Als ich das letzte Mal ein Restaurant besuchte, bevor Corona einschlug, bestellte ich ein Gericht mit nur einer Handvoll Zutaten, von denen ich die meisten entweder nicht kannte oder nicht mochte. Es war fantastisch.
Die Logik ist einfach: Um herauszufinden, ob ein Restaurant etwas taugt, bestellst du etwas, was du kennst, denn so kannst du am besten vergleichen. Halt dich an die Standards und du weißt, woran du bist, egal wo du bist. Ob im Alpenraum Käsespätzle, beim Franzosen Bouillabaisse (Fischsuppe) oder bei der Italienerin Ossobuco (Beinscheibe) – Gerichte, die es überall gibt, verraten, ob die Küche ihr Handwerk beherrscht.
Wenn du aber schon weißt, dass sie taugt, lautet die dringende Empfehlung: Bestelle etwas, das du nicht magst. Mein Vater hat immer gesagt, gut zubereitet schmeckt alles. Ich werde ihm nicht widersprechen, sondern euch ermuntern, es ihm (und mir) gleichzutun. Ihr mögt Chicorée genauso wenig wie ich? Bestellt ihn. Irgendwas in Aspik? Kann super sein. Innereien? Do it. Einer guten Küche kann man vertrauen – und damit den eigenen Horizont erweitern.
Also Schritt 1: Sich an die Klassiker halten. Schritt 2: Das Ungewohnte probieren (denn das ist es ja eigentlich, was man nicht mag). Aber heute geht es um Schritt 3: Das Neue erfinden; eine Speise, die es bisher nicht gab. Profis machen das regelmäßig, aber auch sie profitieren von Zufällen und Unfällen. Und die können jedem passieren. Wie du sie nutzen kannst und worauf du achten könntest, erfährst du hier. Und auch wie es zum heutigen Rezept kam, einem Linseneintopf mit Zimt und Malzessig.
Warum wir heute anders kochen (können)
Die Traditionen sind stark in der Küche und oft aus gutem Grund. Die Generationen, die vor dir mit den gleichen Zutaten hantiert haben, schenken dir mit der klassischen Küche einen über Generationen gewachsenen und verfestigten Erfahrungsschatz. Aber da geht es schon los: Frühere Köch:innen hatten eine völlig andere Auswahl an Produkten zur Verfügung. Es gab einerseits eine größere Vielfalt lokaler Produkte wie Äpfel und Kartoffeln (die heute sogenannten „alten Sorten“), aber keine von weit her gereisten Käsesorten wie Ricotta Salata („gesalzener Ricotta“) und sowieso keine Kakifrucht. Außerdem sind viele uns heute geläufige Produkte noch gar nicht so alt: Der erste Chicorée ist offenbar erst in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts in Belgien gezüchtet worden. (Das Ausgangsprodukt, die Zichorie, wird immer noch für die Herstellung von Ersatzkaffee verwendet.) Und dann brachten natürlich auch Migrant:innen die Produkte ihrer Heimat mit. Dass man heute in jedem brandenburgischen Dorf Olivenöl kaufen kann, haben wir unseren italienischen Freund:innen zu verdanken, die man unter der Bezeichnung „Gastarbeiter“ nach Deutschland holte, in der Erwartung, dass sie wie gute Gäste bald wieder heimreisen mögen. Was zum Glück nicht alle taten.
Im vorigen Absatz habe ich ein Rezept versteckt: Es besteht eigentlich nur aus diesen Zutaten: Ein Salat aus (rotem, milderem) Chicorée, Scheiben der Kakifrucht, etwas Olivenöl und einem Haufen darüber geraspeltem Ricotta Salata. Das war der Teller, den ich viertelvorcovid in einer kleinen Weinbar in Neukölln gegessen habe. Dort kochte damals Yailen Munoz Diaz, deren Job es eigentlich nur war, kleine Gerichte zur Begleitung der Weine zu entwickeln.
Du brauchst nicht viele Zutaten, wenn du sie geschickt kombinierst
Die sauren Naturweine, die sie in Neukölln so gerne servierten, habe ich vergessen, aber an jeden einzelnen Teller von „Yaya“, wie Yailen genannt wird, erinnere ich mich. Wir gingen nur noch wegen des Essens in die Weinbar und tranken die Weine anstandshalber dazu. Yaya hat ein Gericht erfunden, das in keiner Tradition irgendeiner Länderküche steht. Man könnte meinen, dass das mit Yayas Biografie zusammenhängt: geboren in der Sowjetunion, als Kind nach Kuba gekommen und später dann über zehn Jahre in der multikulturellsten Stadt gelebt, die ich kenne: Montreal in Kanada. Aber sie sagt selbst, dass die Kulturen sie kulinarisch kaum geprägt haben. Vielmehr waren es die Leute, die sie kennengelernt hat. Ich glaube das sofort.
In einem Interview sagt Yaya, es sei „Genügsamkeit“, die sich in ihrer Küche zeigt: „Ich habe mit Menschen und Verwandten gelebt, die aus wenig viel machen konnten, und das beeinflusst die Art, wie ich heute koche. Ich liebe es, aus bescheidenen Zutaten etwas Besonderes zu machen.“ Und ja, es sind nur wenige Zutaten und sie sind nicht besonders exklusiv. Sie sind allerdings nicht willkürlich ausgewählt, sondern sehr kalkuliert. Jede Komponente fügt dem Gericht eine weitere Dimension hinzu, was das Ergebnis so befriedigend macht: von der Kaki kommen Süße und saftiger Biss, vom Chicorée Bitterkeit und Crunch, vom Ricotta Salata der salzige Umami-Geschmack. Es ist eine einfache Küche, aber sie ist in dem Sinne zeitgemäß, als dass es sie nur in unserer heutigen Welt geben kann.
Die Tradition ist stark, auch wenn sie nervt
Auch Frithjof Gernentz ist in der Welt herumgekommen, bevor er in Berlin auf Sterneniveau gekocht hat. Auf seinen Reisen durch Thailand, Vietnam und Indonesien hat er in Suppenküchen mitgekocht. Ich habe ihn angerufen, weil ich wissen wollte, wie das Neue in die Welt kommt – insbesondere in der Gastronomie, wo Tradition so viel zählt, wo das Publikum vor allem das mag, was es schon kennt – und wo es so viele ungeschriebene (oder auch sehr oft aufgeschriebene) Regeln gibt: Gernentz ist frustriert davon. Er sagt, dass es in der italienischen Küche Traditionen gibt, die ihn nerven, weil sie so oft unkritisch fortgeführt werden: Dass in Gerichte entweder Zwiebeln oder Knoblauch kommen dürfen, aber niemals beides. Oder dass an Pasta mit Fisch niemals Käse darf.
Gernentz lässt sich beim morgendlichen Gang durchs Kühlhaus von den verfügbaren Produkten inspirieren. Und obwohl er sich nicht an eine bestimmte Länderküche gebunden sieht, muss er beim Anblick von Artischocken gleich an Oliven denken – eine klassische Kombination mediterraner Küche. Die Tradition ist stark, auch wenn sie nervt. Sich gegen das zu stemmen, was einem immer sofort einfällt, weil man es so gelernt hat, das ist die Aufgabe, wenn man etwas Neues schaffen will.
Gernentz entwickelt Rezepte deshalb in zwei Schritten: Erst improvisieren, dann formalisieren. Beim ersten Ausprobieren einer neuen Idee wiegt und misst er noch nicht ab, sonst „verliert man sich im Prozess“. Es wird gekocht und probiert. Im zweiten Schritt folgen dann das Finetuning und die Niederschrift des Rezepts. Ein guter Einstieg ist es, bewährte Rezepte mit kleinen Eingriffen zu ändern, zum Beispiel einen Caesar-Salat statt mit Huhn mit Zuckermais und Liebstöckel zu servieren.
Gib den Linsen eine Spitze!
Wichtige Rollen spielen wie immer bei der Improvisation Zufälle und Unfälle: Einmal hatte Gernentz im Urlaub gesalzene Tomaten auf einer sommerlichen Terrasse vergessen. Drei Tage später entdeckte er sie wieder und probierte. Der eingesetzte Fermentationsprozess hatte den Tomaten die Süße entzogen, aber ihr Geschmack war „funky“. Er kombinierte die Tomaten mit süßen Aprikosen und verkochte sie zu einem fantastischen Chutney.
Durch einen Zufall kam auch das heutige Rezept zustande. Linsen haben bekanntermaßen nur einen relativ zarten Eigengeschmack. Mit etwas Säure kann man ihrem Geschmacksprofil, wie die Fachleute sagen, „eine Spitze geben“. Das ist universelles Wissen. Man macht es in Ägypten mit Limettensaft, in Syrien mit Orangen- und Zitronenschnitzen und in Deutschland, naja, mit diesem Zeug aus dem Supermarkt: „Altmeister“. Das ist eine Mischung aus Weinessig und Branntweinessig, der billigsten Essigqualität. Den darf man so ziemlich aus allem machen, was irgendwo in der Landwirtschaft anfällt. Und er schmeckt nach nichts.
Auch wenn sich dieses Produkt laut Hersteller besonders gut für Linsengerichte eignet, gibt es einfach viel zu viele verschiedene Essige, als dass man hier nicht ein Experiment wagen könnte. Jedenfalls hatte ich während irgendeines Lockdowns mal Fish and Chips zum Mitnehmen geholt und dazu ein Tütchen Malzessig bekommen, das ich nach Hause trug, in den Schrank legte und dort vergaß. Jetzt war seine Zeit gekommen! Denn als mein Freund Jamil die Zutaten für Linseneintopf zusammensuchte, entdeckte er den englischen Essig und benutzte ihn kurz entschlossen. Das Ergebnis war so überraschend gut, dass wir es gleich nochmal gekocht und diesmal mitgeschrieben haben. Wir wussten, was in den Eintopf soll, damit er so gut wird. Aber wir wussten nicht warum.
Warum schmeckt das so gut?
Da ein aufgeklärtes Leben in solcher Unkenntnis kaum möglich ist, fragte ich Gernentz: Warum schmeckt das so gut? Seine Antwort war so einleuchtend wie unerwartet. Wir hatten, ohne es zu wissen, eine klassische Kombination der chinesischen Küche variiert: das Würzen mit Chinkiang-Essig und Zimt. Dieser schwarze, fast rauchig schmeckende Essig ist eine Mischung aus Reis- und Malzessig und wesentlicher Bestandteil (nicht nur) der chinesischen Küche. Dim Sum werden in Saucen aus eben diesem üppigen Essig getunkt. Der englische Malzessig schmeckt weniger süß, hat aber auch eindeutige Karamellnoten. Und die Harmonie zwischen Zimt und Karamell ist eigentlich nicht erklärungsbedürftig.
Tatsächlich war die Idee, Zimt und Malzessig an die Linsen zu geben, gar nicht neu. Sie war nur zuhause in einer anderen Tradition. In Asien wird übrigens sehr viel mehr mit Zimt gekocht, so ist er auch wichtiger Bestandteil von Phở, der berühmten vietnamesischen Suppe. Oder wie Gernentz sagt: „In der vietnamesichen Küche ist ständig Weihnachten.“
Das Rezept: Linseneintopf mit Malzessig und Zimt (4 Portionen)
Zutaten
- 500 Gramm Tellerlinsen (oder alternativ Berglinsen), gewaschen; sie müssen nicht vorgekocht oder eingeweicht werden
- 1,5 Liter Gemüsebrühe (z.B. aus gekörnter Brühe)
- 2 Karotten
- 2 große festkochende Kartoffeln, geschält und gewürfelt
- 1 Zwiebel
- ½ Fenchelknolle
- ½ Bund glatte Petersilie, fein gehackt
- 1 Stange oder 1 gehäufter Teelöffel gemahlener Zimt
- 2 Lorbeerblätter
- 2 Esslössel Rapsöl, Sonnenblumenöl oder anderes neutrales Pflanzenöl
- 1 Esslössel Dijon-Senf
- 2 bis 3 Esslössel Malzessig (oder Weißweinessig), je nach Geschmack und Säure des Essigs (wenn du Essigessenz benutzt, Menge halbieren)
Salz, Pfeffer - Auf Wunsch: 4 Knackwürste (oder nach Belieben andere Würstchen)
Utensilien
- Großer Topf
- Schmales, hohes Behältnis (z.B. Messbecher) und Stabmixer oder
- Standmixer
Zubereitung
- Öl bei mittlerer Hitze in dem großen Topf heiß werden lassen.
- Karotten, Zwiebel und Fenchel so fein wie möglich würfeln und zum Öl geben. Bei niedriger bis mittlerer Hitze leicht bräunen, etwa 10 bis 15 Minuten. Dabei etwas salzen und pfeffern.
- Wenn du gekörnte Brühe benutzt, parallel die Brühe zubereiten.
- Brühe, Linsen, Zimt, Kartoffeln und Lorbeerblätter hinzugeben und zum Kochen bringen. Dann auf niedriger Hitze mit Deckel weiter köcheln lassen, bis die Linsen weich, aber nicht zerkocht sind (ca. 20 Minuten).
- Lorbeerblätter und Zimtstange (wenn du sie verwendest) entfernen.
- Ungefähr ein Drittel der Linsen abschöpfen, in einem Mixer zu einem sämigen Brei mixen und dem Eintopf wieder hinzufügen.
- Wenn du sie verwendest, Knacker in Scheiben schneiden und im Eintopf erhitzen.
- Zum Schluss Eintopf mit Senf, Essig, Salz und Pfeffer würzen, gehackte Petersilie unterrühren und bei Bedarf am Tisch noch mit weiterem Essig nachhelfen (oder dort mit Essigsorten experimentieren).
Mitarbeit: Jamil Yassine, Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Lisa McMinn, Audiversion: Iris Hochberger