ von den Lemon Twigs.
Ich wäre bei unseren diversen Streits und Konflikten über die Jahre hinweg aber sicher weniger verzweifelt gewesen, wenn ich nicht so viele bescheuerte romantische Ideen und Ansprüche im Kopf gehabt hätte: Dann hätte ich zum Beispiel gewusst, wie einsam, traurig und fremd man sich auch in einer guten Beziehung fühlen kann – und wie normal das ist.
Klar, jede:r weiß heutzutage, dass eine Beziehung „Arbeit“ ist, das ist ja fast schon ein Klischee (und passt zu einer von Arbeit besessenen Gesellschaft). Es wäre aber schön gewesen, wenn mir viel früher klar gewesen wäre, dass niemand ein Happy End geschenkt kriegt. Sondern, dass es in einer Beziehung Dutzende, vielleicht Hunderte davon gibt, die manchmal ganz schön viel Schweiß und Tränen kosten.
„Frauen wollen Männern Liebe beibringen“
Naiv war ich früher auch, weil ich nicht durchschaut habe, dass die romantische Vorstellung von Liebe Menschen regelmäßig dazu bringt, Beziehungen zu akzeptieren, die ihnen nicht guttun und in denen sie schlecht behandelt werden. Wenn man sich eine Ideologie ausdenken wollte, die Menschen dazu bringen sollte, sich bis zum Burnout oder Schlimmerem selbst zu verleugnen, könnte man sich nichts Effizienteres überlegen als die romantische Liebe.
Das gilt für alle Geschlechter. Aber Frauen betrifft dieses Phänomen stärker. Sie wenden pro Tag durchschnittlich etwa 52 Prozent mehr Zeit als Männer auf, um Kinder und Haushalt zu versorgen. Unbezahlt und weitgehend ohne Anerkennung, versteht sich. Das ist der sogenannte Gender-Care-Gap. Als verheiratete Frau musste ich schon ein bisschen schlucken, als ich „Das Ende der Ehe“ von Emilia Roig gelesen habe. Sie kratzt in ihrem Buch die romantischen Ideale von der Liebe wie den Zuckerguss von einer Hochzeitstorte und beschreibt, wie sich Frauen selbst ausbeuten, weil sie meinen, diese Ausbeutung gehöre zum Lieben dazu. Sie zitiert Shulamith Firestone, die sagt, die männliche Kultur sei parasitär und beziehe „ihre Kraft aus der emotionalen Stärke der Frauen, ohne dafür etwas zu geben.“
Soweit würde ich nicht gehen, aber ich kenne viele Frauen, die auf Zehenspitzen um die Egos ihrer Partner, Kollegen, Mitbewohner und Väter herum trippeln. Die versuchen zu vermitteln und zu verstehen, Platz zu geben und wenig einzunehmen, damit es allen besser geht. Und nebenbei noch hübsch auszusehen, Kinder zu gebären und beruflich etwas auf die Beine zu stellen. Weil sie gelernt haben, so ihre Liebe zu zeigen – und vor allem: Liebe zu bekommen und zu erhalten. „Frauen wollen Männern Liebe beibringen, sie mit ihnen erleben, gemeinsam daran wachsen“, schreibt Roig. Leider manchmal bis zur Erschöpfungsdepression.
144 Bleche Brownies: Das ist für mich Liebe
Dabei müsste eigentlich jeder Mensch, der älter als zwölf Jahre ist, wissen, dass die romantische Liebe, wie wir sie heutzutage verstehen, als Grundlage langer Beziehungen eine Erfindung des 19. Jahrhunderts ist. Und vorher Zweckehen üblich waren, ohne Anspruch auf Liebe und emotionale Nähe. „Die romantische Liebe hat sich nach der industriellen Revolution zu einem zentralen Aspekt des individuellen Glücks entwickelt, der Ehe kam eine neue Bedeutung und Qualität zu, sie sollte lebenslange emotionale, intellektuelle und sexuelle Erfüllung bieten. Der romantischen Ehe wurde dadurch ein sakraler Charakter verliehen, und die Ehe wurde an die Spitze der Hierarchie der menschlichen Beziehungen katapultiert“, schreibt Roig.
Wie gesagt, ich liebe meinen Mann. Ich glaube, dass wir die Aufgaben in unserer Beziehung ziemlich fair aufteilen, auch wenn ich heute morgen sehr genervt war, weil in unserem Wohnzimmer seit zwei Monaten die Glühbirne an der Decke ausgebrannt ist. Ich dachte, es könnte interessant sein abzuwarten, wie lange das so bleibt, wenn ich nichts tue. Die Antwort lautet: Keine Ahnung, denn nach zwei Monaten konnte ich nicht mehr warten. Also wechselte ich das doofe Ding selbst aus.
Anschließend schickte ich meinem Mann eine Sprachnachricht in einem Tonfall, mit dem man wahrscheinlich Farbe von Wänden lösen könnte, so ätzend war er. Natürlich war das auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Zumal ich meine eigenen Schwächen im Haushalt habe, zum Beispiel bringe ich nie, also wirklich nie, den Müll raus. Trotzdem habe ich in Momenten wie heute morgen das Gefühl, als stünden hinter mir Millionen Frauen, die mit den Augen rollen und rufen: WARUM MUSS ICH EIGENTLICH AN ALLES DENKEN?
Mein Mann und ich, wir haben keine Kinder. Sicher bleiben uns deswegen bestimmte Konflikte erspart. Aber selbst wenn man alle Geschlechterdynamiken beiseite lässt und nur an Partnerschaft denkt: Ich kann ihm sicherlich nicht auf Lebenszeit eine emotionale, intellektuelle und sexuelle Erfüllung garantieren. Sorry, aber das ist die Wahrheit. Diesen Job schafft niemand. Er im Gegenzug auch nicht für mich. Ich bin schon dankbar, wenn er mir zuliebe auf Youtube zuschaut, wie jemand 144 Bleche Brownies bäckt.
Sind wir stark im Glauben an die Liebe – oder unbelehrbar?
Man könnte annehmen, die Realität von Paarbeziehungen in Deutschland hätte romantische Vorstellungen längst eingeholt. Wir leben ja nicht mehr in den 1950ern. Jede:r weiß, dass es kein Happy End bedeutet, wenn zwei Partner:innen sich gefunden haben. Wenn Paare auseinander gehen, redet man trotzdem von einer „gescheiterten Beziehung“, statt anzuerkennen, dass Gefühle unterschiedlich stark und lange halten.
Wir kennen alle die Scheidungs- und Fremdgehraten. Die meisten Menschen mit Kindern, die ich kenne, leben nicht mit ihrer einen großen Liebe zusammen, sondern in Patchwork-Familien. Das mag an meinem urbanen Umfeld liegen, aber nicht nur: Laut des neunten Familienberichts der Bundesregierung sind Familien „strukturell zunehmend divers“ geworden – und Paarbeziehungen instabiler.
Es ist von einer „sinkenden Heiratsneigung“ die Rede, aber wenn man sich die Statistiken ansieht, bin ich mir da nicht so sicher. Bis 2015 heirateten jedes Jahr immer weniger Menschen in Deutschland, doch anschließend stiegen die Zahlen wieder. Dann kam Corona und Menschen heirateten deutlich weniger. Aber Eheschließungen sind auch schwierig, wenn Standesämter pandemiebedingt geschlossen sind und jede Hochzeit das Potenzial eines Superspreader-Events hat. Ich finde es eher erstaunlich, wie sich trotz des Virus 2020 immer noch gut 373.000 Paare in Deutschland das Jawort gegeben haben. Das nenne ich Entschlossenheit.
Allein daran erkennt man: Wir sind in Deutschland noch längst nicht entromantisiert. Denn natürlich ist eine Eheschließung der ultimative Ausdruck und das Ritual des Glaubens an die romantische Liebe. Dieser Glaube ist berauschend wie die Luft im Frühling, wenn die ganze Natur verknallt wirkt. Er trägt die Hoffnung auf eine lebenslange Liebe in sich, die nicht nur möglich ist, sondern auch glücklich macht.
Ich finde diese Überzeugung bemerkenswert. Und rührend. Vielleicht ist die romantische Liebe eine der wenigen Ideen, an der wir uns noch gemeinsam festhalten können, unabhängig von Schicht und Herkunft.
Ist das verzweifelt oder tapfer? Ist ein Paar wie Bettina und Christian Wulff, die neulich zum dritten Mal geheiratet haben, stark in seinem Glauben an die wahre Liebe, oder unbelehrbar?
Wie man ungebremst in die Realität knallt
Wie dem auch sei: Einige der größten Kritiker:innen der romantischen Liebe sind verheiratet – kein Zufall. Alain de Botton zum Beispiel. Oder ich. Wir, die wir schon lange in der Ehe leben, sind sozusagen die Überlebenden der Fantasie von der großen, wahnsinnigen, unsterblichen Liebe. Wir können berichten, wie es ist, wenn man ungebremst in die Realität knallt.
