In meinem Newsletter schreibe ich jede Woche über die wichtigsten Dinge, die ich gelernt habe. In der ersten Staffel des Newsletters geht’s ums Arbeiten: um Stress und das Ende des Burnouts, den Sinnkult, den Produktivitätskult und um die Frage, warum To-do-Listen oft so schlecht funktionieren. Beruhend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, meiner Erfahrung und mithilfe von Expert:innen. In der letzten Folge ging es darum, warum es nicht mal deinem Chef etwas bringt, wenn du trotz Krankheit arbeitest.
An meinem 40. Geburtstag gab es in meinem Umfeld zwei Reaktionen, die mir besonders im Gedächtnis geblieben sind. Auch, weil sie total gegensätzlich ausfielen.
Eine Person sagte: „Mit 40 ist die Karriere im Allgemeinen ziemlich vorbei. Da passiert nichts Großes mehr.“
Die andere: „Herzlichen Glückwunsch! Jetzt dauert es noch zehn Jahre, bis alles richtig gut wird.“
Abgesehen davon, dass ich dringend dazu raten würde, eher die zweite Aussage auf eine Geburtstagskarte zu schreiben, gibt es dazu einen, wie ich finde, interessanten Hintergrund: Person 1 lebt in Deutschland. Person 2 in den USA.
Für dich ist es ja gerade noch mal gut gegangen…?
Das ist deshalb relevant, weil die Deutschen tendenziell ein sehr negatives Bild vom Älterwerden haben. Natürlich wollen auch die Menschen in Amerika jung und schön bleiben. Aber was Beruf und Karriere betrifft, sehen sie die Dinge ein bisschen anders. Das zeigt schon die Sprache. Wie gemein ist eigentlich die deutsche Bezeichnung „Spätzünder“? Der Arbeitspsychologe Hannes Zacher sagte dazu neulich in einem Interview in der ZEIT:
„Im Deutschen schwingt in dem Begriff mit, dass es gerade nochmal gut gegangen ist, die Person aber auch hätte scheitern können. Im Englischen spricht man dagegen von late bloomers, also von Spätblühern. Das hört sich viel positiver an.“
Und: „In den USA ist das Vertrauen in die Selbstwirksamkeit tief verwurzelt: Wer an sich glaubt und hart arbeitet, wird es schaffen. Gleichzeitig ist die Überzeugung verbreiteter, dass man im reiferen Alter noch Spitzenleistungen vollbringen kann. In Deutschland haben wir ein negativeres Bild vom Alter und sind grundsätzlich weniger bereit, Risiken einzugehen. Sicherheit ist vielen die höchste Maxime.“
Zwei Formen von Intelligenz – eine wird mit dem Älterwerden stärker
Klar, als Profisportler wird es irgendwann schwierig mit den Spitzenleistungen, aber in manchen Berufen werden Menschen erst nach Jahrzehnten richtig gut. Oder starten noch einmal ganz neue Karrieren. Die US-Demokratin Nancy Pelosi etwa zog erst fünf Kinder groß und stieg dann voll in die Politik ein. Mit 67 Jahren übernahm sie als erste Frau der Geschichte der USA die Führung des Repräsentantenhauses. Der Musiker Rodriguez wurde erst mit 70 weltberühmt, dank der Dokumentation „Searching For Sugar Man“. Der Maler Vincent Van Gogh hat viele seiner berühmtesten Bilder in den letzten zwei Jahren seines Lebens gemalt. Und die Modedesignerin Vera Wang war 40, als sie ihren Job bei Ralph Lauren kündigte und ihr eigenes Modestudio eröffnete.
Um zu verstehen, warum das so ist, hilft das Konzept von „fluider“ beziehungsweise „kristalliner“ Intelligenz. Fluide Intelligenz ist stärker, wenn wir jünger sind: Innovatives Denken, das neue Probleme löst, Muster erkennt, sich schnell umorientieren kann. Deswegen weiß ich jetzt schon, dass auch mir irgendwann meine Neffen und Nichten helfen werden müssen, wenn ich hilflos auf meinem iPhone der 100. Generation herumtatsche.
„Kristalline“ Intelligenz wird (im Idealfall) mit dem Älterwerden stärker. Das ist die Fähigkeit einer Person, erlerntes Wissen und Erfahrungen zu nutzen. Sie ist unter anderem wichtig für Sprachen und technisches Verständnis. Historiker:innen, Psychotherapeut:innen oder (mit gewissen Einschränkungen) Lehrer:innen werden mit dem Älterwerden oft erst richtig gut: Je mehr Erfahrung sie haben, desto besser sind sie in ihrem Feld.
Das Konzept dieser beiden Intelligenzen ist nicht neu. Es geht auf den Psychologen Raymond B. Cattell zurück, der es 1963 eingeführt hat. Aber es ist gut, sich daran zu erinnern – weil es den Stress rausnimmt, alles jetzt erreichen zu müssen.
In diesem Sinne freue ich mich jetzt schon auf meinen 50. Geburtstag.
Schlussredaktion: Rebecca Kelber, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert