Dass Deutsche „Kartoffeln“ genannt werden, ist ungerecht. Deutschland liegt beim Kartoffelkonsum europaweit nur im (unteren!) Mittelfeld. Lettland ist in der EU führend, Polen kommt auf Platz zwei, selbst in Großbritannien essen sie mehr Kartoffeln als hierzulande.
Dass Deutsche „Kartoffeln“ genannt werden, ist aber auch wunderschön, denn Kartoffeln sind bescheiden, universell einsetzbar und haben viel Energie. Sie sind genau so, wie man sich seine Freunde wünscht! Dennoch spielen sie oft nur eine Nebenrolle auf dem Teller. Das wollen wir heute ändern.
Es ist auch bitter nötig, denn während jede:r wenigstens ein oder zwei Apfelsorten nennen kann, wissen viele über Kartoffeln nur, dass es mehligkochende und festkochende gibt – und natürlich noch die obskuren „vorwiegend festkochenden“. Festkochende verwendet man, wenn die Kartoffeln ihre Form behalten sollen (zum Beispiel im Salat), letztere, wenn die Form egal ist und die Kartoffeln beim Kochen zerfallen sollen (zum Beispiel im Püree). So weit, so bekannt.
Das Zerfallverhalten hängt vom Stärkegehalt der Sorte ab. Und die Stärke heißt tatsächlich so, weil man sie die längste Zeit zum Versteifen („Stärken“) von Stoff benutzt hat. Wer sich mit der Kartoffel befasst, landet also im Nu am englischen Hofe des 16. Jahrhunderts, wo offenbar eine Holländerin erstmals die Idee hatte, Stoff mit der aus Kartoffeln gewonnenen Stärke steifer zu machen, um so kunstvolle Kragen zu gestalten. Welche andere Nutzpflanze kann das von sich behaupten!
Die Kartoffel ist mehr als bloße Sättigungsbeilage
Und dennoch spielt die Kartoffel auf dem Teller meist die Rolle der – Achtung, schlimmes Wort aus der DDR-Gastronomie – „Sättigungsbeilage“. Dabei rettet sie, cremig, knusprig oder dampfend, jedes noch so schnöde Stück Fleisch. Die Kartoffel ist außerdem: vielseitig. Aus kaum einem anderen Lebensmittel lassen sich so viele unterschiedliche Speisen herstellen wie aus Kartoffeln. Sie ist in der einfachen und seltener in der gehobenen Küche zuhause, sie erledigt ihren Job als Pellkartoffel, Pommes Frites, Püree, Stampf, Kroketten, Rösti, Ofenkartoffel, Puffer oder Gnocchi (ja, diese Miniknödel sind nicht aus Hartweizen, sondern aus Kartoffeln). Sie ist wichtiger Bestandteil von Aufläufen wie Moussaka und Shepherd’s Pie. Und als Knödelkomponente kann sie sogar Dessert-Basis sein.
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Wer herausfinden will, was die Kartoffel geschmacklich kann, muss auf den Markt, in Feinkostgeschäfte oder Bioläden, weil die Auswahl im Supermarkt meist sehr begrenzt ist. Dann könnt ihr zum Beispiel die besonders noblen festkochenden und nussig schmeckenden Sorten „La Ratte“ und „Bamberger Hörnla“ probieren. Letztere musste kürzlich wie so viele andere vor dem Aussterben gerettet werden, weil ertragreichere Kartoffeln in leichter zu verarbeitenden Formen die sogenannten Alten Sorten plattmachen. Wer wissen will, was es so alles gibt: Ein schönes Kartoffelverzeichnis führt Katharina Schneider, die auf ihrem Blog über 60 Sorten beschreibt.
Zum Glück verzeiht das Gericht, um das es heute geht, eine maue Kartoffelauswahl. Wenn du einkaufen gehst, solltest du lediglich darauf achten, dass du eine vorwiegend festkochende oder festkochende Sorte mitnimmst. Denn wir machen heute ein Kartoffelgratin.
Ich bin der festen Überzeugung, dass das menschliche Gehirn ein Gratinzentrum hat, das von dieser Speise, die eigentlich Gratin dauphinois heißt, direkt angesprochen wird. Viele Schichten zarter Kartoffelscheiben, gekocht in aromatisierter Sahne, mit Käse überbacken – what’s not to like?
So wird die Kartoffel zum Star auf dem Teller
Von der Dauphiné, einer historischen französischen Landschaft an der Grenze zur Schweiz, hat dieser Auflauf seinen Namen. Erfunden wurde er entweder in Frankreich oder in der Schweiz, so ganz ist die Herkunft nicht geklärt. Erstaunlicherweise wird er im Original nicht mit Käse überbacken, da mir aber in Kartoffelfragen nichts an historischer Akkuratesse gelegen ist, kommt Käse zum Einsatz. Nur welcher? Für diesen Text haben mein Freund Jamil und ich das Gericht in drei verschiedenen Varianten gekocht (also eigentlich hat er gekocht, während ich die Webseite des Deutschen Stärkeverbands durchgelesen habe). Im Ergebnis können wir mit Sicherheit sagen, dass der oft empfohlene Schweizer Käse Gruyère zu heftig ist und die arme Kartoffel mit seiner Würzigkeit überrumpelt. Deshalb empfehlen wir den milderen Emmentaler.
Das vielleicht Verblüffendste an dem Gericht ist die Zutat Kaffeesahne. Nicht erschrecken, es ist kein Kaffee im Spiel! Es geht nur um die etwa zwölfprozentige Sahne, die wir mit Knoblauch, Thymian, Pfeffer und Muskatnuss aromatisieren, bevor wir hunderte dünne Kartoffelscheiben im Backofen darin kochen. (Es sind wirklich über achthundert bei anderthalb Kilo Kartoffeln.)
Mit diesem Gericht beförderst du die Kartoffel von der pflichtbewussten Beilage zur glamourösen Protagonistin auf dem Teller. Dazu musst du aber das Gratin in die Höhe bauen. Wir wollen kein formloses, flaches Geschlabber, sondern einen veritablen Kartoffelturm auf dem Teller, in dem man die einzelnen Scheiben gut erkennt und beim Reinbeißen ihre Textur auch wahrnimmt. Deshalb machen wir auch eine große Portion in einer nicht zu großen Auflaufform (sonst bekommen wir einen zu flachen Auflauf). Die unten aufgeführten Längen- und Breitenmaße sollte deine Auflaufform idealerweise nicht überschreiten. Und wenn du am nächsten Tag noch Gratin übrig hast: Schneide es in breite Streifen und brate sie in Butter goldbraun an.
Die so gefeierte Kartoffel braucht nur noch Beilagen, die nicht viel Arbeit machen: Gedämpfter Brokkoli mit gerösteten Mandelscheiben tut es oder ein paar Scheiben Roastbeef mit Meerrettichsauce (für die Sauce einfach Sahnemeerrettich mit fertiger Worcestershiresauce nach Geschmack verrühren).
25-Layer-Kartoffelgratin (4-6 Portionen als Hauptzutat)
Zutaten
- 1,5 kg Kartoffeln (am besten vorwiegend festkochende, ansonsten festkochende)
- 500 ml Kaffeesahne 10%-12% oder Kaffeemilch 10%
- 150 g Emmentaler (am Stück)
- 1 Zweig frischen Thymian
- 1 Knoblauchzehe
- 1 TL Muskatnuss gerieben, mehr zum Anrichten
- 1 EL Butter
- Optional: ½ Bund Schnittlauch
- Salz und schwarzer Pfeffer aus der Mühle
Utensilien
- Auflaufform (max. 23 cm x 28 cm, min. 6 cm hoch, Fassungsvermögen min. 2 Liter)
- Sparschäler
- kleiner Topf
- Muskatnussreibe
- große Schüssel (oder Topf)
- Mandoline (Gemüsehobel)
- Käsereibe
- Alufolie
- optional: feinmaschiges Sieb
Zubereitung
- Die Kaffeesahne in einem kleinen Topf zusammen mit dem Zweig Thymian, einer angedrückten Knoblauchzehe (muss nicht geschält werden), Muskatnuss sowie einer Prise Salz und einem TL Pfeffer auf kleiner Flamme erwärmen (nicht zum Kochen bringen).
- Auflaufform mit Butter einfetten und beiseite stellen.
- Die Kartoffeln schälen. Damit die geschälten Kartoffeln nicht durch Oxidation braun werden, legen wir sie in eine Schüssel mit kaltem Wasser, bis sie weiterverarbeitet werden.
- Den Ofen bei Umluft auf 200 Grad vorheizen.
- Mit einem Gemüsehobel die Kartoffeln in 1-2 mm dicke Scheiben hobeln.
- Die Kartoffelscheiben in möglichst gleichmäßigen Lagen in die eingefettete Auflaufform schichten. Dabei ist es wichtig, dass jede Lage leicht gesalzen wird. Bei ungefähr jeder dritten Lage kann zusätzlich noch mit Pfeffer gewürzt werden. Das Ziel sollten 25 Schichten Kartoffelscheiben sein.
- Die aromatisierte Kaffeesahne vom Herd nehmen und durch ein Sieb über die geschichteten Kartoffelscheiben abseihen.
- Die Auflaufform mit Alufolie bedecken und auf die mittlere Schiene in den vorgeheizten Ofen schieben.
- Den Käse reiben. Optional: Den Schnittlauch waschen und in schmale Ringe schneiden.
- Nach 35 Minuten prüfen, ob die Kartoffeln fertig gegart sind. Dazu das Gratin aus dem Backofen nehmen, die Alufolie entfernen und mit einem Messer das Gratin einstechen. Du solltest die einzelnen Lagen wahrnehmen, aber ohne deutlichen Widerstand. Sollten die Kartoffeln noch zu hart sein, das Gratin weitere fünf bis zehn Minuten, mit Alufolie bedeckt, in den Backofen geben.
- Das Gratin gleichmäßig mit dem geriebenen Käse bestreuen und dann ohne Alufolie für weitere fünf bis zehn Minuten in den Ofen. Dafür die Grillfunktion auf die höchste Stufe stellen. Das Gratin im Auge behalten, damit es nicht anbrennt. Wenn der Käse flüssig und an einzelnen Stellen leicht gebräunt ist, die Auflaufform aus dem Ofen nehmen.
- Mindestens fünf Minuten warten, dann das Gratin in Rechtecke schneiden und mit einem Tortenheber auf die Teller geben. Noch etwas Muskatnuss über das Gratin reiben und nach Belieben mit Schnittlauch garnieren.
Mitarbeit: Jamil Yassine, Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Lisa McMinn, Bildredaktion: , Audioversion: Christian Melchert