Lustig ist das nicht. Nichts leuchtet die eigenen Schwächen und die einer anderen Person so gnadenlos aus wie eine lange Liebesbeziehung. Kaum etwas kitzelt nicht nur die besten, sondern auch die erbärmlichsten Eigenschaften der eigenen Persönlichkeit so erfolgreich hervor, wie dieser enge Raum. Es ist schwer, sich für eine entspannte, großzügige Person zu halten, wenn man einen Partner hat, der sehen kann, wie oft man gestresst und aggressiv durch die Wohnung tigert. Man mag denken, dass man ein starkes Individuum ist, aber die emotionale Abhängigkeit, die in Beziehungen entsteht, ist sehr real und teils unvermeidbar.
Die Menschen in unserer direkten Umgebung haben einen tatsächlichen körperlichen Einfluss darauf, wie es uns geht, und wenn sie uns nahe sind, ist dieser Einfluss besonders stark. Bei Partner:innen ist das so. Die Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman-Barrett benutzt den Begriff „Körperbudget“, um zu beschreiben, wie die Lebensweise von Menschen sich auf ihre Stimmung, Emotionen und ihre Gesundheit auswirkt. Das Körperbudget ist wie ein Bankkonto. Wenn wir etwa gut schlafen, sportlich aktiv sind und uns gesund ernähren, zahlen wir auf dieses Konto ein. Wenn wir Stress bei der Arbeit haben, ständig am Handy hängen oder Chips mampfen, belasten wir das Konto, es gerät aus dem Gleichgewicht. Das schlägt sich in einer Vielzahl körperlicher Prozesse nieder, von denen wir unmittelbar meist nur merken, wie unsere Stimmung sich ändert. Langfristig können die Folgen gravierender sein.
Beziehungen sind ein wichtiger Faktor für dieses Körperbudget. Menschen, meint Feldman-Barrett, leben in sozialer Abhängigkeit voneinander, weil die Art, wie sie miteinander interagieren, ihre Körperfunktionen beeinflusst – vom Blutdruck über ihre Hormonausschüttung bis hin zur Atmung. Das kann positiv sein, wenn wir Vertrauen oder Zuneigung fühlen. Ohne es zu wissen, gleichen unser Herzschlag und unsere Atmung sich in einem solchen Moment dem einer anderen Person an. Das fühlt sich gut an, entspannt, man ist Zuhause. Aber Menschen beeinflussen ihre Körperbudgets auch negativ, wie jede:r bestätigen kann, der sich nach einem Streit mit Kolleg:innen oder einer Beziehungskrise schon einmal richtig krank gefühlt hat.
Einsame Menschen sterben früher
Wie sehr wir andere brauchen, wird auch durch die Tatsache deutlich, dass Einsamkeit tatsächlich krank macht. Eine bekannte Übersichtsarbeit hat 2015 ergeben, dass Einsamkeit und soziale Isolation sogar Risikofaktoren für eine frühzeitige Sterblichkeit sind.
Hinter dem Wunsch nach romantischer Liebe steckt also ein gesunder Instinkt: Wir brauchen andere Menschen. Der Denkfehler liegt nur darin, wir müssten dafür unbedingt jene besondere Person finden, die es angeblich für jeden irgendwo da draußen gibt.
Auch Freund:innen können diese Rolle einnehmen. Warum kriegen Paare, die lange zusammen sind, für diese Beziehung so viel gesellschaftliche Anerkennung und sogar Feiern wie silberne Hochzeiten – während es für Freund:innen kein einziges gesellschaftlich anerkanntes Ritual gibt?
Gerade weil Einsamkeit krank und unglücklich macht, wäre es im Interesse aller, die alte, abgehalfterte Idee der romantischen Liebe über Bord zu werfen. Nicht aus Zynismus oder weil es schlecht wäre, Partner:innen fürs Leben zu haben oder diese Liebe mit Ritualen und Hochzeitstorten zu feiern. Jede:r, die oder der das möchte, kann das ja weiterhin mit größter Freude tun.
Es wäre im Interesse aller anzuerkennen, dass die Liebe zu Partner:innen nur eine Form des Zusammenseins ist. Und nicht für alle die beste. Manchmal ist sie sogar lebensgefährlich, wie mein Kollege Martin Gommel in diesem Artikel beschreibt.
Es ist ziemlich befreiend, sich klarzumachen: Die romantische Liebe, wie viele von uns sie heute noch verstehen, ist in vielen Teilen eine Erfindung, eine Geschichte, die sich Partner:innen erzählen. Niemand aber hat diese Geschichte in Stein gemeißelt. Sie ist kein Naturgesetz. Und darf sich deswegen auch verändern. An Bedürfnisse und Erkenntnisse anpassen, an neue Möglichkeiten ebenso.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger