Als Student saß ich einmal in einem Filmseminar, zu dessen Beginn der Professor eine Warnung aussprach: Wir würden in seiner Veranstaltung Dinge über Filme lernen, die uns den unschuldigen Gang ins Kino verderben könnten. Wir würden, einmal durch sein Seminar gegangen, dramaturgische Schwächen, ästhetisch Fragwürdiges und handwerkliche Fehler sehen. Aber natürlich würden wir auch die Genialität der gelungenen, großen Form besser würdigen können. Mit der Erkenntnis wächst also einerseits der Frust, aber andererseits auch der Genuss.
Mein Dozent sagte damals, wer auf diesen Deal nicht eingehen wolle, könne (quasi aus Selbstschutz) den Hörsaal verlassen. Ich muss nicht dazu sagen, dass diese Anmoderation das Interesse aller Beteiligten nur noch weiter angeheizt hat und wir alle sitzen geblieben sind.
Derart zweischneidige Erkenntnisse gibt es nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Küche. Zum Beispiel diese: In Deutschland ist Salziges zu süß und Süßes nicht salzig genug. Ja, genau. Herzhafte Gerichte haben oft einen übertriebenen Einschlag ins Süße, woran vermutlich Industrieprodukte eine Mitschuld tragen, in denen oft Zucker die ungebetene Hauptrolle spielt. Manchmal sieht man es in der Zutatenliste nicht auf den ersten Blick, weil der Zucker als Glukose, Fruktose, Laktose oder Dextrose in Erscheinung tritt. Das gesünder klingende Süßungsmittel Agavendicksaft ist sogar weniger gesund als normaler Industriezucker, unter anderem weil er die Fetteinlagerung im Körper begünstigt. Zucker ist also nicht nur im Ketchup, sondern fast überall drin.
Wenn man sich erstmal dran gewöhnt hat, dass die Dinge eine süße Grundierung haben, vermisst man sie bei Produkten, in denen sie fehlt. Das ist Mist, denn so wird eine einzige Geschmacksdimension besonders betont – auf Kosten der anderen und auf Kosten der Gesundheit.
Marcella Hazans berühmte Tomatensauce kommt ganz ohne Zucker aus und bringt dadurch (und mit Butter) den Geschmack der Tomaten erst so richtig zur Geltung. Ich würdige diese fabelhafte Sauce ausgiebig in der Gemüse-Episode dieser Kolumne. Kurz gesagt: Zucker verflacht Geschmacksprofile, Fett betont sie. Aber für viele Menschen ist das Normalnull der Geschmackswahrnehmung durch frühkindliche Prägung schon in Richtung Süße verschoben und das korrigiert sich später nur noch schlecht. Ausnahmsweise kann man für dieses Problem klar Schuldige benennen: Lebensmittelkonzerne wie Kellogg’s und Coca-Cola sind in der Zuckerverabreichungsbranche. Ihr Ziel ist es, den Zucker in die Kinder zu kriegen, koste es, was es wolle. Und es kostet nicht viel, denn Zucker überwindet die Blut-Hirn-Schranke sehr schnell, das heißt seine Wirkung ist schnell spürbar: Der Mensch ist biologisch einfach scharf auf Süßes.
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Wovon ich aber gar nichts halte, ist Zuckerverteufelung. Einige meiner besten Freunde essen Zucker! Zucker ist kein Gift oder allenfalls in der sehr schwachen Definition, nach der alles im Übermaß giftig ist. Besonders unerfreulich sind die esoterisch begründeten Ausweichmanöver in Richtung Agavendicksaft, „Ursüße” (auch nur ein vollwertig klingendes Wort für eine Art Rohrohrzucker) und anderem Kokolores für Kundschaft, die so gerne glauben will, dass diese Produkte auf mystische Weise besser sind als „Industriezucker”, was sie aber nicht sind. Sie sind vor allem teurer. Und sie müssen unökologisch aus fernen Ländern importiert werden, weil sie aus Zuckerrohr sind, während die Zuckerrübe tadellos mitten in Europa wächst. Überhaupt, was für eine freche Begriffsprägung „Industriezucker“ ist! Ähnlich dem durch die Ausdenkmedizin Homöopathie geprägten, abschätzig gemeinten Begriff der „Schulmedizin”, der einer wissenschaftlich fundierten, lebensrettenden Disziplin einen Hautgout vormoderner Grobschlächtigkeit verpassen will. Aber ich schweife ab. Manche Produkte müssen süß sein und Süßen mit ganz normalem Zucker ist keine Schande, sondern völlig okay! Es muss aber beileibe nicht überall Zucker rein, denn das verdirbt den Geschmack (und die Gesundheit). Also: Love the Industriezucker, hate the Zuckerindustrie!
Ein hervorragendes Beispiel für ein Produkt, das schamlos süß und salzig sein darf und muss, ist ein Gebäck aus der Bretagne, das wohl am ehesten als karamellisiertes Croissant aus Brotteig beschrieben wird. Es wird „Queen Amann” ausgesprochen, hat aber keinen königlichen Bezug und geschrieben wird es der Kouign-amann, und dieses bretonische Wort bedeutet schlicht: Butterkuchen. Das ist eine geradezu lächerliche Untertreibung, denn der Kouign-amann ist viel mehr als das: Er ist gleichzeitig luxuriöser und derber als das Croissant, innen genauso zart, aber von außen krachend knusprig durch die Karamellisierung. Er ist deutlich süßer und salziger (!) und nicht selten hört man, Kouign-amann sei das beste Gebäck der Welt. Ich weiß nicht, woran ich das beste Gebäck der Welt erkennen würde, denn das Beste an Gebäck ist doch, dass es so viele verschiedene davon gibt!
Wie dem auch sei: Wir haben es mit einem französischen Rezept zu tun und das bedeutet oft, irdische Zutaten auf eine himmlische Reise zu schicken, und zwar mit Technik. Du brauchst aber keine besonderen Gerätschaften, nur Zeit und Disziplin, sonst wird es nichts. Kouign-amann zuzubereiten ist deshalb auch eine wunderbare Feiertagsbeschäftigung. Man braucht fast einen ganzen Tag für die Herstellung, aber es gelingt auch zu Hause. Ich spreche aus Erfahrung und möchte euch das Nachbacken empfehlen. Also eigentlich das Nachfalten, denn das ist die eigentliche Arbeit. Wie bei vielen Kochtechniken schenkt uns die französische Küche auch hier einen schönen Begriff: Das Rezept verlangt nach touriertem Brotteig.
Es gilt auch hier die Regel, dass Kochen Kunst, Backen aber Wissenschaft ist, deshalb nun etwas Mathe: Beim Tourieren rollst du einen Grundteig aus, gibst eine Schicht Fett (zum Beispiel Butter) darauf und faltest den Teig dann wie ein A4-Papier zusammen, das du in einen Standard-Querumschlag stecken möchtest: erst klappst du das untere Drittel und dann das obere Drittel auf das mittlere. Dann liegt vor dir ein Teig, der aus neun Schichten (3²) besteht, immer im Wechsel Teig und Butter. Diesen Teig rollst du dann wieder aus (du „ziehst“ ihn, wie die Fachkraft sagt), aber um 90 Grad gedreht. Dann wird der Teig wieder wie oben beschrieben gefettet und gefaltet. Aus neun Schichten werden so auf einen Schlag 27 (3³). Teig wieder um 90 Grad drehen, ausrollen und noch einmal falten. Dann landest du bei 81 Schichten (3⁴). Wiederhole alles noch drei Mal und du verstehst, warum Blätterteig auf französisch mille-feuille heißt („Tausendblatt”).
Die Hefe und das endlose Gefalte dienen einem physikalischen Ziel: maximale Auflockerung des Teigs. Beim Backen wird nämlich die Feuchtigkeit im Teig verdunsten und damit den Teig aufblähen. Der Wasserdampf kann die Fettschichten aber nicht überwinden, so dass er in den Teigschichten verbleiben muss, bis der Kuchen fertig gebacken ist. Soweit die Theorie. In der Praxis gilt das schöne französische Sprichwort „wer will, tut es, wer kann, schafft es”, das in einem Kouign-amann-Rezept spöttisch zitiert wird.
Denn das Einarbeiten von Fett in den Teig ist ein zeitkritisches Unterfangen. Ist man zu langsam, schmilzt die Butter und bildet keine gute Barriere mehr. Ist man zu schnell, wird man hektisch und anfälliger für Missgeschicke. Erst reisst der Teig, dann der Geduldsfaden. Eine verbreitete Technik besteht darin, Butter in einer Plastiktüte mit einem Nudelholz zu einer dünnen Lage auszurollen. Das funktioniert für Ungeübte eigentlich nie auf Anhieb. Man kann Tourierbutter (oder wie es auf deutsch so poetisch heißt: Ziehfett) auch fertig kaufen, aber das ist eigentlich nur etwas für Profis.
Mein Freund und Kollege Johannes hat sich deshalb durch mehrere Kouign-amann-Rezepte gekämpft und drei Wochen in Folge immer aufs Neue versucht, den bretonischen Butterkuchen in der Küche eines Normalsterblichen in die Welt zu zwingen. Und schließlich gelang es – und zwar dank des Kochs John Mitzewich, der ihn auf die Idee brachte, einen Block Butter ins Tiefkühlfach zu legen und ihn dann mit einem Reibeisen direkt auf den Teig zu raspeln. Mit dieser Technik gelang auch mir der Kouign-amann auf Anhieb. Man ist immer noch einen halben Tag beschäftigt, weil man den Teig nach fast jeder Faltung wieder in den Kühlschrank geben muss, aber ich versichere euch: Das Ergebnis ist die Mühe wert – und weil Mitzewichs Variante nicht einen großen Kuchen, sondern viele kleine in Muffin-Größe hervorbringt, kann man diese Mini-Kouigns auch wunderbar einpacken und Familie und Freund:innen mitbringen. Ich habe noch niemanden getroffen, der von ihnen nicht begeistert war.
John Mitzewichs Kouign-amann-Rezept
Utensilien:
- Muffinblech
Zutaten:
Für den Teig:
- 300 Gramm Mehl Type 405, plus etwas mehr nach Bedarf
- 2 Teelöffel Trockenhefe (das ist mehr als in dem Originalrezept, weil in Deutschland erhältliche Trockenhefe nicht so viel Bums hat wie die in den USA verfügbare)
- 1 Esslöffel Zucker
- 1 Teelöffel feines Salz
- 1 Esslöffel geschmolzene ungesalzene Butter
- 1 Tasse warmes Wasser
Für die Zucker-Salz-Mischung (hier ggf. nach Geschmack anpassen):
- 130 Gramm Zucker
- 2 Teelöffel Meersalz oder anderes feines Salz (weniger, wenn du feines Speisesalz verwendest)
Für den Rest:
- 225 Gramm tiefgekühlte, ungesalzene Butter als Ziehfett
- 1 Esslöffel geschmolzene Butter für das Muffinblech
Zubereitung:
Weil das Rezept so viele Handgriffe enthält, die man sehen muss, verzichte ich diesmal auf ein aufgeschriebenes Rezept und verweise euch vertrauensvoll an Chef John Mitzewich und sein YouTube-Rezeptvideo. Über eine Million Aufrufe können nicht irren.
https://www.youtube.com/watch?v=RK7AAI6Zicw
Frohes Falten!
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Thembi Wolf, Bildredaktion: Philipp Sipos, Mitarbeit: Johannes Heim; Audioversion: Iris Hochberger