Wusstest du, wie die Männchen der Büffelweber beim Orgasmus aussehen? Bei den Tieren handelt es sich um eine ostafrikanische Vogelart. Sie zittern und kriegen Beinkrämpfe, wenn sie kommen. Außerdem besitzen die Männchen einen Penis, der nicht der Fortpflanzung dient, sondern allein der sexuellen Stimulation.
Bis vor fünf Minuten hatte ich davon keine Ahnung. Ich wusste noch nicht einmal, dass es Vögel namens „Büffelweber“ gibt (sie gleichen mit Zahnpasta gesprenkelten Amseln). Dann habe ich „Orgasmen bei Tieren“ gegoogelt, bin auf diese Quelle gestoßen, und jetzt müssen wir beide mit der Information über das Sexleben dieser Vögel weiterleben.
Mich bestätigt das in einem persönlichen Entschluss: Dies ist der letzte Text zum Thema Sex, den ich in meinem Leben schreiben werde. Und wenn ich meine Arbeit gut mache, ist dies auch der letzte Text, den du darüber lesen wirst.
Ich weiß nicht, wie viele Gespräche ich mit Freund:innen und Bekannten über ihren sexuellen Frust geführt habe, wie viele Bücher, Magazine oder Podcasts sich mit dem Versprechen verkaufen, diesem Frust ein Ende zu setzen. Ich selbst habe extrem viel Zeit mit der Suche nach der Antwort auf die Frage verbracht, wie Paare es schaffen können, in langen Beziehungen den Tod ihres Sexlebens zu vermeiden. Einmal habe ich sogar selbst ein Buch darüber geschrieben. Dafür habe ich mit Wissenschaftler:innen und Sex-Arbeiter:innen geredet und mich von Therapeut:innen coachen lassen. Ich war auf einem Seminar des mittlerweile leider verstorbenen Therapeuten David Schnarch, der die sympathische These vertrat, Selbstachtung sei das beste Aphrodisiakum. Eine feministische Sexworkerin hat mir die G-Punkt-Massage erklärt, seitdem wünschte ich, es gäbe dazu Kurse in der Volkshochschule. Für ein Tantra-Ritual in Österreich habe ich mich in ein großes Tuch gewickelt und dann meine Körperscham in ein loderndes Feuer geworfen. Ich weiß mehr über Sextoys, als ich jemals wissen wollte. Deswegen glaube ich, an diesem Punkt mit einiger Kompetenz sagen zu können, dass man sich den ganzen Aufwand sparen kann.
Alles, was zu diesem Thema erzählt werden muss, ist gesagt worden, das Wissen um jede sexuelle Spielart nur ein paar Klicks entfernt. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, das Thema einfach mal ruhen zu lassen. Oder zumindest entspannter anzugehen. Zumal die Menschheit sehr lange überproportional intensiv damit beschäftigt war. Obwohl Sex gar nicht so furchtbar wichtig ist, wie immer getan wird.
Übrigens: Dieser Text ist Teil meiner Serie „Unterschätzte Gefühle“. Wenn du keinen meiner Texte mehr verpassen möchtest, kannst du dich hier für meinen Newsletter anmelden.
Sex ist nicht die beste Möglichkeit, manche Bedürfnisse zu erfüllen
Ja, einige werden jetzt auflachen und sagen: Man kann die Bedeutung von Sex gar nicht überschätzen. Er beeinflusst alle Lebensbereiche. Am Sex messen viele die Qualität von Liebesbeziehungen, er beeinflusst das Gefühl von Selbstakzeptanz, die Werbung verkauft mit sexuellen Anspielungen alles von Toastern bis zu Computermäusen. Die Pornoindustrie ist milliardenschwer und treibt technische Innovationen voran. Möglicherweise fiel im Altertum die Stadt Troja, weil ein Haufen Männer auf eine hübsche Frau namens Helena stand. Ach ja, und ohne Sex würde es die Menschheit nicht geben.
An dieser kleinen Liste ist aber auch sofort das grundsätzliche Problem erkennbar. Der letzte Punkt, die reine Fortpflanzung, ist ziemlich unkompliziert. Alles andere in dieser Aufzählung hat eigentlich wenig mit sexuellen Handlungen zu tun. Und viel mit anderen Bedürfnissen, die durch Sexualität in irgendeiner Weise gelebt oder nicht gelebt werden: „Gefühle verstehen“ – die beste Möglichkeit, diese Bedürfnisse zu erfüllen. Ein Selbstwert etwa, der davon abhängt, wie sehr mich andere Menschen begehren oder wie leicht ich sie in mein Bett locken kann, ist ziemlich leicht zu erschüttern, wenn es anderen einfällt, nein zu sagen. Und wer den Wert seiner Beziehung an der Sexfrequenz misst, kann sich genauso gut am Wetterbericht orientieren.
Was soll das überhaupt sein, Sex?
Wie sehr sich Partner:innen anziehen und wie oft sich das in dem ausdrückt, was die meisten Menschen unter Sex verstehen, ist extrem individuell und lässt sich durch statistische Durchschnittswerte wie diese nur schlecht abbilden.
„Was heißt überhaupt Sex, wie wird das definiert?“, fragte mich der Sexualtherapeut Carsten Müller neulich am Telefon. „Ist es Sexualität, wenn Genitalien angefasst werden? Lustvolles Kuscheln auf der Couch kann auch total gelebte Sexualität sein.“
Sex ist derart stark mit Klischees überzogen und mit Bedeutungen überladen, dass es ziemlich schwierig sein kann, einfach nur Freude daran zu haben. Allein der Stress um das Thema Orgasmus! „Wer sagt denn, der Orgasmus müsse das Ziel einer sexuellen Aktivität sein?“, sagt Müller. „Ich denke, dass der Sex ohne Orgasmus sogar der bessere Sex sein kann. Ich vergleiche das mit dem Reisen: Manchmal will man mit dem Charterflugzeug direkt nach Mallorca fliegen, man kann aber auch mit dem Bus eine längere Reise antreten, die kein bestimmtes Ziel hat. Wenn es eine engstirnige Fokussierung auf Sexualität gibt – Sex ist immer mit Penetration verbunden und endet immer mit dem Orgasmus – sind die Menschen oft unzufriedener, als wenn Sex eine ganz bunte Tüte von Dingen ist.“
Es ist natürlich schön, wenn Partner:innen sich um die Lust ihrer Liebhaber:innen bemühen. Manchmal gibt es aber nichts Anstrengenderes als jemanden, der Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um seinen Partner:innen einen Orgasmus abzuringen. Wie dieser Typ hier.
Die Lügen der Sexualberatungsindustrie
Deswegen lohnt es, sich einfach mal locker zu machen. So banal es klingt. Zumindest dann, wenn man Sex nicht aus Interesse oder Spaß hat, sondern weil man glaubt, Sex in der Form und in der Frequenz erleben zu müssen, wie es angeblich normal ist. Oder weil man meint, es sei tatsächlich möglich, nach fünf, zehn, zwanzig Jahren Beziehung mit der gleichen Person Verliebtheit und Leidenschaft zu erleben wie am Anfang. Das ist ein Märchen. Wie Dan Savage, der vielleicht bekannteste Sex- und Liebesratgeberkolumnist der USA in diesem Interview sagt: „Ein Großteil der Probleme beim Sex in einer Langzeitbeziehung besteht darin, den Zauber, die Intensität und die Leidenschaft des Anfangs wiederzuerlangen. Und ein Großteil der Sexualberatungsindustrie besteht darin, die Menschen anzulügen und ihnen zu sagen, sie könnten oder sollten das schaffen und dass es überhaupt möglich ist.“
Wer will denn mehr als anderthalb Jahre zugedröhnt sein?
In ihrem Buch „Ein Hormon regiert die Welt“ schreiben der Psychiater Daniel Z. Lieberman und der Physiker Michael E. Long: „Unser Gehirn ist darauf programmiert, sich nach dem Unerwarteten zu sehnen und daher in die Zukunft zu blicken, in der es aufregende neue Möglichkeiten gibt. Doch wenn etwas, einschließlich der Liebe, vertraut wird, legt sich diese Aufregung und wir wenden uns neuen Dingen zu.“
Wissenschaftler:innen haben diesem Mechanismus, den jeder kennt, den charmanten Namen „Belohnungsvorhersagefehler“ gegeben. Eng damit verbunden, meinen sie, sei Dopamin, jener berüchtigte Stoff, der populärwissenschaftlich auch „Glückshormon“ heißt. Dopamin trägt dazu bei, dass die Liebe zu einer angenehmen Erfahrung wird, ähnlich der Euphorie, die mit dem Konsum von Kokain oder Alkohol verbunden ist. Das Hormon löst das prickelnde Gefühl der Verknalltheit aus, den Kick der Aufregung.
„Wir machen ständig Vorhersagen über die Zukunft: wann wir Feierabend machen können, wie hoch unser Kontostand sein wird, wenn das nächste Monatsgehalt eingegangen ist und so weiter. Wenn das, was geschieht, besser ist als das, was wir erwartet haben, handelt es sich buchstäblich um einen Fehler in unserer Vorhersage der Zukunft. Vielleicht können wir früher nach Hause gehen, oder unser Kontostand beträgt 100 Euro mehr als erwartet. Dieser erfreuliche Irrtum aktiviert das Dopamin – nicht die zusätzliche Freizeit oder das zusätzliche Geld, sondern der Nervenkitzel der unerwartet guten Nachrichten“, so Liebermann und Long.
Allein die Möglichkeit eines Belohnungsvorhersagefehlers reicht also aus, damit Dopamin aktiv wird. Wenn etwas aber Teil unseres Alltags wird, also zum Beispiel ein:e Partner:in, gibt es keinen Belohnungsvorhersagefehler mehr.
Die verknallte Phase dauert laut der Anthropologin Helen Fisher zwölf bis 18 Monate. Danach endet die Liebe – oder sie verändert sich. In jedem Fall schwindet die Wahrscheinlichkeit dafür, seinem Partner zu jeder Tages- und Nachtzeit hungrig die Klamotten runterfetzen zu wollen.
Das kann man tragisch finden. Ehrlich gesagt ist es aber ziemlich okay, weil es sowieso extrem anstrengend wäre, mehr als 18 Monate Verliebtheit auszuhalten. Ich zumindest würde auch nicht anderthalb Jahre zugekokst oder betrunken sein wollen.
Die Frage ist, wie echte sexuelle Freiheit aussieht
Ich will damit nicht den Wert von Sex an sich herunterspielen: Sexuelle Lust, in welcher Form auch immer, gehört zu den irrsten Erfahrungen, die man mit sich und anderen haben kann. Die verrückte Intimität, die darin besteht, sich mit einem anderen Körper zu verschlingen, ist unvergleichlich. Niemals würde ich behaupten, es sei genauso interessant, Zeitung zu lesen oder gemeinsam ein Bad zu renovieren. Gut finde ich auch, wie viel offener wir darüber reden können – noch in den 1990ern war es peinlich, Kondome zu kaufen. Die Älteren unter uns erinnern sich noch an diesen Spot einer Anti-Aids-Kampagne. Heute kann man in der Drogerie einen Vibrator aufs Band legen, ohne komisch angeguckt zu werden. Und wenn in einer populären Netflix-Serie wie „Shadow And Bone“ nebenbei zwei Männer knutschen, ist dieser Kuss nicht mal mehr bemerkenswert. Das ist großartig. Sexuelle Freiheit ist eine der größten Errungenschaften, die ich mir vorstellen kann. Die Frage ist nur, wie eine echte solche Freiheit aussieht.
Ich kenne Menschen, die in ihrem ganzen Leben nur mit einem einzigen Menschen geschlafen haben, manche waren jahrzehntelang mit ihren Partner:innen zusammen. Sie wirken auf mich kein bisschen unglücklicher als Frauen und Männer mit Dutzenden Sexpartner:innen. Ich kenne ein Paar mit drei Kindern, das nach mehr als einem Jahrzehnt Ehe sexuell extrem zufrieden ist, und ein polyamores Pärchen, bei dem die Partner:innen nur noch Lust auf andere haben, aber nicht mehr aufeinander. Nichts davon entspricht Statistiken und Klischees. Und was ist eigentlich mit Menschen, die nie Lust haben, mit anderen zu schlafen, wie Carmen? Auch das zu leben, ist sexuelle Freiheit.
Was sexuelle Freiheit ganz sicher nicht ist: Der Zwang, sich vergleichen und nach festen Kriterien performen zu müssen. Die feministische Schriftstellerin Tracy Clark-Flory schreibt in ihren Memoiren „Want Me: A Sex Writer’s Journey into the Heart of Desire“ über eine moderne Sexualkultur, die sexuelle Freiheit für Frauen so darstellt, als wären sie cool, wenn sie an Sex herangehen wie Männer. Als wäre die Definition sexueller Freiheit, jeden Kink und jede Spielart mitzumachen, auch wenn das in Wirklichkeit auf Kosten der eigenen Befriedigung geht.
Ich glaube, wir brauchen vielleicht noch eine letzte sexuelle Revolution. Am liebsten wäre mir diesmal eine Revolution der Entspannung. Eine, bei der sich die Menschen von jedem Zwang zur Performance befreien.
Vielleicht ist dies deshalb doch nicht der letzte Text zum Thema Sex, den ich schreiben werde. Aber ich verspreche, nächstes Mal fange ich nicht mit merkwürdigen Tierarten an.
Redaktion: Esther Göbel, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger