Einmal baute sich ein breitschultriger, älterer Mann vor Lisa Feldman Barrett auf. Er ballte seine Faust und sagte, er könne ihr gerne einmal demonstrieren, wie Wut aussieht. Der Mann war Wissenschaftler, Barrett auch. Von Menschen dieser Berufsgruppe erwartet man eher, dass sie mit Worten statt mit Schlägen argumentieren. Was hatte den Mann so aufgebracht?
Ganz einfach: Barretts Forschung und die Schlüsse, die sie aus den Forschungen anderer zog, stellt vieles auf den Kopf, was Menschen, auch Expert:innen, seit Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden über Emotionen denken.
Auch meine Welt hat sie ins Wanken gebracht. Seit anderthalb Jahrzehnten schreibe ich darüber, wie Gefühle uns beeinflussen und welche interessanten psychologischen Mechanismen wir kennen sollten. Immer war ich der Meinung, unsere Psyche zu verstehen, sei genauso wichtig, wie sich über Politik und Wirtschaft zu informieren. Das denke ich auch heute noch. Aber das Buch „How Emotions Are Made“ der Psychologin und Neurowissenschaftlerin Barrett, das im Juni diesen Jahres auf Deutsch erscheinen wird, hat extrem geändert, welchen Sinn ich in Emotionen sehe. Und mein Verständnis dafür, wie viel Verantwortung ich für meine Gefühle trage: die Genervtheit etwa, wenn die Kolleg:innen leere Milchtüten in den Kühlschrank stellen. Meine Wut, wenn Politiker:innen in Talkshows offensichtlich Unsinn reden. Oder mein Entsetzen, wenn jemand einen Kilo-Block Cheddarkäse in einen Truthahn schiebt.
Je mehr ich mich mit Barretts Arbeit beschäftigt habe, desto klarer wurde mir, wie wichtig ihre Erkenntnisse sind. Nicht nur für mich, wenn ich, wie ich hier beschrieben habe, tiefschwarz für die Zukunft sehe, obwohl ich eigentlich nur unterzuckert bin. Barretts Forschung ist radikal. In einer emotionalisierten Zeit stellt sie infrage, was Emotionen überhaupt bedeuten.
Wie so häufig hat mich übrigens jemand aus der KR-Community auf Feldman Barrets Arbeit hingewiesen. Ich hatte auf Twitter ganz naiv gefragt, warum Gefühle manchmal so anstrengend sind und welche Forschung es dazu gibt. Naive Fragen sind manchmal die besten. Ein Leser schickte mir den Link zu „How Emotions Are Made“.
Wir haben mehr Kontrolle über Gefühle, als wir denken
Es gibt einen Ted-Talk von Barrett, in dem sie erklärt, wie Emotionen entstehen. Bevor sie richtig ins Thema einsteigt, hält sie kurz inne und sagt ihrem Publikum. „Schnallen Sie sich an.“ Es soll vermutlich locker klingen, aber es klingt fast unsicher, wie der letzte Satz, den man zu einer Astronautin vor dem Start sagt: „Schnall dich an. Gleich reißt dich dieses Ding weg, von allem was du kennst und dir vertraut ist.“
Wir leben so selbstverständlich mit dem Wechselspiel unserer Emotionen wie mit dem Wetter draußen vor dem Fenster. Und wie das Wetter erleben wir Gefühle weitgehend passiv: Sie kommen und gehen, je nachdem, was wir erleben. Als Putins Soldaten 2022 in die Ukraine einmarschiert sind, hatten viele von uns Angst. Wenn wir Eltern sind und unsere Tochter betrachten, spüren wir Liebe. Wenn ein Kollege einen peinlichen Fehler in unserer Arbeit hervorhebt, schämen wir uns. Wir leben unser Leben und je nachdem, was das Leben uns zuwirft, reagieren wir mit den entsprechenden Gefühlen.
So zumindest stellt es sich in unserem Erleben dar. Und wenn wir darüber nachdenken, wie Emotionen im Gehirn entstehen, sieht die gängige Sicht ungefähr so aus wie in dem Pixar-Hit „Alles steht Kopf“ von 2015: Im Film werden im Kopf des Mädchens Riley Handlungen und Entscheidungen von fünf personifizierten Emotionen gesteuert: Freude, Wut, Ekel, Angst und Kummer, die abwechselnd aktiv werden – je nachdem, ob Riley Brokkoli essen soll oder Hockey spielen darf. Und jede dieser personifizierten Emotionen kämpft um die Vorherrschaft in der Schaltzentrale von Rileys Gehirn.
Die Vorstellung erscheint nur logisch, jede Emotion habe ein festes Muster, das sich je nach Situation an- oder abschaltet. Einen Wut-Schaltkreis im Gehirn etwa, der im Streit mit der Nachbarin aufleuchtet oder Angst-Neuronen, die dafür sorgen, dass unser Herz rast.
Diese Sicht, sagt Barrett, geht bis auf den antiken griechischen Philosophen Platon zurück. Sie hat die Psychologie als Wissenschaft entscheidend geprägt und ist bis heute weit verbreitet. Nicht nur unter Laien oder Menschen, die Drehbücher für Kinderfilme schreiben. Auch viele Expert:innen glauben daran. Wissenschaftler:innen und Technologieunternehmen wie Google und Facebook haben in den vergangenen Jahren viel Zeit und Geld in den Versuch investiert, eindeutige Fingerabdrücke von Emotionen in den Gehirnen und Körpern von Menschen zu finden.
Diese Suche, sagt Barrett, verschwendet Zeit – und Geld. Sie passt nicht mehr zu dem, was wir über das Gehirn wissen. Barrett gilt als Spitzenforscherin in ihrem Feld, sie ist eine der meistzitierten Wissenschaftler:innen der Welt. Sie hat mit Kolleg:innen in ihrem Labor hunderte physiologische Studien mit Tausenden von Probanden analysiert, Hunderte von Gehirnen gescannt und jede bildgebende Gehirnstudie über Emotionen analysiert, die in den vergangenen 20 Jahren veröffentlicht wurde.
Das Gehirn ist ein armes Kerlchen
Eine Meta-Analyse von Barretts Labor umfasste fast 100 Studien mit fast 1.300 Probanden. Insgesamt stellten die Forscher:innen fest, dass keine Hirnregion die Heimat einer einzigen Emotion ist. Es gibt auch kein einzelnes Gehirnnetzwerk oder Gehirnmuster, das einer einzelnen Emotion zugeordnet ist. Andere Methoden zur Untersuchung des Gehirns kommen zu ähnlichen Ergebnissen.
Stattdessen stellten Barrett und ihr Team fest: Es gibt Gruppen von Neuronen für Handlungen wie Lachen, Flucht oder Angriff. Es gibt sie für bestimmte körperliche Empfindungen. Aber „kein Gehirn dieser Welt hat emotionale Schaltkreise“, sagt Barrett.
Mehr noch: Emotionen, erklärt sie, haben keine eindeutigen Gestalten. Sie sind höchst individuell und haben fließende Grenzen. Sie entstehen in uns nicht als Reaktion auf die Welt. Emotionen sind Prognosen. Und wir haben mehr Kontrolle über sie, als wir denken.
In gewisser Weise ist das Gehirn ein armes Kerlchen. Es sitzt in der dunklen Höhle des Schädels und bekommt ständig Informationen von Ohren, Augen, Nase, Mund und Haut geliefert. Aus diesen Daten strickt es sich ein Bild der Welt. Das Problem dabei: Die Daten sind nicht eindeutig. Das Gehirn muss sie interpretieren. Sind diese nassen Tropfen auf der Haut Regen, oder hat jemand auf meine Hand geniest? Zieht mein Mann eine Grimasse, weil er traurig ist oder hat er sich überfressen?
Für das Gehirn wäre es energetisch und zeitlich irre aufwändig, bei diesen Interpretationen immer bei Null anzufangen. Deshalb gleicht es aktuelle Erfahrungen mit Erinnerungen aus der Vergangenheit ab. Es kann aber nicht in jedem Moment Tausende dieser Erinnerungen abgleichen. Deswegen stützt es sich auf Konzepte. Wenn ich auf dem Weg zur Arbeit einen Löwen in der U-Bahn sehe, erkenne ich ihn sofort, weil ich das Konzept„ Löwe“ abgespeichert habe.
Ein Löwe ist kein Sofa – muss man wissen
Die Idee ist nicht neu, dass wir Konzepte nutzen, um den Eindrücken aus der Welt Sinn zu geben. Aber Barrett geht einen radikalen Schritt weiter: Sie sagt, dass wir diese Konzepte auch auf die subjektive Welt unserer Gefühle anwenden. Angst ist demnach ein emotionales Konzept, das wir auf bestimmte Muster von Erfahrungen und Körperempfinden anwenden.
Sagen wir, ich sehe den Löwen in der U-Bahn. Ich habe gelernt, dass „Angst“ etwas ist, das passieren kann, wenn bestimmte körperliche Gefühle mit einer Gefahrensituation zusammenfallen. Anhand von Erfahrungen, meinem Wissen über Löwen und Gefühlen, welche ich in früheren Situationen mit wilden Tieren hatte, sagt mein Gehirn blitzschnell voraus, wie ich jetzt reagieren sollte. Es setzt körperliche Prozesse in Gang: Ich erstarre, mein Herz rast, meine Hände werden klamm. Die Empfindungen in meinem Körper etikettiert es mit dem Konzept „Angst“.
Nun kann es mir als Laie eigentlich egal sein, ob meine Angst eine reine Reaktion auf das Ereignis ist oder Teil einer komplexen Simulation des Gehirns, mit der es vorhersagt, wie man auf Löwen in der U-Bahn reagiert. Hauptsache, ich gehe dem Tier aus dem Weg.
Es ist aber sehr wichtig zu verstehen, dass wir mit unseren Gefühlen nicht nur auf die Welt reagieren, sondern dass sie Teil einer Simulation der Wirklichkeit sind. Denn dies bedeutet: Was wir emotional erleben, beruht auf unseren inneren Vorhersagen. Und das wiederum heißt: Die Prognosen könnten auch ganz anders sein – also auch falsch.
In Tahiti gibt es kein Wort für Traurigkeit
Wenn die Prognose nicht zur Wirklichkeit passt, ändert das Gehirn sie. Oder es bleibt dabei und filtert die eingehenden Daten entsprechend seiner Vorhersage. Für den unwahrscheinlichen Fall des Löwen in der U-Bahn hat das keine weitreichenden Konsequenzen (außer, wir halten ihn für ein Sofa). Aber was, wenn ein Polizist die Hand an der Waffe hat und entscheiden muss, ob er schießt?
Mehr noch: Unsere Vorhersagen werden von emotionalen Konzepten beeinflusst, die wir gelernt haben und die stark kulturell geprägt sind. In der tahitianischen Kultur etwa gibt es das westliche Konzept von Traurigkeit nicht. „Stattdessen gibt es ein Wort, das man am ehesten mit ‚die Art von Müdigkeit, die man verspürt, wenn man die Grippe hat‘ übersetzen könnte“, schreibt Barrett. „Es ist nicht das Äquivalent von Traurigkeit, sondern das, was sie [die Menschen in Tahiti] in Situationen empfinden, in denen wir uns traurig fühlen würden.“
Kulturübergreifende Forschungsarbeiten des vergangenen Jahrzehnts haben gezeigt, dass viele Emotionen, die wir im Westen als „universell“ betrachten, in anderen Kulturen gar nicht existieren. Und selbst in unserer eigenen Kultur sind Gefühle nicht eindeutig. Sagen wir, du ärgerst dich über einen Twitter-User, der mal wieder einen dummen Tweet abgesetzt hat. Bist du verärgert, beunruhigt, genervt, wütend oder einfach nur stinksauer? Wut kann sich je nach Situation anders anfühlen und äußern. Gleichzeitig konnten andere Untersuchungen zeigen, dass es bei Emotionen sehr einfach ist, Proband:innen von Studien zu beeinflussen: Fragt man eine Person, wie deprimiert sie sich fühlt, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie diese Gefühle tatsächlich erlebt.
Wir sind schlecht darin zu sehen, was andere fühlen
Auch wenn wir die Emotionen anderer Menschen beurteilen, trifft das Gehirn von uns unbemerkt seine Vorhersagen. Es greift auf Erfahrungen aus ähnlichen Erinnerungen zurück, um die Bedeutung eines gekräuselten Mundwinkels oder einer hochgezogenen Augenbraue zu erkennen. In ihrem Buch zeigt Barrett als Beispiel dieses Foto einer Frau, die schlimme Schmerzen hat:
Die meisten im Westen aufgewachsenen Menschen können den Schmerz im Gesicht der Frau ohne Schwierigkeiten erkennen. Dabei gibt es nur einen kleinen Haken: Die Frau auf dem Bild ist total glücklich. Es zeigt die Tennisspielerin Serena Williams in einem Moment ekstatischer Freude, nachdem sie ihre Schwester Venus 2008 bei den U.S. Open geschlagen hat.
Zahlreiche Forschungsarbeiten haben gezeigt: Welche Emotionen wir den Gesichtern von Menschen zuschreiben, hängt stark vom Kontext ab, in dem wir sie wahrnehmen, und von Konzepten, die wir gelernt haben. Das spielt unter anderem eine Rolle für unser Rechtssystem, wenn die Schwere eines Urteils davon abhängt, ob ein:e Täter:in Reue zeigt.
Barrett nennt als Beispiel den Fall des Tschetschenen Dschochar Zarnajew, einem der Attentäter, die 2013 beim Boston Marathon mehrere Bomben zündeten, die hunderte Menschen verletzten und drei töteten. Eine Jury hat Zarnajew anschließend zum Tode verurteilt. Ein Grund für das Urteil: Die Geschworenen meinten an Zarnajews steinernem Blick im Gerichtssaal zu sehen, dass er seine Tat nicht bereute. Nur hat dieser Blick in der tschetschenischen Kultur einen anderen Sinn. Wer ihn aufsetzt, gesteht eine Niederlage ein.
Viele Menschen unterscheiden nicht klar zwischen Angst und Depressionen
Barrett musste auf die harte Tour erfahren, dass Emotionen viel komplexer sind, als die meisten Menschen meinen. Sie lernte es durch Fehlschläge. Ursprünglich wollte sie Psychotherapeutin werden. Im Studium erlernte sie die klassische Sicht auf Emotionen: Gefühle wie Angst, Wut, Glück, Traurigkeit, Überraschung und Ekel existieren demnach von Geburt an fest verdrahtet als Schaltkreise in unserem Gehirn, Ereignisse in der Welt aktivieren sie. Jedes Gefühl ist zudem mit eindeutigen körperlichen Merkmalen verbunden, die kulturübergreifend bei allen Menschen auf der Welt gleich sind und wiedererkannt werden, ob in einem Ramen-Restaurant in Berlin-Kreuzberg oder beim Stamm der Himba in Namibia: Überraschung etwa geht mit einem beschleunigten Herzschlag einher, Angst mit weit aufgerissenen Augen, wer traurig ist, verzieht den Mund.
Ernste Zweifel an dieser Sicht kamen Barrett während ihres Studiums in den 1980er Jahren. Sie erforschte Minderwertigkeitskomplexe und wie diese zu Angsterkrankungen und Depressionen führen können. Als ersten Schritt ließ sie von Proband:innen Standardfragebögen ausfüllen, um abzufragen, ob diese unter Angst oder Depressionen litten. Dabei stieß sei auf ein Problem. Während die Literatur eine klare klinische Unterscheidung zwischen den Symptomen von Angst und Depressionen zog, wollten ihre Daten diese eindeutige Trennlinie partout nicht zeigen.
Barrett dachte, sie hätte ihr Experiment vermasselt. Sie zweifelte an ihren Fähigkeiten als Wissenschaftlerin. Sieben Mal wiederholte sie den Versuch. Die Ergebnisse blieben gleich. Schließlich erkannte Barrett ein Muster. Nur war es nicht das, das sie erwartet hatte. „Mein erstes ‚verpfuschtes‘ Experiment enthüllte eine echte Entdeckung – Menschen unterscheiden oft nicht zwischen Angst und Depression. Die sieben Experimente danach waren nicht gescheitert, sondern hatten das erste Experiment repliziert.“ Gefühle, erkannte Barrett und ihre späteren Forschungen bestätigen es, folgen keinen allgemeingültigen Mustern. Was ich unter Angst, Freude, Traurigkeit, Ehrfurcht oder Ekel verstehe und wie es sich in meinem Körper anfühlt, kann mein Nachbar ganz anders erleben.
Emotionen sind nicht Wahrheit
Für viele mag Barretts Forschung beängstigend sein. Denn sie zeigt: Gefühle sind unzuverlässig. Sie sind ein Vorschlag des Gehirns, um unseren Erfahrungen Sinn zu geben. So konstruieren wir unsere emotionale Wirklichkeit. Ich bin demnach nicht sauer, weil meine Freundin zu spät zu unserer Verabredung kommt. Ich erlebe ein Gefühl von Wut, weil mein Gehirn anhand meiner Erfahrungen und anhand erlernter Konstrukte über Höflichkeit und Pünktlichkeit die Voraussage trifft, dass eine Wut-Reaktion in dieser Situation sinnvoll ist. Oder nehmen wir die Liebe: Wenn jemand einen romantischen Moment für einen anderen plant, orientiert er sich vielleicht an einer Schablone, die jede:r kennt: rote Rosen, Sonnenuntergang, Strand. Unser Gehirn weiß aus dem popkulturellen Rahmen heraus: Das ist ein Symbol für Liebe. Und wenn wir dann auf einem mit Rosenblättern bestreuten Sand sitzen, erleben wir tatsächlich ein Gefühl von Romantik, vielleicht sogar Verliebtheit.
Fühlst du dich an diesem Punkt provoziert? Dann geht es dir ein bisschen wie dem eingangs erwähnten wütenden Wissenschaftler, der Barrett mit der Faust drohte. Gefühle so zu zerlegen, geht gegen den Strich. Es ist überhaupt nicht eingängig, weil wir den Prozess, in dem das Gehirn die Wirklichkeit konstruiert, nicht bewusst erleben. Dies passiert rasend schnell und unsichtbar, sodass es uns tatsächlich vorkommt, als würden wir mit unseren Gefühlen bloß auf Ereignisse reagieren.
Gleichzeitig steckt in Barretts Erkenntnissen aber auch eine ziemlich hoffnungsvolle Botschaft. Wenn wir Emotionen nicht nur passiv erleben, können wir mehr Verantwortung für sie übernehmen. Barrett glaubt, wenn wir verstehen, wie das Gehirn Gefühle konstruiert, können wir zu „Architekt:innen unserer Erfahrung werden.“ Damit ist nicht positives Denken gemeint. Sondern ein Verständnis dafür, dass wir Gefühle nicht passiv empfangen und ihnen also auch nicht wehrlos ausgeliefert sind. Zwar kann man, schreibt Barrett, nicht mit den Fingern schnippen, um seine Gefühle zu ändern; zu wissen, dass unser Gehirn Emotionen konstruiert, wird nicht verhindern, dass sie uns wieder und wieder überwältigen. Wir können uns aber fragen: Sehen wir in einem emotionalen Moment die Wirklichkeit, wie sie ist? Oder konstruiert unser Gehirn Emotionen, die überhaupt nicht zu dem passen, was los ist? Und wie oft geben wir körperlichen Empfindungen wie Müdigkeit oder Erschöpfung eine unnötig emotionale Bedeutung?
Gift fürs Körperbudget
Einer der konstruktivsten Teile von Barretts Buch ist ein Kapitel mit dem Titel „Master Your Emotions“ („Emotionen meistern“). Viele Ratgeber und Coaches konzentrieren sich auf das Denken: Wenn wir unser Denken ändern, ändern sich demnach unsere Gefühle. Laut Barrett ist es aber viel lohnender, auf den Körper zu achten. Wie es uns körperlich geht, beeinflusst unsere Emotionen stark. Letztlich, erklärt Barrett, ist das Gehirn nicht zum Denken da. Sein wichtigster Job ist es, Herzfrequenz, Atmung, Blutdruck, Temperatur, Hormone, Stoffwechsel und dergleichen in einer Weise vorherzusagen und zu regulieren, wie es den tatsächlichen Bedürfnissen des Körpers entspricht. Barrett nennt dies das „Körperbudget“, der wissenschaftliche Begriff ist „Allostase“. Wenn Vorhersage und Bedürfnisse nicht zusammenpassen, so Barrett, „fühlen wir uns scheiße. Die Frage ist dann nur, welche Sorte scheiße.“
Leider, so Barrett, ist das moderne Leben perfekt darauf ausgerichtet, das Körperbudet aus dem Gleichgewicht zu bringen. Das Problem ist bekannt: Schulen und Jobs sorgen dafür, dass wir früh aufstehen und zu wenig schlafen, Supermärkte bieten massenweise Lebensmittel an, die mit Zucker und Fetten überladen sind, wir hängen ständig an mobilen Geräten, und Werbung und soziale Medien suggerieren uns, dass wir nicht gut genug aussehen oder cool genug konsumieren, um Freunde zu haben (soziale Ablehnung, sagt Barrett, ist Gift für das Körperbudget).
Die gute Nachricht ist: Wir wissen alle, was wir tun können, um das Körperbudget ins Gleichgewicht zu bringen: ausreichend schlafen, eine gesunde Ernährung mit nicht zu viel Zucker, Fett und Koffein, auch Sport ist wichtig. Ebenso eine nicht zu laute Umgebung und Zeit, die wir im Grünen verbringen. Aber auch Berührungen anderer Menschen helfen (zum Beispiel Massagen). Yoga trägt zu innerer Ruhe bei und erhöht die Menge an Zytokinen, das sind entzündungshemmende Proteine im Körper, und reduziert damit das Risiko bestimmter Krankheiten. Haustiere können regulierend auf das Körperbudget wirken, ebenso wie regelmäßige Mittagessen mit Freund:innen.
Gefühle haben nicht immer einen tieferen Sinn
Seit ich Barretts Buch gelesen habe, stelle ich meine Gefühle viel mehr infrage, fast täglich passiert das in meiner Beziehung. Erst heute war ich kurz davor, mich mit meinem Mann zu streiten – und hielt dann inne. Wie wahr war dieser Ärger, den ich spürte, wirklich? Wie sehr konnte ich mich darauf verlassen, dass dies das angemessene Gefühl für diese Situation war? Wie wenig hatte ich letzte Nacht geschlafen, wie viel Kaffee danach getrunken, und wie müde war ich davon, stundenlang an einem Bildschirm zu sitzen und einen komplizierten Text über konstruierte Emotionen zu schreiben? War ich also wirklich verärgert oder einfach erschöpft?
Ich gebe zu, es ist ziemlich verwirrend, sich selbst so infrage zu stellen. Ich bin mir auch nicht sicher, wie gerne ich meine positiven Gefühle derart zerlegen möchte. Die Freude etwa, die ich spüre, wenn meine Schwester mit dem Zug anreist, das warme Gefühl von Zuhause, wenn meine Mutter mich umarmt. Aber, das ist wichtig, die Gefühle an sich sind nicht weniger echt, wenn man den Sinn infrage stellt, den man ihnen automatisch gibt. Sie sind so real wie das Wetter draußen vor dem Fenster. Aber so wie Sonne oder Regen keine emotionale Bedeutung haben, sind vielleicht Freude oder Traurigkeit Gefühle, die keinen tieferen Inhalt haben müssen, als Leichtigkeit oder Schwere im Herzen. Ich habe den Verdacht, diese Sicht könnte enorm befreiend sein.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert