Es soll ja Leute geben, die ihre Jugend vermissen. Aber lieber verbringe ich ein Jahr unter einem Stein im Wald, als noch einmal Teenager zu sein. Ja, von außen sehen sie entzückend aus, die Sechzehnjährigen, wie sie sich aufplustern und unsicher flirten, bauchfreie Tops tragen und sich selbst finden. Aber ich habe höchsten Respekt vor der brutalen Wildheit der Gefühle, die man in diesem Alter erdulden muss. Und wie furchtbar wichtig man sie nimmt. Ich könnte das nicht mehr.
Gefühle sind mächtig. Ich finde: manchmal zu sehr. Ich bin längst kein Teenager mehr, aber ich staune auch heute noch darüber, wie Emotionen mich durchrütteln können. Ich habe tausend Methoden gelernt, damit umzugehen; ich kann meditieren, reflektieren, mich psychoanalysieren und zu Musik herumstampfen. Ich kann Kekse essen und Tee trinken, um mich zu beruhigen. Trotzdem überwältigen sie mich negativ, immer wieder.
Manchmal lese ich bis nachts um drei, weil ich nicht schlafen kann vor Angst. Einfach, weil das Leben so zerbrechlich ist und ich es nachts stärker spüre. Oder ich streite mit meinem Mann und fühle mich danach krank, als hätte ich eine Grippe überstanden. Ich bin erschöpft, mein Herz tut weh. Dabei ist nichts passiert, es sind nur Worte hin- und hergeflogen! Wie kann das körperlich so anstrengend sein?
Eine Mittagspause, die eskaliert
An sich haben Gefühle ein exzellentes Image. Menschen wird gerne vorgeworfen, sie seien zu verkopft, aber hat schon einmal jemand gesagt: „Du fühlst zu viel“? Vielleicht, aber steckt selbst in diesem Vorwurf nicht ein bisschen Bewunderung? Wer zu viel denkt, so das Klischee, geht allen auf die Nerven, inklusive sich selbst. Wer zu viel fühlt, schreibt Gedichte.
Wir leben in einer merkwürdigen Zeit. Die einen klagen darüber, dass uns die Sachlichkeit verloren gegangen ist, dass öffentliche Debatten, Politiker:innen und soziale Medien derart überladen sind mit Emotion, dass wir kaum noch über echte Inhalte reden können. Andere finden, dass es endlich an der Zeit ist, unseren Gefühlen Raum zu geben, statt immer nur weiter zu funktionieren und immer noch mehr zu leisten.
Ich kann diesen Konflikt nicht lösen. Ich kann nur sagen: Gefühle sind wichtig, klar. Auch ich fühle grundsätzlich gern. Alles, was schön ist, wird mit einer Portion Gefühl noch besser: Musik, Sex, ein gutes Essen. Wer kühl in einen Sonnenuntergang starrt, langweilt sich nur.
Klar ist auch: Große gefühlige Höhen kann es nur geben, wenn wir auch Tiefs erleben. Es ist ein Paketdeal. Die Alternative wäre ein Leben ohne Ausschläge nach oben oder unten, ein Herz, das schlägt, aber nichts fühlt. Das will kein Mensch.
Das Problem liegt in der Bedeutung, die wir unseren Gefühlen geben.
Neulich etwa stand ich neben meinem Mann an seinem Schreibtisch und textete ihn nervös mit Beschwerden über unseren Haushalt zu. Ich hatte viele: Staub wehte durch die Wohnung. Auf der Suche nach Essbarem hatte ich in der hintersten Ecke des Kühlschranks ein verschimmeltes Nest aus Frühlingszwiebeln gefunden. Und warum lag seit elf Jahren sein altes Handy auf dem Schuhschrank in der Diele?
Mein Mann hörte meine Klagen, starrte gefasst auf seinen Bildschirm und sagte: „Ich will gerade arbeiten. Geh bitte weg.“ In seinem Tonfall lag eine genervte Ruhe.
Ich mache es kurz: Ich ging nicht weg. Aus seiner Genervtheit wurde Ärger. Wir brüllten uns an. Ich setzte mich dramatisch auf den Boden. Ein Teil meines Gehirns sah mir dabei zu und sagte: „Was, um Himmels willen, machst du da?“ Die Stimme war wie ein Flüstern auf einem Death-Metal-Konzert. Sie hatte keine Chance. Die Diskussion eskalierte.
Der Punkt ist: Das hätte nicht sein müssen. Es ging, ehrlich gesagt, um nichts. Der Staub und die Frühlingszwiebeln waren mir eigentlich egal. Meine Laune steckte in einem Nachmittagstief, ich suchte ein Ventil und mein Mann war zur falschen Zeit am falschen Ort (da wir zusammenwohnen, hatte er leider keine Wahl).
Wir sind unseren Gefühlen nicht ausgeliefert
Im Nachhinein weiß ich das. Im Moment des Tiefs war ich natürlich vollkommen davon überzeugt, dass ich für eine gerechte Sache kämpfte. Mein Mann hatte nicht gestaubsaugt, daher war ich sauer. Ich glaubte an eine Sicht auf meine Gefühle, die in unserer Kultur selbstverständlich ist: Gefühle wie Glück, Traurigkeit, Wut und Angst fühlen wir, wenn wir einen Reiz wahrnehmen (zum Beispiel Staubnester in den Ecken). Kurz gesagt passiert laut dieser klassischen Sicht dann Folgendes:
Der Reiz löst einen Schaltkreis im Gehirn aus, und der wiederum eine körperliche Reaktion, die uns zu einem bestimmten Verhalten veranlasst. Emotionen sind eine Reaktion auf etwas, das im Außen passiert. Sie sind eine Art unkontrollierter, animalischer Teil von uns, den die Vernunft versucht, in Schach zu halten. Leider oft vergeblich. Das sind dann die Momente, glauben wir, in denen Menschen nicht voll für ihre Handlungen verantwortlich sein können, weil ihre Emotionen sie beherrscht haben. Wir knallen Posts in soziale Medien, die wir später bereuen. Wir motzen die Kollegin voll. Wir legen am Telefon mit der Mutter einfach auf. Vielleicht stürmen wir sogar einen Regierungssitz, wütend darüber, dass ein Wahlergebnis angeblich gefälscht wurde.
Diese klassische Sicht auf Emotionen, schreibt die Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett in ihrem Buch „How Emotions are Made“ („Wie Emotionen entstehen“), wird seit Jahrtausenden in verschiedenen Formen kontinuierlich immer wieder wiederholt, von Aristoteles, Buddha, Darwin, Descartes und Freud bis hin zu modernen Denkern wie Steven Pinker, Paul Ekman und dem Dalai Lama. Tatsächlich aber, so Barrett, gibt es zahlreiche wissenschaftliche Belege dafür, dass diese Auffassung über die menschliche Natur unmöglich wahr sein kann. Zum Beispiel gibt es keine festen, angeborenen Gefühlsschaltkreise im Gehirn, die getriggert werden. Wir sind unseren Gefühlen auch nicht hilflos ausgeliefert, sondern verfügen über viel mehr Möglichkeiten, sie zu kontrollieren, als wir meinen.
Bist du verliebt – oder hast du die Grippe?
Barrett ist nicht nur irgendwer auf ihrem Gebiet. Wegen ihrer Forschungsarbeiten über Emotionen gehört sie aktuell zu den meistzitierten Wissenschaftler:innen der Welt, für ihre Forschung hat sie mehrere renommierte Preise bekommen. Sie vertritt die These, dass Emotionen nicht biologisch in unserem Gehirn verankert sind, sondern konstruiert werden. Mit anderen Worten: Wir empfinden Emotionen nicht einfach nur – wir erschaffen sie aktiv.
Laut Barrett entstehen Emotionen, vereinfacht gesagt, weil unser Gehirn Empfindungen in unserem Körper anhand vorgefasster Konzepte interpretiert. Was diese Empfindungen bedeuten, ist aber nicht objektiv wahr oder immer gleich. Ein Grummeln im Magen etwa empfinden wir als Hunger, wenn wir gerade am Esstisch sitzen. Wenn wir beim Arzt auf das Ergebnis einer Untersuchung warten, nehmen wir es als ein Zeichen von Nervosität wahr. Als Richter:in hingegen würde uns das Grummeln im Magen vielleicht dazu bringen, ungnädiger zu agieren und härtere Urteile zu fällen (diesen Zusammenhang gibt es wirklich, man nennt ihn Zusammenhang „Hungry-Judge-Effect“).
Es gibt dazu eine lustige Anekdote aus Barretts Studienzeit. Ein Kommilitone aus ihrem Psychologiekurs hatte sie um ein Date gebeten. Obwohl sie ihn nicht besonders attraktiv fand, sagte Barrett zu, weil sie fand, dass sie mal wieder aus dem Labor rausmusste. „Als wir dann zusammen in einem Café saßen, spürte ich zu meiner Überraschung, wie ich während des Gesprächs mehrmals rot wurde. Mein Magen flatterte und ich hatte Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren“, schreibt sie in ihrem Buch.
Okay, dachte Barrett, sie hatte sich geirrt. Offensichtlich fühlte sie sich doch zu dem jungen Mann hingezogen. Sie verabredeten sich für ein weiteres Date. Als Barrett anschließend nach Hause kam, musste sie sich übergeben. Die nächsten sieben Tage verbrachte sie mit einer Grippe im Bett. Wie sich herausstellte, war es doch nicht der junge Mann gewesen, der sie hatte rot werden lassen. Sondern ein Virus.
Vielleicht hilft Marmeladentoast mehr als viele Diskussionen
Was genau passiert, wenn das Gehirn Emotionen herstellt, und wie unsere Interpretationen zustande kommen, ist ziemlich komplex. Aber selbst wenn man keine Lust hat, sich mit den Details zu beschäftigen, ist einfach zu sehen, dass Gefühle keine objektiven Tatsachen sind. Und es sich lohnen kann, sie öfter als körperliche Phänomene zu betrachten, statt sie bedeutsam zu interpretieren.
Diese Idee hat Barrett nicht erfunden, sie ist quasi Lektion eins in jedem Meditationskurs und Bestandteil viele anderer Theorien und Behandlungsmethoden, wie etwa der des Neurowissenschaftlers Judson Brewer, mit dem ich vor einem Jahr gesprochen habe, und der damit Angst– und Suchtpatient:innen behandelt. Die lernen damit, ihre Gefühle als körperliche Reaktionen zu beobachten: Angst zum Beispiel als ein Gefühl der Enge oder ein Brennen.
Jede:r, der schon einmal „hangry“ war, also in gereizter Stimmung, weil sie oder er schon zu lange nichts mehr gegessen hat, weiß, wie trügerisch schlechte Laune sein kann, wie leicht sie sich manchmal durch ein einfaches Mittagessen wie von selbst erledigt. Und ist der Unterschied zwischen Traurigkeit und Erschöpfung wirklich eindeutig?
Ich erlebe jeden Tag, wie wenig ich mich auf die Wahrheit meiner Gefühle verlassen kann: Morgens bin ich meistens energiegeladen und finde die Welt interessant und vielversprechend. Gegen drei Uhr nachmittags kommuniziere ich nur noch knurrend und sehe schwarz für meine Zukunft und die der Menschheit. Wenn ich dann ein Nickerchen mache oder ein bis zwölf Stück Schokolade esse, habe ich wieder Hoffnung. Sollte ich allerdings stattdessen verschimmelte Frühlingszwiebeln im Gemüsefach entdecken – nun ja. Mein Mann weiß, zu welchen Uhrzeiten er mir besser aus dem Weg geht.
Bei einem Baby verstehen wir sofort, dass es hungrig oder müde ist oder vielleicht eine warme Decke braucht, wenn es schreit. Als Erwachsene halten wir uns für viel komplexer. Aber vielleicht würde es auch uns erstaunlich viel helfen, einfach öfter in den Arm genommen zu werden, wenn wir wütend oder traurig sind? Womöglich hilft ein Stück Marmeladentoast manchmal mehr als eine komplizierte Diskussion?
Ich will damit keinesfalls sagen, dass ein schneller Snack tiefergehende psychische Probleme heilen kann. Oder dass ich total glücklich in einem Haus aus Schimmel und Staub wohnen würde, wenn ich immer ausgeschlafen und satt wäre. Das wäre billig und flach. Ich glaube aber, es lohnt sich sehr, darüber nachzudenken, dass Gefühle öfter als wir meinen, viel weniger bedeutsam sind, als es scheint.
Als Teenager hätte mich dieser Vorschlag empört. Als Erwachsene bin ich demütig genug, um zu sagen: So furchtbar wichtig sind meine Gefühle oft nicht.
In der 2. Folge ihrer Serie “Gefühle verstehen” schreibt Theresa darüber, wieso es manchmal besser sein kann, zu schweigen statt immer alles auszudiskutieren. Hier kannst du den Text lesen.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger