Eins vorweg: Die erste Staffel dieses Newsletters mit dem Thema Arbeit nähert sich ihrem Ende, danach werde ich über ein anderes Thema schreiben. Oder auch nicht – das hängt von dir ab. Nächste Woche kannst du mitentscheiden, worum es in diesem Newsletter in Zukunft gehen soll. In der heutigen Ausgabe geht es aber erst noch um eines meiner Lieblingsthemen, das meine Arbeit beeinflusst hat wie kaum etwas anderes: den Sinnkult.
Lebe nicht dein Leben, träume deinen Traum
„Sinnkult“ ist ein Begriff, den ich zum ersten Mal bei dem Computerwissenschaftler Cal Newport gelesen habe, der bereits diverse Bestseller über Arbeit, Digital Detox und Konzentration geschrieben hat (ich habe hier über eines seiner Bücher geschrieben). Newport nennt es den „Cult of Passion“, also eigentlich der „Leidenschaftskult“, aber „Sinnkult“ klingt besser und bedeutet in diesem Fall das Gleiche.
Gemeint ist nämlich die heute überaus verbreitete Idee, dass jeder Mensch eine angeborene Leidenschaft hat. Der Schlüssel zum Glücklichsein besteht demnach darin, dass wir diese Leidenschaft finden und dann mit unserem Job in Einklang bringen. Erst dann fühlt sich Arbeit sinnvoll und richtig an.
Konfuzius kann nichts für diesen Quatsch
Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich finde, das ist eine furchtbare Idee, von der man sich besser heute als morgen freimacht. Ich habe Jahre meines Lebens damit verbracht zu glauben, dass Frust und Langeweile im Job ein Zeichen dafür sind, dass ich einfach immer noch nicht das „Richtige“ tue.
Vielleicht ist dir auch schon dieser Spruch begegnet:
Wählen Sie einen Beruf, den Sie lieben, und Sie müssen keinen einzigen Tag in Ihrem Leben arbeiten.
Das Internet schreibt dieses Zitat dem chinesischen Philosophen Konfuzius zu. Das stimmt aber wahrscheinlich nicht, wie Garson O‘Toole meint, der auf der Website Quote Investigator untersucht, welche Zitatgeber:innen wirklich hinter berühmten Sprüchen stecken. Wer den angeblichen Konfuzius-Satz erstmals gesagt hat, ist demnach unklar.
Ich wäre auch sehr enttäuscht von Konfuzius gewesen, wenn er derart plattes Zeug von sich gegeben hätte. Denn dieser Rat funktioniert ja nur für Menschen, die eine ganz klare Vorstellung davon haben, wofür sie brennen und das beruflich verwirklichen können. Für alle anderen erzeugt es enormen Druck und Unzufriedenheit.
Mehr noch: Diese Haltung bringt Menschen dazu, sich mit schlechten Arbeitsbedingungen zufriedenzugeben, weil sie glauben, ihren Lohn im „Sinn“ ihrer Arbeit finden zu müssen oder in der Leidenschaft, die sie dafür haben. Unzählige Coaches verdienen derweil viel Geld damit, Menschen den Weg zu dieser ultimativen Leidenschaft zeigen zu wollen.
Reiche Menschen können auf Sinn eher verzichten
Ich will dem Bedürfnis nach Sinn gegenüber nicht zynisch sein, auch ich mache meinen Job nicht nur, um Geld zu verdienen (wer reich werden will, wird selten Journalist:in). Und tatsächlich hat eine ganze Reihe psychologischer Studien gezeigt, dass Menschen, die ihr Dasein als sinnvoll erleben, glücklicher und gesünder sind.
Aber warum verknüpfen wir diesen Sinn heute so extrem mit Erwerbsarbeit? Nicht jeder Mensch kann einen Job machen, der sich sinnvoll anfühlt (auch wenn mein Kollege Martin Gommel einen Vorschlag dazu hat).
Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass der „Sinnkult“ als Rechtfertigung dafür dienen kann, Menschen auszubeuten. Die Soziologin Erin A. Czech schreibt:
Arbeitgeber bevorzugen nicht nur Leidenschaft unter den Arbeitnehmern, sondern nutzen sie oft auch aus. In einem Umfrageexperiment habe ich herausgefunden, dass leidenschaftliche Bewerber zum Teil deshalb geschätzt werden, weil von ihnen erwartet wird, dass sie mehr Arbeit für das Unternehmen leisten, ohne dass ihre Vergütung steigt.
Passenderweise haben kanadische Forscher:innen herausgefunden, dass das Sinnversprechen für reiche Menschen weniger wichtig ist. Wer reich ist, kann eher auf Sinn verzichten.
Hier also ein einfaches Prinzip, das Newport als Ersatz für den Sinnkult vorschlägt. Ob Menschen mit ihrer Arbeit glücklich sind oder nicht, meint er, hat wenig damit zu tun, was sie tun. Und viel damit, wie. Letztlich geht es um die Hingabe an die Tätigkeit, für die man sich entschieden hat – egal, was es ist. Er sagt:
Leidenschaft ist nicht etwas, dem man folgt. Sie ist etwas, das Ihnen folgen wird, während Sie sich bemühen, einen wertvollen Beitrag in der Welt zu leisten.
Schlussredaktion: Lisa McMinn, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger